Der folgende Text – er ist ein Ausschnitt aus meinem bislang noch unveröffentlichten Roman „Gelbe Stunden“ aus dem „Jahrmarkt in der Stadt“-Zyklus – setzt das “Wahrlügen” fort. Er beginnt streng autobiografisch, wird aber in den letzten beiden Abschnitten vollkommen fiktiv. Er ist eine Vorausveröffentlichung aus meinem demnächst erscheinenden Buch “Noch einmal daran gedacht”.
In der 7. Klasse hatte ich keine Freunde. Es gab dort aber einen, den ich bewunderte. Und ich hatte einen unversöhnlichen Feind. Ich bekam ich zum ersten Mal Schwierigkeiten mit meiner Literatur und das mit einem Klassenkameraden und Mitglied der katholischen Jugendgruppe, das Manfred hieß und das ich noch heute für ein Arschloch halte, obwohl ich es seit über fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Es ist unglaublich, wie zäh sich Urteile halten können. Würde Manfred mir heute zufällig begegnen, könnte ich nur äußerst reserviert und mit Vorurteilen beladen auf ihn zugehen. Abneigung ist offenbar haltbarer als Zuneigung. Glücklicherweise würden wir uns auf der Straße nicht erkennen.

Tscharly, der Junge, dessen Freundschaft ich suchte, war mit mir gemeinsam in der 6. Klasse durchgefallen, aber noch ein Jahr älter als ich. Von der körperlichen Reife und der geistigen Entwicklung her betrachtet, war der Abstand zwischen uns aber noch viel größer. Tscharly hatte all die Dinge, die ich ebenfalls wollte: Er besaß ein Mofa und war Mittelpunkt eines Kreises, den er „Clique“ nannte. In seiner Bude stand nach seiner Darstellung ein Fernseher, aus seinem tragbaren Kassettenrecorder quäkten The Sweet, Status Quo und Led Zeppelin. Er hatte auch schon Erfahrungen mit den Mädchen und ab und an eine Freundin.
Manchmal durfte ich mich von der Sonne seiner Aufmerksamkeit bescheinen lassen und besuchte ihn in der Vorstadt, was für mich eine längere Anreise bis kurz vor die Endstation der Straßenbahn in Stadtbergen bedeutete; diese Ausflüge waren immer heimlich, ich täuschte dabei den Besuch bei einem anderen Bekannten vor, denn meine Mutter billigte diese Beziehung nicht.
Ich glaube, ich war nie bei Tscharly zu Hause, er holte mich immer von der Haltestelle der Einser ab und knatterte auf seiner grünen Honda neben mir her zu einem Spielplatz, auf dem er sich – zumindest behauptete er das – abends mit seiner „Clique“ traf. Ich habe aber nie einen von seinen anderen Freunden gesehen. Dort saßen wir dann recht unbequem den ganzen Nachmittag mit dem Hinterteil auf der Lehne und den Füßen auf den Sitzhözern einer Parkbank, tranken Cola aus der Dose und rauchten. Tscharly erzählte Storys von seinen Kumpels oder erklärte, wie man ein Mofa frisiert und genoss es sichtbar, einen “Groupie” zu haben. Wenn ich zu Wort kam, erfand ich ein paar Geschichten über meine Clique und meine Freundin oder erzählte von einem Roman, an dem ich schrieb. Natürlich hatte ich weder einen Freundeskreis wie er, noch je drei oder vier Sätze dieses Romans zu Papier gebracht. Aber ich sah, dass er meine Angebereien respektierte, solange ich die seinen nicht in Frage stellte.
Da Tscharly ja mit mir in die gleiche Klasse ging – er wechselte dann im gleichen Sommer auf eine Realschule in der Stadtmitte und ich verlor ihn aus den Augen –, musste ich zwangsläufig meine Lügengeschichten in der Klasse fortspinnen. Ich hatte deswegen sogar ein Bild von einer erfundenen Freundin fein säuberlich aus einem Comic-Heft abgemalt. Ich trug es gefaltet in meinem Geldbeutel und zeigte es gerne vor.
