Der Weg, der in den Tag führt
Teil 2: Pardais
Nur raus hier!
Esda verließ ihr Versteck und wankte benommen zur Tür. Sie fürchtete sich nicht mehr vor einer Entdeckung durch die beiden Arbeitsamen, die nur noch lallend auf dem kalten B‘Ton lagen und alle Viere von sich streckten. Nicht wie erhofft die Wahrheit, sondern Sabber und Schaum quollen ihnen nun aus den Mundwinkeln. Berg und Torm hatten ihre Iris so noch oben verdreht, dass nur noch das Weiße der Augäpfel unter ihren flackernden Lidern zu sehen war. Die grausige Kaliemma selbst hätte jetzt vor ihnen tanzen und damit beginnen können, ihnen mit ihren spitzen Sägezähnen die Köpfe abzubeißen, um sie auf ihrer Halskette aufzufädeln – die beiden Samer hätten es nicht bemerkt.
Bei jedem Schritt stolperte sie, aber schließlich erreichte Esda die Tür, die nur angelehnt war. Obwohl sie am Liebsten durch sie hindurch gesprungen wäre, öffnete sie sie nur einen Spalt, damit sie vorsichtig nach draußen spähen und gleichzeitig wieder reinere Luft einatmen konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich nicht alles mehr um sie drehte. In dem breiten Gang draußen brannten zwar Fackeln und Deckenlichter, aber es hielt sich gerade niemand in ihm auf. Nach rechts endete er nach ein paar Schritten vor einer weiteren Metalltür, nach links schien er sich nach ungefähr fünfzig Metern zu einer größeren Halle zu erweitern. Von dort hinten drangen Geräusche und Gesprächsfetzen von vielen Menschen an Esdas Ohren und jemand spielte auf Trommeln und Flöten eine eintönige Musik.
Wie konnte es ihr gelingen, sich dort unerkannt durch die Samer hindurchzuschleichen und dabei gar den Gefangenen zu befreien, dessen Zelle sie in der Höhle vermutete. Sie schöpfte weiter Atem und überlegte ratlos. Sie musste dabei noch immer gegen die Auswirkungen der giftigen Milchdämpfe ankämpfen, die wie ein wabernder Nebel auf ihren Gedanken lasteten und diese schwerfällig und verworren machten. Was war das Negradi in unverdünntem Zustand nur für ein Teufelszeug?
»Wenn ich jemals wieder gesund hier unten rauskomme, trinke ich in Renis Bude nur noch süßen Kaktussaft«, nahm sie sich vor. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Warum war ihr das nicht schon früher in den Sinn gekommen? Die tiefrote und weite Ordenstracht der Behutsamen Schwestern war sackförmig geschnitten und reichte bis zum Boden. Und was das Beste war: Ein mantelartiger Überwurf mit einer eng am Kopf anliegenden Schleierhaube gehörte dazu, der sogenannten Capiti, unter der die Nonnen züchtig ihre Haare und ihr halbes Gesicht verbargen. Berg hatte ihr ja eben dieses Gewand praktisch vor die Nase gehalten, als er nach seinem Schnaps suchte. Esda musste sich nur noch aus der Kiste der Oberin bedienen und sich das Kleid überwerfen, dann war sie gut getarnt und musste keine Entdeckung fürchten, solange sie nicht auf eine echte Schwester stieß, die inzwischen hoffentlich alle schliefen. Die Arbeitsamen in Höhle vorne durften die Ordensfrauen ja nicht einmal ansprechen oder gar berühren und mussten immer einen respektvollen Abstand einhalten.
Esda nahm noch einmal einen tiefen, gierigen Atemzug, dann trat sie entschlossen zurück in das Lager und ging schnell zu der markierten Kiste, um sich ein Kleid herauszusuchen. Dabei musste sie über Torm und Berg steigen. Sie schienen zwar noch am Leben zu sein, waren aber offenbar in eine tiefe, starre Ohnmacht gefallen, aus der sie so schnell nicht mehr erwachten – wenn sie das überhaupt noch einmal tun würden. Die Sammlerin, die nicht aus ihrer Haut konnte, sah kurz nach, ob die beiden bewusstlosen Arbeitsamen etwas bei sich trugen, was sie brauchen konnte. Dabei fiel ihr Blick auf die Flasche mit der Milch des Vergessens, die nicht wie die andere umgefallen war, sondern noch fast voll neben Torn stand, der ja nur einen Schluck aus ihr genommen hatte. Der Korken lag griffbereit daneben. Diese Milch stellte nicht nur einen nicht unerheblichen Wert dar, von deren Erlös sie und ihre Familie mehrere Monate gut leben konnten, sondern würde ihr bei ihrem Unternehmen vielleicht noch gute Dienste leisten. Deshalb beugte sie sich flink herab und verkorkte die Flasche. Dann schob sie sie in ihre Umhängetasche und holte sich endlich das rote Ordenskleid, das aus einem Kleid und einem Kapuzenmantel bestand, die sie sich sofort überzog. Es war so weit, dass sie es problemlos über ihre eigene Kleidung streifen konnte. Der dichte Schleier aus Nesseltuch, der an der Capiti befestigt war und den sie nun vor ihrem Gesicht befestigte, schränkte sie zwar ein wenig beim Sehen ein, aber er wirkte wie ein Luftfilter. Wenn sie flach und nicht allzu tief atmete, gelangte nicht zuviel von den betäubenden Dämpfen der Milch in ihre Lungen.
