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Abenteuerurlaub – Eine SF-Kurzgeschichte

Abenteuerurlaub
Eine Science-Fiction-Kurzgeschichte

 

Unterlagen nur für den dienstlichen Gebrauch:

I. Auszug aus der Aussage von Chiefinspector Saul Harrow, New Scotland Yard, Sektion Kapitalverbrechen:

»Ich hob die schwarze Plastikplane mit zwei Fingern in die Höhe. Ein kurzer Blick genügte vollkommen. Ich wandte den Kopf voller Ekel beiseite. Obwohl ich auf nahezu dreißig Jahre Berufserfahrung blicken kann und mich der kreidebleiche Gerichtsmediziner Eddie “Carnage” Ffloyd gewarnt hatte, war ich auf den Anblick, der sich mir bot, nicht vorbereitet. Es stand fest, dass es sich bei dem zerfetzten Leichnam um die sterblichen Überreste des Industriemanagers Paul H. Cowley handelte. Das war gut so, denn nur anhand seiner kleinteiligen Überbleibsel wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, ihn zu identifizieren. Der Mörder hatte die Leiche nicht in einem Stück zurückgelassen und diese Puzzleteile sahen so aus, als wäre das Innere nach außen gestülpt worden.

Ich ließ die Plane eilig fallen und überließ die zusammengesammelten Reste den Sanitätern, die sie vorsichtig balancierend auf einer Trage wegschafften. Dann sah ich mich ein letztes Mal in dem Büro um. Das Zimmer sah entsetzlich aus: Die Wände, die Fenster, die Möbel, alles war mit Blut beschmiert, überall klebten noch kleinere Knochensplitter, Fleisch- und Gedärmeteile. Ich hatte Mitleid mit dem Personal von der Spurensuche, das sich auch mit sichtlichem Widerwillen an seine Arbeit machten. Wie hatte es der mutmaßliche Täter in einer so kurzen Zeitspanne fertiggebracht, Cowley auf solch eine bestialische Weise zu schlachten? Denn nach der zusammenhanglosen, immer wieder von haltlosen Schluchzernn unterbrochenen Aussage der völlig hysterischen Sekretärin des Ermordeten hatte der Mörder sich höchstens zwei Minuten bei seinem Opfer aufgehalten. Zudem war offenbar noch die Zeit geblieben, die Waffe verschwinden zu lassen; wohin, das war bislang ein Rätsel. Wenn es nicht unmöglich gewesen wäre, hätte ich vermutet, der Täter hätte Cowley gezwungen, eine Bombe zu schlucken, die ihn dann von innen heraus zerrissen hatte. Keine der Spuren wies jedoch auf Sprengstoff hin.

Ich verließ den Raum eilig. Im Vorzimmer rekapitulierte ich. Der absurde Fall stellte sich mir bislang folgendermaßen dar:

Gegen 02:00 Uhr PM betrat ein bislang noch nicht identifizierter und unauffällig gekleideter Mann Ende Vierzig das Vorzimmer, in dem ich gerade stand. Er verlangte von der Sekretärin ohne Angabe von Gründen den Aufsichtsratsvorsitzenden der EPIX-Waschmaschinenwerke, Dr. Paul H. Cowley, zu sprechen. Der Mann hatte keinen Termin. Wie er bis hierher vordringen konnte, war noch nicht geklärt. Der Pförtner schwor Eide auf die Bibel, er habe niemanden durchgelassen und wäre die ganze Zeit auf seinem Posten verblieben.

Jener Mann war auch niemandem in dem Großraumbüro aufgefallen, in dem sich zur Tatzeit annähernd fünfzig Personen aufhielten. Er hätte es durchqueren müssen, wenn er zu Cowley wollte. Die Person, die ihn als erste sah, war die Vorzimmerdame des Managers, die ihm ein weiteres Vordringen untersagen wollte. Der Mann zuckte als einzige Antwort mit den Schultern und betrat – ohne sich weiter um die Sekretärin zu kümmern – an ihrem Schreibtisch vorbei Cowleys Büro. Sie wollte ihm nacheilen, aber der Fremde hatte die Tür hinter sich verschlossen. Ihr war nicht bekannt, woher er einen Schlüssel zum Büro besaß. Beunruhigt versuchte sie zuerst, den Chef über die Gegensprechanlage zu erreichen. Als er auf ihren Anruf nicht reagierte, verständigte sie den Sicherheitsdienst der Firma. Bereits eine Minute später kamen drei Wachleute, die sich nach vergeblichem Klopfen gegen die Tür entschieden, diese aufzubrechen. Sie kamen zu spät: Inmitten der im Raum verstreuten Überreste von Paul Cowley stand lächelnd der Täter, der sich widerstandslos bis zum Eintreffen der Polizei festhalten ließ.