Mir war jedoch bei meinen immer feineren und dichteren Fantasiegespinsten entgangen, dass in meine 7. Klasse auch noch ein Junge ging, der mich hasste und nach Mitteln und Wegen suchte, mich vor allen bloßzustellen. Dieser Junge war noch ein wenig kleiner als ich. Das war Manfred. Wenn ich heute darüber nachdenke, gab einen einfachen Grund für seine Abneigung: Er stand noch weiter hinten in der Rang- und Hackordnung der Jungs der Klasse, während ich im unteren Mittelfeld ein gemütliches Dasein fristete und gerade mit Hilfe meiner überschäumenden Fantasie und meinen Geschichten den einen oder anderen Erfolg feiern konnte. Meine krachenden Sechsen in Deutsch halfen mir dabei mehr als sie mir schadeten. Nachdem Manfred einsah, dass es durchaus nur ein kurzer Triumph war, mir meine seltsame Fellachenkopfbedeckung, die ich nach Ostern aus Ägypten mitgebracht hatte, zu klauen und sie zu verstecken, griff er mich deshalb auch zielsicher auf meinem ureigensten Gebiet an, mit dem ich eine Sonderstellung in der Klasse behauptete. Außer mir schrieb nur ein dickes Mädchen Geschichten und die handelten von heiteren, jugendlichen Reiterinnen und ihren Pferden.
Manfred forderte mich völlig überraschend vor der Klasse heraus, als ich mich mal wieder als Schriftsteller aufplusterte: Ich solle ihn doch endlich mal eines meiner tollen Bücher lesen lassen, z. B. diesen monumentalen SF-Roman um den Raumfahrer Papadopulous Bykow, der zum Schluss sogar vor Gott steht (den Namen „Bykow“ entnahm ich dem „Atomvulkan Golkonda“ von den genialen Brüdern Strugatzki, die ich damals las, aber nicht verstand), meinen spannenden Fantasyroman „Kampf um Utgard“, von dem übrigens einige Erzählfäden heute wieder in meinen “Brautschau”-Büchern auftauchen, oder einen der fünf Western, in deren Mittelpunkt ich meine Old-Shatterhand-Kopie Johnson gestellt hatte. Leider existierte mein Œuvre fast ausschließlich in meiner Fantasie. Ich hatte mir die Romane zwar selbst mit Hilfe von Legokulissen und Plastikmännchen vorgespielt und durcherzählt, aber keinen einzigen Satz niedergeschrieben.
Auch heute bin ich noch in der Lage, diese Geschichten zu erzählen, so habe ich sie mir damals verinnerlicht. “Kampf um Utgard“ beispielsweise sollte mit folgenden Worten beginnen: „Endlich aber war der Tag gekommen, an dem sich das Schicksal der Welt erfüllen sollte. Blutig rot dämmerte er aus einer endlosen Nacht, um bald hinter schwarzen Wolken in einer ewigen Düsternis zu enden …“ Aber – wie gesagt – ich hatte noch nichts davon auf Papier gebracht. Die Inspiration war da, aber sie ist der unwichtigste Teil eines Buches. Manfreds Zweifel konnte ich jedoch nicht auf sich beruhen lassen. Wenn ich in den Augen der anderen der Autor bleiben wollte, als der ich mich sah, musste ich endlich liefern.
