Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Nachdem er sich auf diese Weise selbst verarztet hatte, stärkte sich Straif an den kümmerlichen Überresten seines Reiseproviants, die er aus seiner Schultertasche holte. Danach lehnte er sich – das gezogene Schwert griffbereit auf die Oberschenkel gelegt – in einer Ecke gegen die Wand, wo er erschöpft die Augen schloss. Mochten sein Gastgeber oder die Ungeheuer, die oben am Ende der Treppe auf ihn lauerten, noch ein wenig auf ihn warten.
Straif konnte zwar nicht schlafen, aber er fiel in einen fiebrigen und unruhigen Dämmerzustand und fühlte sich tatsächlich ein wenig erholt, als er nach zwei Stunden wieder die Augen aufschlug. Es gab kaum eine Stelle an seinem Körper, die ihn nicht schmerzte und sein verspanntes Kreuz knackte vernehmlich, als er sich aufrichtete.
Zuerst untersuchte er die verschlossene Tür, doch er fand nicht einmal die Stelle, an der ihr Rand war. Die scheinbar makellos glatten Wand wirkte, als hätte es in ihr nie eine Öffnung gegeben. Also blieb Straif nichts anderes übrig, als seufzend sein Schwert in die unverletzte Linke zu nehmen und sich einen anderen Weg zu suchen. Er stieg Stufe für Stufe und sich immer wieder vorsichtig umsehend die Treppe empor. Sie beschrieb einen leichten Bogen und endete nach einigen Absätzen. Dort erweiterte sich der Gang zu einer Art leerem Vorraum, dessen rückwärtige Wand eine weitere Tür verschloss, die sich jedoch nicht sofort vor dem Krieger öffnete, als er sich ihr näherte. Auch hier oben war die fensterlose Anlage gut durch die unvermeidlichen Feuerschalen ausgeleuchtet.
Straif schätzte, dass er sich inzwischen ziemlich genau in der Mitte dieser alten Wallanlage befand und fragte sich, ob sie einmal den Süden vor dem Norden geschützt hatte oder umgekehrt den Norden vor dem Süden. Er sah sich die Tür genauer an. In das silbrige Metall ihrer Oberfläche waren unzählige Schriftzeichen und geometrische Formen eingeritzt, merkwürdig eckige Hieroglyphen, denen der durchaus belesene Kämpfer vorher noch nie in einem alten Buch begegnet war und von denen er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, was sie bedeuten mochten und welche Zaubersprüche sie herauf beschworen.
Vorsichtig berührte er mit den Fingerspitzen seiner verletzten Hand die kühle, mit Raureif beschlagene Oberfläche, von der er nicht sagen konnte, ob sie aus Stein oder aus Metall war. Sofort wurden seine Fingerkuppen taub. Das war erstaunlich, wenn er die Wärme berücksichtigte, die die Feuerschalen ausstrahlten. Die Tür reagierte augenblicklich auf den leichten Druck und erzitterte, als würde durch den Kontakt ein verborgener Mechanismus in Gang gesetzt. Die geheimnisvollen Linien und Symbole erwachten mit einem Mal zum Leben, strahlten so hell und grün auf, dass sie den Krieger blendeten. Dann klickte etwas vernehmlich in der Wand und die Tür schwang auf. Straif hob seine Schwerthand vor das Gesicht und wich vorsorglich ein paar Schritte zurück.
Er spähte blinzelnd durch den Kältedampf in den dunklen Raum dahinter und konnte nur weniges erkennen. Hier und da flackerten ein paar kleine rote und gelbe Lichtpunkte in der Finsternis, denen es jedoch nicht gelang, ihre Umgebung zu erhellen. Sie erinnerten Straif an die funkelnden Augen der Fenrir-Wölfe, gegen die er vorhin gekämpft hatte. Er spürte es mit dem Instinkt des Kriegers: Hinter dieser Tür lauerte eine Gefahr, auch wenn er sie noch immer nicht greifen konnte.
„Nun ja“, dachte er, „das Glück steht neben dem Mutigen und führt sein Schwert.“ Jetzt war er schon so weit gegangen, da würde er nicht auf der Schwelle kehrtmachen; seine Neugierde war inzwischen größer als seine Furcht. Er zuckte mit den Schultern und trat hein, stapfte durch die eiskalten Schwaden zu seinen Füßen in die zischende Finsternis.
