In den Bücherkellern des Vatikans (12)

<– zum 11. Teil …

Meine Sinne verraten mir, dass du noch hier bist, mein Leser. Mir war gerade, als würdest du mir weiterhin über die Schulter sehen und begierig mitlesen. Ja, ich spüre sogar, wie du mich immer wieder mit dem Finger antippst, wenn ich kurz zögere, weil ich nach einem passenden Wort oder einer gelungenen Formulierung suche und dabei gedankenverloren einen Schluck vom Tee zu mir nehme.

»стоп – Stopp!«, rufst du zornig, »was ist denn das für eine Taschenspielerei? Alter Mann, du sitzt mitten in der Nacht im Büro des teuflischen Direktors. Du wurdest von seinen Handlangern eingeschlossen und musst befürchten, dass sie jeden Moment zurückkehren und dich entdecken. Wo also kommt nun plötzlich die Tasse Tee her, an der du nippst? Was hast du mir verschwiegen? Ich schätze diese Autoren-Taschenspielereien nicht!« Und da hast du recht. Da bin ich an deiner Seite, mein Freund. Wer von uns Autoren hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches Unbeschreibliche ward da getan. Lass mich dir deshalb ganz nüchtern und wahrhaft von meiner neuen Situation berichten:

Ist dir eigentlich nicht aufgefallen, dass meine Handschrift seit Beginn dieses Kapitels wieder ruhig und gleichmäßig dahinfließt? Ich verwende zum Schreiben nicht mehr meinen Bleistiftstummel, sondern den sehr hübschen, goldenen Federhalter von Pan Tagenow, den er nur dazu benutzt, um seine schwungvolle Unterschrift unter seine Dekrete zu setzen. Ich finde, er macht sich sehr gut in meiner Hand. Die schwarze Tinte veredelt meinen Text. Falls ich mich hier irgendwie herauswinden kann, dann werde wohl ich den Füller, der bestimmt schon über 50 Jahre alt ist, behalten müssen. Ich verspreche, ich werde ihn für einen besseren Zweck verwenden, als Kündigungen, Mahnungen und Todesbefehle zu unterschreiben. Nämlich meine Geschichte weiterzuerzählen – bis zu ihrem Ende. Das edle Schreibutensil liegt gerade so gut in meiner Hand. Er gleitet nur so – gleitet über das Papier wie der Schlittschuh von Anatoli Wassiljewitsch Firsow von der Сборная über das Eis. Es ist ein Vergnügen, ihn zu benützen.

Ich weiß, ich sollte auf den Punkt kommen. Aber das Alter hat eben einen geschwätzigen Narren aus mir gemacht. Ehrlich gesagt, fühle ich mich gerade trotz meiner misslichen Lage sehr wohl. Damit mir das Schreiben leichter fällt und du später meine Schrift besser entziffern kannst, habe ich die Schreibtischlampe am Tisch eingeschaltet. Die schönste Entdeckung in dem Kellerraum, in dem ich mich jetzt befinde, war es jedoch, dass im Kännchen des Samowars, der auf dem Sideboard an der Wand steht, noch genug bitterer Teesud schwappt und sich auch genügend Wasser im Aufwärmbehältnis darunter befindet. Es ist ein silberfarbener, schlichter und moderner Teebereiter, den ich nicht erst umständlich mit einem Spiritusbrenner befeuern muss. Er bringt das Wasser schnell mit einer elektrischen Heizspirale zum Kochen. Während ich vorhin das Sideboard leider vergebens nach einem wärmenden ›Wässerchen‹ durchsuchte – der niedrige Schrank enthielt nur Akten, die mich nicht interessierten –, blubberte der Samowar heimelig und sein aufsteigender Dampf erwärmte rasch das kleine Kännchen, das auf ihm steht. Ein Geruch nach Geräuchertem und Jasminblüten stieg mit dem Dampfaus dem Teekännchen auf. Wenn er schon den ›Schuss‹ vergaß, so hatte der Direktor zumindest an schöne, hauchdünne Porzellantassen und ein Schälchen mit Kandis gedacht, die griffbereit neben dem Samowar stehen. Ich habe mir großzügig von dem tiefschwarzen, an seiner Oberfläche ölig glänzenden Aufguss eingeschenkt, der wohl schon seit Tagen in seinem kleinen Kännchen köchelte und ihn mit nur wenig Wasser und viel Zucker verdünnt. Das muss mir ein Frühstück ersetzen. Oh, mein Freund, welch ein Genuss waren die ersten Schlucke! Mein Getränk schmeckt beinahe wie der Tschifir, jener hoch dosierte Schwarztee aus Irkutsk, von dem ein Tässchen so anregend ist wie ein Liter Kaffee auf einmal. Er hatte mir und meinen Mitgefangenen so manchen Abend im Gulag versüßt, weil er wie ein psychoaktives Narkotikum wirkt.

