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Der Engel im Spiegel – Kurzgeschichte (1. Teil)

Die Illustration unten  zeigt einen Ausschnitt aus der “Madonna del parto” von Piero della Francesca, einem Fresko aus dem Jahre 1492, das in der kleinen toskanischen Ortschaft Monterchi zu besichtigen ist, wo dem Gemälde ein eigenes Museum gewidmet wurde. Ich habe Sehnsucht nach Wärme, Urlaub und Italien. Daher habe ich heute den Anfang meiner Erzählung „Der Engel im Spiegel“ wieder nach oben geholt. Ich weiß, dass der Text meiner Leserschaft einiges abverlangt und man Geduld und Aufmerksamkeit mitbringen muss. Das ist im von Schlagworten, Fakes und Hasskommentaren geprägten Internet, wo manchem schon ein “Tweet” zu lang ist, unüblich. Darauf wollen sich leider nur wenige einlassen.

Trotzdem ist dies die Geschichte, die ich persönlich für meine beste halte; sie ist trotz einiger Mängel mein Liebling … auch wenn ich mich mit ihr für den bad sex in fiction award bewerben könnte. 

Madonna

Der Engel im Spiegel

Wenn die Hoheiten reisten, fanden sie, durch Zufall und Scharfsinn, stets Dinge, die sie nicht gesucht hatten. So entdeckte einer von ihnen, dass auf der gleichen Straße, auf der sie reisten, vor kurzem ein Maultier vorbeigekommen war, das auf dem rechten Auge blind war, denn nur auf der linken Seite war das Gras abgefressen, und dort war es viel schlechter als auf der rechten Seite.“

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klärungsversuch eins: gleichnis.

wie ich befürchtet hatte zerbricht der untere rand des orangeneises direkt über dem holz in große hälften nur mit einer schnellen durchaus gedankenlosen will sagen reflexhaften bewegung der zunge gelingt es mir geschickt das kinn nach vorn gereckt die beiden teile in die mundhöhle zu schaufeln während die eine hand eine schaufel vor dem hals formt und die andere mit dem saftklebenden stiel auf die stuhllehne sinkt sofort schmerzt die kälte scharf an den plomben und ich blase beide wangen auf die zunge die vielbeschäftigte! weindunkle! hält das eis in bewegung alles ist ein faksimilie der zahllosen kindtage gleichzeitig eine bewusst gekostete reminiszenz an verlorenes wie oft zerbrach mir früher das schleckeis habe ich den masochistischen genuss wiederholt war es damals ein grund für mich zurückzutreten:

Sommer, die buchstäblich kein Ende nahmen.

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… wieder: „Ich habe satt!“, und legte beide Handflächen vor sich auf den Tisch. Er drehte sie langsam nach oben, musterte mich über seine randlose Lesebrille mit weinschwerem Blick.

Da muss es doch noch etwas anderes geben“, fuhr er fort, „einen dritten Weg!“ Ich sah, seine Hände wollten zwei Waagschalen bedeuten, in denen er das Gewicht seines Schicksals schätzte. Die Geste hatte Religion, war eine Beschwörung. Er verharrte wie im Gebet, auf die Antwort der höheren Macht hoffend, die sein Blick nun in dem orangeroten Reflex suchte, den die untergehende Sonne durch den Dechanter auf den Tisch warf; schnell hatte er es aufgegeben, nach ihr in meinen Augen zu forschen. Er redete mit sich selbst. Dass er dabei ein Gegenüber hatte, war nur ein durchaus glücklicher Zufall.

Schwalben flogen Angriffe im tiefstehenden Sonnenlicht. Ich hörte ihr Pfeifen.

Herkules am Scheideweg. Ja. Immer bleibt mir die Wahl zwischen zwei Übeln. Ich habe satt, mich immer für das vermeintlich kleinere entscheiden zu müssen.“

Erneute Beschwörung, die offenen Handflächen nun etwas höher über dem kleinen Bistrotisch. Ich war abgelenkt, ich gebe es zu. Hatte ich diesem Bekenntnis unter italienischem Abendhimmel nicht schon oft lauschen müssen? Mir schien es so. Dabei wusste ich nicht einmal den Namen des Mannes, der mit mir am Tisch saß, hatte ihn schneller vergessen, als er ausgesprochen war. Manchmal schien mir, ich könne Worte des älteren Mannes mitsprechen, aber sie hatten einen ungewohnt harten Klang, waren viel zu verbissen für das weiche, nachgiebige Licht, in das der Platz getaucht war. Und doch hatte ich schon tausendmal gehört, was er mir zu sagen hatte. Es war ein Archetyp, ein paradigmatischer Moment. Worte, denen ich nicht entkam.