Das war alles und es war nicht viel; jedoch in einem entscheidenden Punkt mehr als bei inzwischen vier ähnlich gelagerten Fällen, die im Großraum London in den letzten Wochen geschehen waren und die Schlagzeilen der Nachrichtenblätter dominierten: Diesmal hatten wir den Täter!

Ich verzichtete auf eine weitere Befragung der Angestellten, von der ich mir weiter nichts erwartete, und entschied mich, zurück zum Yard zu fahren, um den Verdächtigen einem ausgiebigen Verhör zu unterziehen. Ich warf zuerst einen Blick zurück, um meinen Assistenten, Inspektor Jacob Waterstone, zu informieren, als ich auf dem Boden des Vorzimmers ein Stück Papier liegen sah. Warum es mein Interesse erregte, kann ich nicht sagen. Man kann es den Instinkt eines alten Spürhundes nennen. Es war ein Reiseprospekt. Ich konnte mit einem kurzen Blick feststellen, dass das Papier dem Täter gehörte, der es hier offensichtlich zufällig verloren hatte, als er sich an der Sekretärin vorbeidrängte. Meine Hände zitterten. Hier hielt ich den Schlüssel zu all den unaufgeklärten Mordfällen dieses Jahrhunderts in meinen Händen. Ich hatte es plötzlich sehr eilig. Ich musste unverzüglich zurück zum Yard. Aber ich kam zu spät. Der Täter war wenige Minuten vor meiner Ankunft aus einer streng bewachten Zelle im Untersuchungstrakt ausgebrochen. Einer der Wachhabenden sagte später aus, der Verdächtige habe sich buchstäblich in Luft aufgelöst.«

II. Vorgebliche Abschrift des spurlos verschwundenen Beweisstückes B4/2018/Cowley; niedergeschrieben von Chiefinspector S. Harrow.

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(Unsere Reiseunternehmung ist seit 2045 für Zeitfahrten lizensiert und befindet sich unter ständiger Aufsicht eines vereidigten Achseningenieurs des Touristikbüros der ZK (Zeitkontrolle). Die ZK weist darauf hin, dass SEGERTOURS-ZEITREISEN alle Auflagen beachtet. Ein Eingriff in oder eine Veränderung der Vergangenheit ist nach menschlichem Ermessen auszuschließen.)

[Es folgt eine Seite mit den Allgemeinen Reise- und Geschäftsbedingungen, Informationen über Versicherungsschutz und ein Anmeldeformular.]

III. Auszug aus der Aussage von Chiefinspector Saul Harrow, New Scotland Yard, Sektion Kapitalverbrechen:

»Nachdem dann auch noch der Prospekt aus meiner Tasche verschwunden war, stand ich mit leeren Händen da. Aber ich hatte mir Notizen gemacht. Ich zögerte deshalb nicht länger. Da ich die Mutter telefonisch nicht erreichte, wies ich Inspector Waterstone an, die Kindergärten und Schulen in der Nähe der Wohnung abzuklappern. Er hatte schon nach dem fünften Versuch den gewünschten Erfolg. Der Kindergarten lag in der Bethnal Green Road in einem schmucklosen, niedrigen Ziegelbau direkt gegenüber der Shoreditch High Street-Overgroundstation. Ich fuhr noch an diesem Vormittag hin. Den Haftbefehl hatte ich ohne Schwierigkeiten bekommen. Der Richter war müde und hatte zu meinem Glück nur einen oberflächlichen Blick auf die Personendaten geworfen.

Die Kindergärtnerin führte mich durch das Gebäude auf einen rückwärtigen Spielplatz. Sie deutete auf einen etwa vierjährigen Jungen, der in der Sandkiste ein Loch gegraben hatte und Spielzeugautos hineinfallen ließ. Sie rief ihn. Der Knirps gab sein Spiel auf und kam heran, stellte sich schüchtern von uns auf.

“Alexander Steven Seger?”, fragte ich. Das Kind starrte mich an und ich fühlte mich wie ein Idiot. Dennoch holte ich den Haftbefehl hervor. “Alexander Steven Seger, hiermit verhafte ich Sie wegen der Gründung einer verbrecherischen Organisation zum Zwecke der Förderung und der Anstiftung zu Morden in mehreren Fällen. Folgen Sie mir.”

Die Kindergärtnerin lachte. Das Kind fragte, ob es seine Spielzeugautos mitnehmen könne.«

IV. Anmerkung

Chiefinspector Harrow wurde auf Anraten der psychiatrischen Abteilung der Gerichtsmedizin zur weiteren Untersuchung in die Obhut der Newlay-Klinik verbracht; das Kind auf schnellstem Wege der Mutter zurückgegeben.

Der Fall Dr. Paul H. Cowley bleibt ungeklärt.

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