Kaum hatte er keuchend und hustend den Raum betreten, aus dem es ekelerregend nach Verwesung roch, nahm die Dunkelheit ein Ende. Beim Durchschreiten des Türrahmens hatte er offenbar einen Mechanismus oder eine uralte Techné ausgelöst. Was für ein magischer Zauber der Vorgänger auch immer dahintersteckte: Die nur für Straif einladend geöffnete Tür schloss sich hinter ihm und von der sicherlich fünf Yard hohen Decke erstrahlten gleichzeitig schmale, aber wie das Tageslicht hell leuchtende Röhren auf. Sie schlängelten in einem zufälligen Muster über die Decke, mäanderten und verbanden sich miteinander, als wäre dort oben eine Karte der Flüsse eines unbekannten Landes abgebildet. Manche der Lichtleitungen flackerten unruhig und summten. Ein paar blieben auch dunkel.
Aber der Raum, in dessen Mitte Straif ehrfürchtig trat, wurde trotzdem vollständig ausgeleuchtet. Er war rund und in der Mitte über ein paar Stufen wie eine Arena abgesenkt. Straif schätzte den Durchmesser des Saales auf zehn oder zwölf Yard und er schien nur den einen Eingang zu besitzen, durch den er eben eingetreten und der hinter ihm wieder verschlossen worden war. Er war an seinem Ziel angekommen und sah sich beeindruckt um. Die Wände waren wie die Tür von einer Eisschicht überzogen und funkelten farbig wie ein Saal in einem gläsernen Märchenschloss. Auch waren alle Gegenstände waren von Raureif bedeckt. Nun begann sich ein Ventilator an der Rückwand zu drehen und schaufelte frischere Luft ins Innere des Höhlensaals, in dem es aber weiterhin so aufdringlich nach Winter, Rost, verbranntem Haar und Tod stank, dass Straif erneut husten musste.
Der eisige Raum erinnerte ihn an eine Schauspielbühne und noch mehr an den Hohen Ratsaal von Lux, der zwar um einiges größer war, den aber einer der alten Könige im schlichten Stil der Vorgänger hatte errichten lassen. Doch diese Anlage hier war keine Kopie, sondern tatsächlich aus der Zeit vor der Großen Welle.
Oberhalb der Bühne, die Straif nun aufmerksam und misstrauisch um sich blickend betrat, dort, wo bei einem Theater die Zuschauer und in Lux die Ratsherren saßen und disputierten, standen links und rechts im Rund jeweils sechs klobige Sitze aus Stein und direkt gegenüber des Eingangs ein dreizehnter, größerer,der wie der Thron eines Fürsten wirkte und auf einem Podest ruhte. In den exakt gleichen Abständen dazwischen hatte man rechteckige, mannshohe Kästen aufgestellt. An deren Oberflächen blinkten in einem unregelmäßigen, hektischen Rhythmus die farbigen Lichter, die Straif zuerst gesehen hatte. Diese merkwürdigen Vorgängermaschinen erzeugten auch den Raureif durch den Dampf, den sie ausstießen und der – schwerer als die Luft – den Boden bedeckte. Von Streif in Bewegung gebracht schwappte er wie eine milchige Suppe über seine Knöchel. Seine Eiseskälte war auch durch die schweren, pelzgefütterten Wanderschuhe hindurch deutlich spürbar.
Was Straif jedoch wie durch einen Stromschlag zusammenzucken und entsetzt aufschreien ließ, war, dass in jedem der Sitze im Rund um ihn herum jemand saß und ihn zu beobachten schien. Es waren seltsam tonnenförmige, dabei silbrig glänzende Gestalten, die nur entfernt an Menschen erinnerten. Eine Vielzahl von dünnen, metallenen Gliedmaßen wuchsen aus ihren Körpern und endeten in scharfen, dreifingrigen Klauen oder in spitzen Nadeln, die rot leuchteten. Ihre „Köpfe“ wirkten wie umgestülpte Eimer. Die an ihnen angebrachten Augen waren Glasperlen, die dünne Lichtstrahlen aussandten, die als grüne Punkte munter auf Straifs Kettenhemd tanzten. Jedes der grotesken Wesen war durch ein paar Leitungen mit der Maschine neben sich verbunden und vollkommen reglos. Auch diese blinkenden, metallenen Kästen waren über Kabel miteinander verknüpft.