… lähmend: „Das nennen sie Demokratie, wenn ich zwischen Gaunern und Narren wählen muss. Politik heißt, faule Kompromisse zu schließen. Gott scheint es nicht anders gemacht zu haben, als er sich diese ‘beste aller Welten’ wie eine ekle Fleischfaser zwischen den Zähnen heraus pulte. Der Demiurg hat ein paar Erdvarianten hingeschlampt und uns auf der am wenigsten misslungenen angesiedelt. Zu mehr war er, Opfer der Umstände, nicht in der Lage. Und wenn ich mich darüber beschweren will: An welchen der vielen Götter soll ich mich denn wenden? Die Frage lautet nicht, wer der Beste von ihnen ist, sondern welcher am wenigsten Ungeheuer.“ Einige Schweißperlen glänzten nun auf der Stirn des Gnostikers.

… warmgeredet: Ich atmete verhalten in mein großes, nach modrigem Holz und Kirschen riechendes Weinglas, das meine beredte Miene hinreichend verdeckte. Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob seine Entscheidung, statt Tafelwein Brunello zum Essen zu bestellen, auch ein fauler Kompromiss war. So schlecht konnte es um die ‘beste aller Welten’ nicht bestellt sein, wenn man hier solch ein Getränk kelterte. Auf seine Weise hatte der Mann jedoch recht. Mein fauler Kompromiss war aus der Wahl entstanden, in Ruhe den Abend bei öliger Pizza und mafiasaurem Chianti, aber in der besten aller Gesellschaften, nämlich meiner eigenen, zu verbringen oder für den Montalciner Traum, crostini al fegatini di pollo, fettuccine con i tarfufi bianchi, hauchzarte piccioni con aglio und einen 12 Monate alten pecorino aus Pienza sein banales Geschwätz zu ertragen. Aber vielleicht war ja noch mehr aus dem Abend zu holen.

… käuflich: Nun, ich hatte ja meine Möglichkeiten und er schien nun doch zu bemerken, wie weit er gegangen war und sich in philosophischen Höhen verstiegen hatte, in denen ihm schnell die Luft knapp wurde.

Und in meinem Leben?“, suchte er seinen Weg zurück ins Tal. „Immer musste ich mich zwischen Übeln entscheiden. Jedes Mal gab es etwas, das die Wahl vergiftete. Beruf, Familie, egal: Du wirst es bereuen.“ Das war nun etwas, das mich interessierte.

Sie würden also nichts rückgängig machen und die andere Entscheidung ausprobieren wollen?“ Obwohl er mich schon lange duzte, hielt ich höflichen Abstand. Er legte den Kopf schief. Erneut traf mich ein forschender Blick über die Brille hinweg. Ich hatte schon lange nicht mehr so offen mit dem Feuer gespielt.

Wie meinst du das?“, fragte er beteiligt, legte dann ein Bröckchen Käse auf seine Zungenspitze. Ihm war die Ablenkung ins Gesicht geschrieben, sie legte sich wie ein Schleier auf seine Augen. Ja, der alte Mann verstand etwas von den Genüssen. Davon würde ich sicherlich einiges auf meiner Rechnung finden.

Ich meine, es gibt in unserem Leben doch Momente, die eindeutig sind, in denen sich die Möglichkeiten auf zwei beschränken. Sie haben vorhin den Scheideweg erwähnt: Herkules muss nach rechts oder links …“, führte ich aus und zögerte kurz, „selbstverständlich kann er nicht zurück.“ Ich hatte einen schlechten Geschmack auf der weindunklen, rosenfingrigen Zunge, als wäre ich das Negativ meines Gegenübers. Kann man es Synästhesie nennen, wenn man Gedanken schmecken kann? Dieser zumindest lag faul und brennend wie ein alter Melonenschnitz auf meinen Geschmacksnerven. „Das Vergangene ist schließlich nicht wiederholbar. Ich kann nicht zweimal auf den gleichen Turm steigen.“ Ich erschrak. Warum sagte ich das? Welche Fehlleistung veranlasste mich, den alten Herodot abzuwandeln? War der Grund wirklich nur darin zu suchen, dass mich eben ein letzter Lichtstrahl blendete, ein Abschiedsgruß der hinter dem hohen Geschlechterturm verschwindenden hitzigen Sonne, der die Häuser der umbrischen Piazza noch ein letztes Mal in strahlendem Ziegelrot erglühen ließ.