Fasziniert sah sich Esda noch einmal die wertvollen Stoffe in die Kleiderkiste an, die aus den hauchfeinen und nahezu unzerreißbaren Spinnfäden der Tiefenasseln gewebt waren, den zweiten Nutztieren der Arbeitsamen. Zu ihrem Bedauern konnte sie nicht eine weitere Ordenstracht mitnehmen, sie hätte sie nur behindert. Die Sammlerin wollte gerade den Deckel schließen, da fiel ihr noch etwas anderes auf. Sie schob eilig die Kleider zur Seite. Unter ihnen verborgen lagen ein paar Gesangsbücher der Schwestern, eine quadratische Lederschatulle, deren Deckel mit einem kleinen Haken verschlossen war – und eine handliche, fein gearbeitete Pistole und daneben ein grauer Karton mit zu der Waffe passender Munition. Esdas Herz schlug schneller. Was für ein unglaublicher Fund. Dieses Lager war ja eine wahre Schatzkammer! Sie wunderte sich, dass die Samer sie nicht besser bewachten. Die schlampig gebundenen und vom vielen in ihnen Blättern zerfledderten Bücher interessierten die Sammlerin nicht, aber eine Waffe aus der Zeit der Vergangenen Menschheit war ein sensationelles Juwel.
Kein Feinmechaniker oder Waffenschmied konnte heutzutage in Es Sakrat solche mechanischen Wunderwerke herstellen; ihre Möglichkeiten erschöpften sich mit langläufigen Steinschlossflinten und grobschlächtigen Musketen. Die kleine Handvoll noch funktionstüchtiger Schusswaffen aus der Zeit vor dem Ewigen Krieg wurde von ihren jeweiligen Besitzern wie ihr Augapfel gehütet und ehrfürchtig von Generation zu Generation weitergereicht. Längst gab es für die meisten dieser Pistolen und Gewehre keine Kugeln mehr und sie waren mehr oder weniger nutzlose Schaustücke – es sei denn, ein Sammler stieß im Untergrund auf ein Munitionslager der Vergangen, was ab und zu tatsächlich geschah, wenn Esda den Chroniken der Forschnacht-Kaste glauben durfte. Diese Glückspilze hatten dann für den Rest ihres Lebens und oft auch noch für das ihrer Nachkommen ausgesorgt und mussten nicht mehr durch unsichere, dunkle Gänge kriechen, in denen hinter jeder Biegung der Tod lauerte, um das Überleben ihrer Familien zu sichern. Jeder Sammler träumte von dem einen, bedeutenden Fund und ging mit der heimlichen Hoffnung in die Tiefe, er würde auf solch einen Schatz stoßen und kam dann doch nur wieder – falls er überhaupt zurückkehrte – mit beinahe leeren Händen und irgendwelchem verschimmelten Kleinkram zurück, dessen Erlös auf dem Bas-Markt kaum die hungrigen Mäuler stopfen konnte. Freilich horteten die Armeen der Ewigen Schlacht Unmengen an Waffen, Bomben und Munition und die Maschinenwesen stellten unermüdlich neue her, aber zu versuchen, ihn ihre unterirdischen Kasernen einzudringen, war ein Wahnwitz, den niemand überlebte, der es versuchte.
Esda wusste, dass sie einen weiteren Diebstahl beging, der mit einem grausamen Tod bestraft wurde, wenn sie mit ihrer Beute ertappt wurde, aber sie erlag erneut der Verlockung. Sie griff sich entschlossen die Waffe und die Munitionsbox und nach einem kurzen Zögern auch die kleine Lederschatulle, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sich in ihr befinden könnte. Sie steckte alles in die seitliche Innentasche des Überwurfs ihres Ordensgewands, die die Schwestern Marsupial nannten. Dann floh sie eilig aus dem Raum, denn die Dämpfe begannen trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht schon wieder auf sie zu wirken.
Draußen lehnte Esda sich zufrieden gegen die Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte und sammelte den Mut, ihr Abenteuer fortzusetzen. Sie wusste: Es hatte gerade erst begonnen, aber nun war sie gut ausgerüstet.
[Zum 1. Kapitel: “Eine Nacht in der Karawanserei” …]
Der Beginn der spannenden Geschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Teil I: Karukora
Als Taschenbuch oder günstiges E-Book,
380 Seiten, illustriert