»Goleme!«, keuchte Straif fassungslos.
Es war das erste Mal, dass er diesen sagenumwobenen künstlichen Menschen begegnete, aber er erkannte sie sofort. Und sie waren nicht wie die wenigen von ihnen, die man manchmal in Bergwerken fand und auf den Marktplätzen der Dörfer oder den Altären der Hindersöhne ausgestellt wurden, verrostet, ausgeweidet und seit sechs Jahrtausenden kaputt und ohne Leben, sondern offensichtlich funktionstüchtige Exemplare, die jederzeit in der Lage schienen, sich auf ihn zu stürzen und in Stücke zu reißen. Verglichen mit den Golemen, von denen einer es mit einem ganzen Rudel aufnehmen konnte, waren die Wölfe draußen harmlos gewesen!
Doch obwohl die grünen Lichtpunkte ihrer Augen auf Straif ruhten und in sein Inneres zu blicken schienen, bewegten sich die Maschinenmenschen nicht. Von ihnen schien im Augenblick keine Bedrohung auszugehen. Straif wandte sich deshalb nach ein paar Schrecksekunden zu der dreizehnten Gestalt, die ihm direkt gegenüber auf ihrem vereisten Thron saß und etwas besonderes darzustellen schien. War das der König der Goleme? War von ihm die Einladung ausgegangen?
Er trat näher heran, um sich dieses Wesen genauer anzusehen. Damit löste er erneut einen Mechanismus aus. Links und rechts von dem Thron-Podest standen wieder breite Feuerschalen, die mit schwarzen Steinen, die wie Kohle aussahen, gefüllt waren und bisher nur schwach geglüht hatten. Doch plötzlich flammte aus beiden eine mächtige Feuerzunge empor und beleuchtete die Gestalt auf dem hohen Sitz, deren Gesicht vorher durch den Schatten einer von Raureif überzogenen Kapuze verborgen geblieben war. Sie trug unter dem schwarzen Umhang schlichte, blaue Kleidung und ihre in Lederhandschuhen steckenden Hände ruhten entspannt auf den Lehnen des Sitzes. Obwohl auch diesen Körper merkwürdige Röhren mit den Maschinen neben ihm verbanden, saß dort kein Golem, sondern … ein Mensch! Allerdings erkannte Straif sofort, dass der Mann schon vor ewigen Zeiten gestorben war. Trockene, papierdünne und graue Haut überspannte das merkwürdig zerknitterte, von Eiskristallen glitzernde Gesicht, das durch das Feuer sichtbar wurde. Die Augenhöhlen unter den geschlossenen, eingesunkenen Lidern waren hohl und leer, die dünnen Lippen zu einem ewigen Zähnefletschen zurückgezogen. So musste der Tod lächeln, wenn er kam, um einen Sterbenden zu holen. Dieser Mann war wohl schon zu Lebzeiten keine Schönheit gewesen, aber seine starre, grinsende Leichenfratze war ein Anblick, den Straif in einem ganzen Leben nicht mehr vergessen würde.
Er erschauderte: Der junge Krieger stand unbezweifelbar vor der Mumie eines Vorgängers, dessen Knochen eigentlich schon vor tausenden von Jahren zu Staub hätten zerfallen sollen. Er erkannte das an den strohigen, nachtschwarzen Haarbüscheln, die zwischen Kapuze und Gesicht hervorlugten, denn seit Menschengedenken hatten Männer Glatzen. Gleichzeitig ließ seine Anspannung nach und er senkte erleichtert sein abwehrbereit nach vorne gestrecktes Schwert.Von der verwitterten Leiche, die hier schon beinahe dreitausend Jahre lag, schien ihm keine Gefahr auszugehen.
Doch er hatte sich getäuscht.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, richtete sich die Mumie wie eine von Fäden gezogene Marionette plötzlich in ihrem Sitz auf und obwohl sich ihr Mund nicht bewegte, hallte plötzlich eine tiefe, laute Stimme durch den Saal.
»Sei gegrüßt, Wanderer. Ich habe lange auf dich gewartet«, sagte sie in einem für Straif nur schwer verständlichen und seltsam altertümlichen Wendisch.
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Teil 4)“
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