Aber er hatte mich nicht verstanden. Für ihn war der Turm, den man nur einmal besteigen konnte, eine originelle Variante, die er gleich seinem Pecorino genoss. Ich spürte, wie er sich innerlich beglückwünschte, mit mir das Gespräch gesucht zu haben. Ich musste vorsichtiger sein, doch die späte Hitze drückte wie eine alte Last auf den Platz und machte mich so müde wie die Tauben dort drüben, die es längst aufgegeben hatten, in den Ritzen des Pflasters nach Nahrhaftem zu picken. Traumwandelnd tappten sie wie Trunkene umher.

Es gibt nur diese beiden Wahlmöglichkeiten. Ich würde gerne den Moment, in dem ich mich entscheiden muss, aufbewahren. Verstehen Sie, einen Spielstand archivieren wie in einem Computerspiel, den ich dann jederzeit neu landen kann, um anschließend das andere auszuprobieren. Sie hingegen erzählen mir, dass Sie genau das nicht wollen. Sie wollen sich nicht noch einmal entscheiden müssen.“

Ja. Denn jede Wahlmöglichkeit ist eine Zitrone. Egal, in welche ich beiße, sie ist sauer. Das ist meine Erfahrung.“

Ich sehe das etwas anders: Das Leben, sonst eine Vielfalt, spielt plötzlich „Mäxchen“ mit uns. Sie kennen das Spiel mit den zwei Würfeln, bei der die höhere Zahl den Zehner, die niedrigere den Einer angibt? Ist mein Wurf niedriger als der meines Gegners, verliere ich.“

Und dein Gegner wirft hohe Zahlen, ich weiß. Aber du kannst betrügen und so tun, als wäre dein Wurf der Höchste. Manchmal wird dir geglaubt“, warf er ein, „… und manchmal stirbst du.“

… hinkend: Nein, ich musste mich in Acht nehmen. Er war nicht zu unterschätzen. Ich lächelte daher, als hätte er mich verunsichert.

Genau. Betrügen kann ich immer. Das ist vielleicht eine dritte Option.“ Ich hätte ihm nun gerne von meinem Nachmittag in Monterchi erzählt, von Piero und den schwarzen Oliven, aber die Schatten auf der Piazza wurden länger. Wie ein mahnender Zeigefinger rückte die in die Länge gezogene Spitze des Turmes über die holprigen Pflastersteine und deutete hinter unserem Tisch auf die Fenster des Ristorantes, vor dem wir saßen. Sofort brachte ein Kellner eine Kerze und zog sich eilig mit der leeren Weinkaraffe zurück, die er bald gefüllt wiederbringen würde. Es wurde Zeit.

Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas”, sagte ich, als wäre mir ein Gedanke gekommen, „vielleicht ändern Sie dann ihre Meinung.“

 

„Sie verdanken ihre Genauigkeit und ihre Vollendung der mathematischen Kraft, der Fähigkeit des Zählens, Messen und Wägens, die mehr als alle andern auf Vernunft beruht.“

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klärungsversuch zwei: ausblick.

zuhause in der kälte sehe ich durch das fenster hinaus auf die leere straße ihr schnee ist rostig braun verfärbt er erinnert mich an geronnenes blut die nacht hat ihm das angetan gewalttätig nahm sie dem schnee die unschuld das milchige licht dieses morgens bringt es an den tag die nacht stahl mir leben ein abgeschmacktes wortbild kommt in meinen sinn die stunden der nacht sind mir wie sand zwischen den fingern verronnen der fokus meines blicks ändert sich nun sehe ich nicht mehr den vom pulver der knaller und raketen gefärbten neujahrsschnee sondern mich selbst ich erscheine gespensterhaft im spiegel der fensterscheibe mitleidig nicke ich mir zu denn wir hatten nur wenig zeit miteinander wieder und wieder versuchte ich mein glück jedesmal scheiterte ich dieser frühe morgen ist übrig der erste eines neuen jahres der letzte meines lebens:

Ich bin alt geworden in dieser Nacht.

