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In den Bücherkellern des Vatikans (6)

<– zum 5. Teil …

Der Grund, den die Alten vorgebracht hatten, aus dem sie seine Hilfe benötigten, hatte zwar verrückt, aber in sich logisch geklungen. Wie Welkenbaum jedoch aus Roman Gaitanias Werk über Geheimgesellschaften und Verschwörungsmythen wusste, klang jede noch so irre Theorie einleuchtend, wenn man einmal die Tür zur Vernunft hinter sich verschlossen hatte und die durchgeknallten Prämissen nicht anzweifelte. Das Internet war voll von solchen Leuten. Aber – und dieses ›Aber‹ war ein großes:

Weshalb haben sie mich überhaupt entführt? Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung. Schließlich hätten sie auch geduldig am Nebentisch warten können, bis ich den Roman fertigstudiert habe und mich anschließend einfach befragen können. Die dramatische Aktion, mich in aller Öffentlichkeit auf der Hotelterrasse unter Drogen zu setzen und hierher zu verschleppen, war doch vollkommen unnötig. Oder? Oder …

Der Verleger schreckte aus seinen Gedankengängen in die Höhe und saß alarmiert auf dem Sofa. Es war ein Zusammenzucken seines ganzen Körpers gewesen; ganz so, als hätte er den Kuhdraht berührt, der das Grundstück hinter seiner Villa zum schweigsamen Nachbarbauern abgrenzte. Adrenalin jagte den Blutdruck in die Höhe; der ganze Brustkorb vibrierte durch die kräftigen, schnellen Schläge seines Herzens.

Jetzt noch ein Infarkt, das wäre das Tüpfelchen auf dem I meines Ausflugs in die Ewige Stadt. Rom sehen und sterben, dachte er und fürchtete sich. Ich habe meine Betablocker zuletzt am Morgen genommen, bevor ich mit Verena ›shoppen‹ ging. Wie lange ist das her?

Er hatte an diesem fensterlosen Ort längst jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange hatte sein Drogenrausch angedauert? War es noch Samstag oder schon Sonntag; Tag oder Nacht? Auf jeden Fall war es längst an der Zeit, nach seinem Verdauungsschläfchen endlich etwas zu unternehmen.

Ich bin höchstens eine Minute eingenickt, redete Welkenbaum sich selbst ein und zwang sich zur Ruhe. Einatmen … langsam ausatmen! Das wird wieder.
Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen Herzschlag, der tatsächlich langsam wieder ruhiger und gleichmäßiger wurde. Es funktioniert! Obwohl ich schon wieder ein wenig hungrig bin.

Was hatte ihn geweckt? Er sah sich um und entdeckte auf der Schreibtischfläche des Nussbaum-Sekretärs bei der Eingangstür drei gedrungene braune Flaschen ohne Etikett. Der arrogante Blick des Kardinaldekans im Bilderrahmen darüber schien sie missbilligend zu mustern. Diese Bierflaschen hatten vorhin noch nicht dort gestanden. Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über Welkenbaums Lippen, die er in froher Erwartung mit den Lippen anfeuchtete. Seine Drohung, erst dann den Geltsamer aufzuschlagen und in ihm zu lesen, wenn seine Wärter ihn mit seinem Lieblingsgetränk versorgen würden, hatte zum gewünschten Ergebnis geführt. Pat oder Patachon mussten ihm gerade eben jene Flaschen gebracht und ihn dabei unabsichtlich geweckt haben. Doch nun war er wieder allein in dem großen Kellergewölbe – sah er einmal von dem pikierten Geistlichen im Gemälde ab, der mit Welkenbaums Anwesenheit und Person durchaus nicht einverstanden schien.

Der übergewichtige Verleger stand ächzend auf. Das heftige Grummeln, mit dem vorhin sein Magen nach Nahrung verlangt hatte, hatte sich in die Tiefe seines Unterleibs bewegt und zwickte ihn dort nun schmerzhaft. Noch eine dieser dummen Beschwerden, die das Älterwerden so mit sich bringt, dachte er grimmig, meine Prostata geht langsam zum Teufel. Funktioniert eigentlich noch irgendetwas in meinem Körper?

Er benötigte dringend und wenn möglich sofort eine Toilette. Gab es hier so etwas überhaupt? Oder musste er in eine dunkle Ecke? Er musste sein Gefängnis einer näheren Untersuchung unterziehen, denn im Moment sah es ganz so aus, als würde er noch eine ganze Weile hier verbringen müssen. Den vorderen Teil des tonnenförmigen, fensterlosen Gewölbes mit der Chaiselongue, den leeren Bücherregalen und dem Schreibschrank hinter dem vergoldeten Stuhl kannte er ja bereits. Doch den rückwärtigen, schlecht ausgeleuchteten Bereich hatte er noch nicht genauer erkunden können. Dort musste sich noch mehr befinden als eine dunkle Regalwand. Was er brauchte, war ein wenig mehr Licht. Vorhin hatte Pat beim Eintreten an einer Tasterleiste neben der Tür eine hellere Deckenlampe eingeschaltet. Dort gab es noch zwei weitere Schalter. Er trat näher und betätigte sie. Dabei warf er einen begehrlichen Blick auf die mit Kronkorken fest versiegelten Flaschen. Doch er hatte sich im Griff. Sein Durst musste noch ein wenig Geduld haben.

