»Ich weiß nicht, warum es so ist. Aber Elena scheint immer wenige Probleme mit diesen Erscheinungen und Zuständen zu haben, wenn wir die Dimensionen wechseln«, bemerkte Marini nachdenklich. »Ich glaube, sie nimmt sie kaum wahr … vielleicht kann man sich daran gewöhnen. Auch wenn mir persönlich dieses Kunststück noch nicht gelungen ist. Ich fühle mich jedesmal wie durch einen Tritacarne gedreht. Mir ist danach für mindestens eine Stunde hundeelend.« Er runzelte die Stirn. »Vielleicht verkraftet ihr merkwürdiger Androiden-Metabolismus diese Reisen durch den Möbius-Tubus einfach besser. Da kenne ich mich nicht aus.«
Klammer schüttelte nur den schmerzenden Kopf. Tausend Teufel stachen zweitausendmal mit sechstausend Dreizack-Spitzen direkt in das Schmerzzentrum seines Gehirns.
›Androiden-Metabolismus!‹, ›Möbius-Tubus!‹ Er fühlte sich verhöhnt und hatte keine Ahnung, wovon der kleine Italiener da eigentlich gesprochen hatte. Er wusste nicht einmal, was genau diese Worte bedeuteten. Und ihm war es im Augenblick auch vollkommen egal. Wenn nur endlich dieser merkwürdige, traumwandlerische Zustand vorbeigewesen wäre, in dem er wie einer endlosen Schleife in immer wieder erscheinenden Déjà-vus gefangen war! War die ›Fuchsgasse‹ ein teuflisches Hamsterrad, dem er nicht entweichen konnte, in dem er sich in alle Ewigkeit im Kreis bewegen musste, ohne von der Stelle zu kommen? Ein Traum vielleicht? Wenn es einer war, dann mochte es ihm mit ein wenig Konzentration vielleicht gelingen, aufzuwachen. Er wünschte sich zurück in sein Haus nach Augsburg, am besten in sein eigenes Bett. Klammer sehnte sich nach dem unbelasteten Leben, das er bis vorgestern selbstzufrieden und unwissend geführt hatte. Solche Abenteuer mochten in einem Buch interessant und spannend zu lesen sein, aber selbst erleben wollte er sie nicht. Wenn nur endlich diese schier unendliche Parade von pinken Motorrollern vorbei war!
Als hätte ihn endlich eine höhere Macht erhört, fuhr bei diesem Gedanken die letzte Vespa an ihm vorbei. Zugleich endete auch das enervierende Vesperläuten. Es wurde mit einmal auch wesentlich heller und wärmer in der schmalen und wieder vollkommen leeren Vicolo. Es war, als wäre plötzlich der Himmel aufgerissen. Unglaublich: Klammer stellte fest, dass die drei nur wenige Meter von der Kreuzung beim Hotel entfernt standen.
»Sie sind unterwegs«, stellte Marini fest und ließ den Arm des Autors los. »Non preoccuparti per tua figlia – Keine Sorge, mein Freund! In diesem Moment befinden sich Isa und Mercedes bereits im Rayon beim alten Mann und sind dort in Sicherheit.«
»Rayon?«, fragte Klammer, der diesen merkwürdigen Ausdruck nun bereits zum zweiten Mal hörte. »Was soll das sein? Ein Ort?«
Er war zwar stolz auf seine umfassenden Fremdwortkenntnisse, die er gerne und häufig in seinen Romanen verwendete – schließlich war es für einen Schriftsteller immer besser, ein kompliziertes Fremdwort zu benutzen, als die einfache deutsche Entsprechung. Aber mit diesem Begriff wusste er nichts anzufangen. Doch Marini antwortete ihm nicht. Er winkte beschwichtigend ab und eilte hinter Verena Salva her, die ihre Schritte entschlossen Richtung Hoteleingang lenkte.
Klammer seufzte. Es kostete ihn einige Überwindung, zurück in die Gasse zu sehen. Tatsächlich bewahrheitete sich seine Vermutung: Die Buchhandlung war nicht mehr an ihrem Ort und mit ihr war ihm erneut seine Tochter geraubt worden. Wo gerade noch eine Auslage mit guter italienischer Literatur für den Laden geworben hatte, befand sich nurmehr ein rostiger, bodenlanger Gittervorhang, der den Blick ins Innere des Schaufensters und die Tür daneben versperrte.
Der trostlose Anblick der öden römischen Vicolo machte Klammer erst bewusst, was er gewonnen und gleich darauf wieder verloren hatte. Für einen allzu kurzen Moment des flüchtigen Glücks hatte er Isa in den Armen halten dürfen. Schlusscoda! Alles hatte darauf hingedeutet, als wären jetzt alle Schwierigkeiten überwunden, alle Bösewichter geschlagen und das rätselhafte Abenteuer würde sein glückliches ENDE finden. Doch wie schnell war dieser Wunschtraum verflogen! Der Autor fühlte es: Er war wieder auf sich gestellt, fast wieder am Anfang seiner Suche. Er stand vor neuen, vielleicht noch schwierigeren Herausforderungen und Geheimnissen. Seine Geschichte hatte gerade erst begonnen. Es war erst das erste Kapitel seines Romans geschrieben. Deshalb folgte er seinen beiden Begleitern nur widerstrebend und voller böser Vorahnungen in das klimatisierte Foyer des Hotels Raphael.