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Der Blick der Engel ist ängstlich. Allerdings spricht aus ihm eine Furcht, die sich in jedem Moment in Zorn über das Geschaute verwandeln kann, in einen Hass auf Gott. Wie zwei Ampelmännchen starren sie über den Betrachter hinweg auf eine weißgetünchte Wand mit einer nüchternen Informationstafel, einst jedoch sahen sie durch die Tür einer Kapelle hinaus auf den Cimitero der kleinen Stadt auf dem Hügel, der Reiseführer gerne die Eigenschaft ‚pittoresk’ begeben. Die Blicke der Cherubim erinnern mich an die großen Angstaugen zweier anderer Engel im nebelgrauen Dresden, die angesichts der Sterblichkeit jedoch eher zur Trauer als zur Wut neigen und im Übermaß als gefälliger Postkartenkitsch verbreitet werden. Ein Paradebeispiel für das Missdeuten der Nachgeborenen sind sie, für das Abtöten jeglicher Emotion in einem millionenfachen Replikat.

Diesem siamesischen Engelspaar in Italien jedoch, vom kommunistischen Bürgermeister aus seiner ursprünglichen Umgebung gerissen und in ein ehemaliges Schulgebäude eingesperrt, bleibt wegen seiner Strenge und abweisenden Hoheit das Schicksal der etwa hundert Jahre jüngeren Geschwister erspart. Sie schützen die schwangere Madonna in ihrer Mitte auch nicht: Sie stellen sie bloß, bieten sie wie zwei Zuhälter dar, sind die Raumlinien, an denen der Betrachter vom Werden zum Vergehen geführt werden soll. Mir fallen die olivenschwarzen Blicke von zwei gefallenen, strickenden Engeln ein.

„Piero und Raffaelo“, sage ich leise, „das sind der Platon und der Aristoteles der Renaissancemalerei. Hat doch auch Platon davon gesprochen, wahre Schönheit liege allein in der Geometrie.“ Ich bin mir des Unsinns bewusst, den ich erzähle, aber er klingt gut. Und er wirkt, das allein zählt.

„Ich stelle mir vor, die zwei in die Zukunft schauen“, erwidert Chiara nach kurzem Nachdenken. Ihre Stimme hätte ruhig etwas dunkler, geheimnisvoller sein können, aber ihre singende Stimme streichelt mein noch aufgerichtetes Geschlecht ebenso sanft wie ihre langen, elfenbeinfarben lackierten Nägel. Eine träge Fliege klettert über Chiaras mattschwarz gefärbtes Haar, setzt dann ihren brummenden Irrflug fort. Die liedhaften Worte des Mädchens umschwirren mich mit derselben Hartnäckigkeit wie das Insekt, sie sind ebenso ziellos und nicht verjagbar.

„1492 ist gestorben, am 12. Oktober, an gleiches Tag, an dem Colombos Fuß auf den Bahamas Amerika berührte. Piero war ein blindes, ein verbittertes Mann, ich stelle mir vor …“, führt Chiara aus, flüstert es fast, als wäre das Todesjahr von Piero della Francesca ein Geheimnis, ein Zauber, der nicht für jedes Ohr geeignet ist. Vielleicht hat sie recht und wir gehen viel zu unvorsichtig mit dem um, was wir Wissen nennen, sammeln es in babylonischen Bibliotheken und in Wikipaedien und vergessen, dass Wissen mehr ist als Daten wie gebrauchte Briefmarken in Alben zu kleben. Daten ergeben keine Geschichte, sie stören nur bei der Beweisführung. Richtig ist, was ihr dient, selbst eine faustdicke Lüge.