Tatsächlich ging nun auch im hinteren Bereich seines Gefängnisses die Deckenbeleuchtung an und der ganze Raum wurde in ein freudloses, kaltes Neonlicht getaucht. Die hinterste der Lichtröhren brummte und flackerte, aber Welkenbaum konnte nun erkennen, dass sich an der gut zwanzig Meter von ihm entfernten Rückwand seitlich eine unscheinbare Tür befand. Die Regale waren hier auch nicht vollkommen leer. Wie er beim Nähertreten feststellte, standen in dem einen in Kopfhöhe zwei Lautsprecher, aus denen bei seinem Erwachen die barocke Musik erklungen war. Zwischen ihnen war eine neunundzwanzigbändige Cambridge-Ausgabe der Encyclopædia Britannica von 1911 eingeordnet. Welkenbaum erkannte sie an ihren prägnanten rotbraunen Rücken. Er hätte an diesem Ort eher ein paar zerlese, graue Codices Iuris Canonici erwartet.

Obwohl der Verleger immer von alten Büchern fasziniert war und viel Geld in Antiquariate trug, nahm er sich nicht die Zeit, die alten Bände näher zu untersuchen. Zu seinem Glück erwies sich die Tür an der Rückwand tatsächlich als Eingang zu einer weißgefliesten und erstaunlich modernen Toilettenanlage. Sie war wohl erst vor sehr kurzer Zeit eingebaut worden und roch nach Desinfektionsmittel und Sauberkeit – zumindest anfänglich. Es gab zu Welkenbaums Überraschung sogar ein Bidet. Hier fiel übrigens diffuses Tageslicht durch zwei schmale Milchglasfenster hoch unter der Decke herab. Das Gewölbe, in dem man ihn gefangen hielt, war offenbar nicht so tief unter der Erde, wie er vermutet hatte. Selbst wenn er auf die Toilettenschüssel steigen würde, waren diese Luken viel zu weit oben angebracht, um sie untersuchen zu können. Immerhin: Der Verleger wusste nun, dass es helllichter Tag war – auch wenn ihm noch immer nicht bekannt war, welcher. Er wusch sich aufmerksam die Hände und trocknete sie am Gebläse, bevor er das WC wieder verließ.

Nun gab es keinen Grund mehr für ihn, die Lektüre von Dr. Geltsamers erinnerten Memoiren weiter hinauszuschieben. Aber zuerst war noch etwas anderes zu erledigen. Er ging zum Sekretär zurück und stöberte in dessen leeren Schubladen. Eigentlich suchte er einen Flaschenöffner, doch er fand keinen. Immerhin entdeckte er dabei eine Lesebrille in seiner Stärke. Sie war rechteckig, hatte ein schmales, angelaufenes Metallgestell und lange, um die ganzen Ohren herumlaufende elastische Bügel. Der Geistliche auf dem Gemälde trug solch eine Brille. Vielleicht war es auch seine. Auf jeden Fall diese Antiquität gute Dienste erweisen. Da er in den anderen Abteilungen des Schreibschranks nichts entdeckte, schlug er den Kronkorken einer der Bierflaschen kurzerhand gegen die Tischkante und brach dabei mitleidlos ein Stück vom Furnier des sicherlich wertvollen Sekretärs ab. Im Stehen trank er und leerte die Flasche, ohne sie einmal abzusetzen. Es war ein süffiges, braunes Kellerbier und hatte wohl vorher in einem Kühlschrank gestanden, denn es hatte genau die richtige Temperatur. Ob der Papa emeritus den Verlust bemerken würde?

Welkenbaum ging es nun auf jeden Fall viel, viel besser. Er bemerkte, wie sein Tatendrang zurückkehrte. Er entsiegelte lächelnd auf dieselbe rohe Weise wie gerade eine zweite Flasche und stellte sie sich in Griffweite neben die Chaiselongue. Erst danach ging er hinüber zum Regal, um sich seine Zwangslektüre zu holen. Das dicke, schwarze Buch schien sich nicht verändert zu haben. Aber warum hätte es das auch tun sollen? Egal, was Pat & Patachon sagten, es war nur ein Buch.

[Zum 7. Teil …]

Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.

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