Auch wenn ich solch eine Wirkung heute noch nicht verspürt, so fühle ich mich jetzt wieder fit genug, meine Geschichte fortzusetzen. Glaube mir: Die beste Philosophie ist ein starker, heißer Tee. Du siehst also, mir geht es den Umständen entsprechend gut. Nun lass mich weiter berichten. Ich habe dir freilich etwas verschwiegen, nämlich ein Gespräch mit Wyschnin am Nachmittag, bevor ich zu meinem kleinen Abenteuer wegen meines gepanschten Wässerchens aufbrach. Aber dies geschah nicht, um dich zu täuschen oder zu verwirren. Das musst du mir glauben. Ich hatte meine Gründe. Ich wollte den Sekretär des Direktors schützen, weil ich ja befürchten muss, dass meine Aufzeichnungen in die falschen Hände geraten könnten. Aber nachdem er ermordet wurde – wahrscheinlich von Taganow persönlich -, habe ich keinen Grund mehr, auf ihn Rücksicht zu nehmen. Also lass mich an dieser Stelle eine Lücke füllen, die ich im zweiten Kapitel hinterließ:

Nach dem ›Freundschaftsbesuch‹ des Direktors und seines Sekretärs heute Vormittag, in dem die beiden mir mitteilten, dass man mir zum Quartalsende meine kleine Wohnung im ›Kollontai‹ kündigen werde, saß ich noch eine ganze Weile vor den Kopf geschlagen auf meinem Bett und starrte in die düstere Zukunft, die mich erwartete. Ich war so in meine trüben Gedanken versunken, dass es mir nicht einmal in den Sinn kam, meine flatternden Nerven mit dem einzigen Heilmittel zu beruhigen, das mir – sogar in Griffweite! – zur Verfügung stand. Ich spreche selbstverständlich von der Flasche Wodka, die ich zusammen mit meinen Aufzeichnungen hinter meinem Rücken versteckt hatte, als ich so überraschenden Besuch bekam. Ich zerbrach mir den Kopf über der Frage, was Taganow plante. Hatte er mich doch erkannt? Welchen Zweck verfolgte er, aus dem er mich nun so plötzlich aus seiner Nähe entfernen wollte? Nachdem wir so viele Jahre ruhig nebeneinander hergelebt und uns gegenseitig ausspioniert hatten? Warum griff er mich nun an, was hatte sich verändert? Lag es daran, dass die ›Reisende Buchhandlung‹ wieder in Piter aufgetaucht war?

Oh, ich könnte auf diese Weise noch eine Ewigkeit weitermachen, denn ich hatte viele Fragen. Doch ich weiß, wie sehr du nach Antworten verlangst, mein Freund. Deshalb machte ich Schluss mit meinen Grübeleien. Ich zuckte mit den Schultern und wollte mich gerade wieder an die Fortsetzung meines Textes über meine Erlebnisse in Antenora an den Küchentisch setzen. Da hob ich verwundert meinen Kopf, weil sich nach einem leisen Klopfen meine Wohnungstür erneut öffnete und Stepan Wyschnin eilig und dabei aufmerksam über die Schulter spähend bei mir eintrat. Ich fluchte und warf mich zurück in mein unordentliches Bett, verdeckte erneut mit meinem Rücken die verräterische Wodkaflasche und die Blätter mit meiner Geschichte. Ich muss auf Wyschnin so faul wie Ilja Iljitsch Oblomow gewirkt haben.

»Hat der Auftritt eben nicht schon gereicht? Warum werde ich so gequält?«, fragte ich schlecht gelaunt. »Ich werde noch Eintritt verlangen müssen.«

Wyschnin kam auf Zehenspitzen näher und bedeutete mir dabei mit dem Zeigefinger auf dem dünnen Mund, zu schweigen. Er trat an den Tisch, auf dem noch immer mein Zahnputzglas mit einem halben Schluck Wodka darin stand. Er beugte sich zu meiner Verwunderung herab und blickte unter die Tischplatte. Offenbar fand er dort nicht, was er suchte, denn er wandte sich kopfschüttelnd zu meinem Stuhl, auf dem eben der Direktor gesessen hatte. Eine plötzliche Ahnung ließ mich stumm bleiben und ich hinderte ihn nicht an seiner Untersuchung. Wyschnin wurde tatsächlich fündig. Triumphierend hob er einen kleinen, rechteckigen Knopf in der Größe einer Zehnrubel-Münze in die Höhe, der an einer Stirnseite eine kurze Antenne aufwies. Dann nahm er aus seiner Hosentasche eine Münzschatulle, in die er die Wanze behutsam legte. Anschließend ging er ins Badezimmer, wo er das Kästchen auf den Wannenrand stellte. Er stellte die Dusche an und kam dann zurück, schloss dabei die Tür hinter sich. Er räusperte sich.

[Zum 13. Teil …]

Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.

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