Froh darüber, dass er nicht die Existenz meiner Freundin angezweifelt hatte, schrieb ich noch am selben Nachmittag und in der Nacht darauf heimlich im Lichte einer Taschenlampe die ersten beiden Kapitel meines Western-Romans „Johnson I“ und füllte ein liniertes A5-Schulheft mit einer haarsträubenden Geschichte voller Rechtschreibfehler und krauser Grammatik, in der es um wilde Indianer ging, um böse Banditen mit ihrem charismatischen Anführer, dem Schurken Wilkins, um Cowboys, Soldaten und einen jungen, einsamen Helden, der auf den 48 Seiten Text lebensgefährlich verletzt wird, in Schießereien und ein Mordkomplott, schließlich an den Marterpfahl gerät, fast verdurstet und einem Feuer nur durch einen Fenstersprung entkommt. Zwischendrin verliebt er sich und findet seinen verloren geglaubten Onkel „Big“ Evans wieder, einen erfahrenen Westmann, der nicht allzu erstaunliche Parallelen zu Sam Hawkins aufweist.
Diesen wahnwitzigen Text überreichte ich am nächsten Morgen übermüdet, aber triumphierend vor den anerkennenden Blicken der anderen Schüler meinem überrumpelten Gegner. Das sei nur der Anfang und der Roman ginge noch einmal zehn solcher Hefte weiter, die ich ihm nachreichen wolle, wenn er erst einmal diese zwei Kapitel gelesen habe, behauptete ich leichtsinnig. Mit dem schmalen blauen Schreibheft begann meine Karriere als Autor und auch der Ärger: Manfred gab sich noch nicht geschlagen. Still nickend nahm er das Heft an sich und steckte es in seine Schultasche. Ich sollte es nie wieder sehen. Zuerst verzögerte Manfred einige Wochen lang die Rückgabe meines Werkes; er wartete auf seine Gelegenheit. Dann erzählte er plötzlich in der Pause vor der versammelten Klasse, ich habe „Johnson I“ abgeschrieben und er den Beweis, nämlich den G. F. Unger-Roman, aus dem ich kopiert hätte, zu Hause. Und mein Heft mit meinem ersten literarischen Text hätte seine Mutter weggeschmissen. Das war eine noch gewagtere Lügengeschichte als die meine, aber sie wurde geglaubt. Im Nachhinein sollte ich eigentlich geschmeichelt sein, dass er mein unsägliches Geschreibsel mit einem veröffentlichten Wildwestroman eines erwachsenen Autors verglich, aber sein ungerechtfertigter Verdacht schlug mich wie mit einem Hammer nieder. Ich konnte zwar hilflos und lautstark zum Beweis meiner Aufrichtigkeit jenen ominösen Western fordern, aus dem ich angeblich abgeschrieben hätte, wusste ich doch, dass Manfred ihn nicht nachreichen konnte. Aber das Gefecht hatte ich verloren. Ich war erledigt, der Zweifel war mit seiner zum Himmel schreienden Lüge gesät. Von diesem Plagiatsvorwurf würde ich mich nie wieder erholen können; alle Texte, die ich jetzt noch bringen konnte, würden einen Geschmack haben. Ich verlor in der Klasse augenblicklich an Achtung, auch Tscharly ging mir aus dem Weg. In hilflosem Zorn leerte ich während des anschließenden Kunstunterrichts noch mein Tuscheglas über Manfred aus, aber das wurde mir nur als Rachsucht ausgelegt und vom Lehrer mit Nachsitzen geahndet.
Dies alles geschah wenige Wochen vor den Sommerferien, die ich bei meinen Großeltern in Berlin verbrachte und die mir die Chance auf einen Neubeginn boten, da ich ja wegen meiner Leistungen die Schule wechseln und im Herbst in einer neuen Klasse neu beginnen konnte. Mein Erstlingswerk war aber verloren. Ob Manfred, den ich nie mehr wiedersah, es gegen seine Behauptung doch aufbewahrt hat? Vielleicht besitzt er es immer noch. Ich würde ihm aber nicht raten, sich bei mir zu melden: Als ich eben diese Erinnerung schrieb, kochte erneut Wut in mir auf. Nach über vierzig Jahren habe ich ihm noch nicht verziehen.
[… wird fortgesetzt …]