Er irrte sich nicht: Das Spiel gegen die Hyänen war in eine neue Runde gegangen. Sein feister Verleger saß nicht mehr auf seinem bequemen Sessel auf der Dachterrasse des Hotels. Auch in seinem Zimmer befand er sich nicht und hatte weder dort noch an der Rezeption eine Nachricht hinterlassen. Niemand im Raphael hatte sein Weggehen bemerkt oder eine Ahnung, wohin er aufgebrochen war. Der fette Karl-Heinz Welkenbaum war mitsamt dem wertvollen Geltsamer-Buch so spurlos verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt.
Ziemlich ratlos standen die drei nach ihrer vergeblichen Suche in der großen Eingangshalle. Wo sollten sie nun anknüpfen? Marini hob die Hände:
»Madonna! E adesso? – Und jetzt?«
Ein Lächeln erschien auf Verenas bislang emotionslosen Gesicht. »Es scheint, wir haben den Faden im Labyrinth verloren. Aber ich weiß einen Ort, an dem wir ihn wiederfinden können. Es ist nicht weit. Wir besuchen den Papst.«
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Kapitel DREI
Die Rückkehr nach Antenora
Aus den Aufzeichnungen eines Vergessenen
(Fortsetzung)
Mein товарищ, mein братья, mein Leser! Du hast mich durch diese grauenvolle Nacht gebracht. Inzwischen müsste es schon dämmern, aber davon ist hier an meinem neuen, fensterlosen Aufenthaltsort nichts zu bemerken. Bist du noch immer hier bei mir in den Büroräumen des Direktors, der sich heutzutage Pan Taganow nennt? Hältst du mir auch wirklich noch die Treue? Vielleicht hast du ja schon meinen Bericht unzufrieden zur Seite gelegt oder ihn längst wütend in die Ecke deines Zimmers geschleudert, weil es einfach zu viel Unsinn war, den ich dir zumutete. Wahrscheinlich beschäftigst du dich wieder mit deinen zukünftigen, persönlichen Angelegenheiten, die ich nicht kenne und auch nicht begreifen würde. Aber das Wichtigste kommt noch! Trete doch näher an mich heran, mein Freund, ich habe noch so viel zu erzählen.
Ich weiß, meine Handschrift war zuletzt eine Zumutung. Sie war kaum leserlich, schlampig und gehetzt. Sie jagte, ohne auf die Liniierung zu achten, übers Papier. Dazu muss dir der Inhalt meiner Aufzeichnungen zunehmend absonderlicher erschienen sein. Wie ein Lügenmärchen für Erwachsene mögen sie in deinen Ohren geklungen haben. Doch bedenke, in welche äußere Situation du mich am Ende des letzten Kapitels begleitet hast. Ich musste im Dunklen sitzen und mich eilen, dir von den Geschehnissen zu berichten. Schließlich lief ich Gefahr, jeden Moment entdeckt zu werden. Du weißt, das wäre mein sicherer Tod gewesen. Renat und Petr, die hier im Heim als Küchenaushilfen angestellt sind, aber offensichtlich auch ganz andere, schmutzigere Aufgaben für den Direktor erledigen, würden sicherlich kein Mitleid mit einem alten Mann wie mir haben, wenn sie mich entdeckten. Dann wäre es mir sicherlich wie dem armen Stepan Wyschnin ergangen, dessen einzige Verbrechen seine Neugierde und seine Hilfsbereitschaft waren.
Stepan war wohl ein guter Mensch, aber ich habe das zu spät erkannt. Vielleicht hältst du mich für gefühlskalt, weil ich so leicht über den gewaltsamen Tod des jungen Mannes hinweg geschrieben habe. Doch ich bin betroffen. Aber bedenke: Der Tod und das sinnlose Sterben waren mir mein ganzes Leben lang ein treuer Begleiter. Ich habe so viele Menschen verloren, die ich liebte. Nenne mich abgestumpft, aber Stepan muss sich in der Reihe derjenigen, die ich betrauere, weit hinten anstellen. Freilich ist es tragisch, wenn jemand viel zu früh von uns gehen muss. Aber ich habe ihn zu kurz gekannt, um mehr als Betroffenheit zu fühlen. Trauer wie Schmerz, aber auch Liebe und Glück sind nicht beliebig aufeinander stapelbar. Irgendwann ist der Gipfel erreicht und dann zerbrichst du entweder – oder du machst einfach weiter. Ich habe mich schon vor vielen Jahren während der Belagerung von Leningrad für das zweite entschieden.
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Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.
3 Antworten auf „In den Bücherkellern des Vatikans (11)“
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