„Du kennst die Jahr?“ Ich nicke, schmecke Schweiß auf der Oberlippe. Obwohl ihr Deutsch schlechter ist als mein Italienisch, beharrt sie darauf, ihre Erkenntnisse in dieser, ihrem Singen so fremden Sprache weiterzugeben; ähnlich den Leuten in den toskanischen Touristenzentren, die – gedrillt wie Pawlowsche Hunde  – nicht einmal mein gut gesprochenes Italienisch davon abhalten kann, mit wohlgemeintem Englisch zu antworten. Auf der anderen Seite klingt Chiaras geheime Beschwörung der magischen Jahreszahl in einer ihr fremden, ein wenig unheimlichen Sprache viel eindringlicher.

„Kopernikus veröffentlichte 1492 sein Buch über die Planetenbewegung“, sage ich und gehe betont lässig auf ihr Spiel ein, mische nun meine Erkenntnisse, Lügen und falschen Daten, bis sie sich zu dem verdichten, was ich als Wahrheit erkenne. „Er schiebt diese eine Erde aus dem Mittelpunkt, macht sie zu einem unbedeutenden Element des kosmischen Gefüges. Durch einen Übersetzungsfehler wird die Umdrehung zur Revolution.“ Chiara unterbricht ihr Streicheln, doch bevor ich sie zum Weitermachen auffordern kann, beugt sie sich zur Belohnung herab. Ihre weindunkle Zunge kitzelt, leckt wie ein Kätzchen in einem Schälchen mit Milch. Das Mädchen macht dabei sogar ein Geräusch, das an Schnurren erinnert. Dabei bewegt sie ihren Kopf nun schneller. Mein Blick gleitet über die Furche in Chiaras gebeugtem Rücken, über ihre im Halbdunkel des Raumes wie frischer Käse wirkenden Rundungen und er fällt auf die Madonna in prada, ihre reine, blütenweiße Hand. Der Eindruck verwirrt sich, mir scheint, als würden mich die dünnen Finger der Jungfrau befriedigen.

„1492 fertigt Andreas Vesalius einen Atlas des menschlichen Körpers an, beschreibt darin als erster Europäer nach Galen den Blutkreislauf. Vom Himmel geht der Blick zum inneren Kosmos.“ Bemerkt sie die Eleganz und das Ziel meiner Behauptungen? Zweifel scheinen ihr keine zu kommen. Im Gegenteil, Chiara hat sich nun festgesaugt, sie macht schmatzende Geräusche. Ich gebe ihr einen Finger und trage noch dicker auf:

„Und der Vater von Galileo Galilei, Vincenco, komponiert 1492 das erste polyphone Lied der Neuzeit. Er rückte den einen Ton aus dem Mittelpunkt, macht ihn zum Teil der Dreiklänge seiner Komposition.“

„Und Colombo“, keucht das Mädchen, „Colombo!“

„Er rückte 1492 Europa aus dem Mittelpunkt, macht das eine mare nostrum zu einem kleinen Gewässer unter vielen.“ Jetzt bricht meine Stimme, Martin Behaims ‚Erdapfel’ und DaVincis ‚Vitruvier’ bleiben unerwähnt. Während ich ejakuliere, schließt Chiara die Beweisführung ab:

„Die Engel, sage ich, sehen Neue Zeit.“ Sie fährt sich mit der besudelten Hand durchs Haar. „Sehen die Zukunft, … und sie fürchten!“

Das ist das Geheimnis, das sie entdeckt hat, während sie gelangweilt im Madonnenmuseum an der Kasse saß. Si, ingegnere, 3,10 € ingresso, 1,80 € ridotte, bambini unter 14 frei.

So hatte ich sie gefunden: Sie saß Kaugummi kauend in ihrem Cassa-Häuschen, ihrem gläsernen Schneewittchensarg. Sie starrte in einen Camilleri, ohne ihn zu lesen und benutzte das Buch als Mauer, wollte sich abschirmen von dem lästigen Besucher, der kurz vor der Mittagspause noch unbedingt Pieros restauriertes Fresco sehen wollte, dem allein dieses ganze zum provisorischen Museum umgebaute ehemalige Schulgebäude von Monterchi gewidmet war. Ich hatte den alten Maler gesucht, wollte ihn näher, intimer haben als in Arezzo, persönlicher noch als im nahen Sansepulcro. Hier in diesem Dorf, der im Altertum ein dem Herkules am Scheideweg geweihter Kultort war, war Piero perfekt: Hier hatte er den gestrigen Weg in zwei Hälften geschnitten.

[Zum 2. Teil …]

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