Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus meinem bislang noch unveröffentlichten Roman „Gelbe Stunden“ aus dem „Jahrmarkt in der Stadt“-Zyklus. Er ist eine Vorausveröffentlichung aus meinem demnächst erscheinenden Buch “Noch einmal daran gedacht”.
Ich fand es Anfang der Sommerferien 1977 überraschend beim Herumkramen hinter einer Tapetentür in einem Schrank mit abgelegten Wintermänteln. Das Gewehr war bei meinem letzten Besuch bei den Großeltern im Sommer zuvor noch nicht dort gestanden, das war sicher. Ich hatte es auch vorher noch nie gesehen. Offenbar gab es in dem labyrinthischen Haus noch weitere Lagerflächen, die mir bei meinen systematischen Suchen bisher entgangen waren. Warum der Großvater die Sportwaffe jetzt zusammen mit einer großen Blechdose Munition in diesem Schrank aufbewahrte, habe ich nie erfahren, denn ich hütete mich wohl, ihm von meinem Fund und den daraus resultierenden Ergebnissen zu erzählen.
Ehrfürchtig nahm ich die Waffe in die Hand, vor Freude zitternd. Ich konnte kaum glauben, was ich da entdeckt hatte. Das war keine verkleinerte Faschingsreplik aus billigem Plastik, die man mit enttäuschend leise knatternden Pulver-Plättchen füttern musste, das hier war wirklich ein echtes Gewehr, schwer und kühl lag der Kolben in der Hand. Der Abzug lockte. Hier stand ich – Johnson, der Waldläufer, Johnson, der Held, breitbeinig (und etwas übergewichtig) erwartete ich den Ansturm der Sioux, die das Fort einnehmen und alle skalpieren wollten. Sollten sie nur kommen! Ich hatte eine Kugel für jeden. Ich kippte den Lauf, drückte ihn gegen einen Widerstand nach unten. Mit dieser Bewegung spannte sich auch der Abzug. Ich schob eine von den wie eine Sanduhr geformten Kugeln in den kreisrunden Lauf vor den Hahn. Es knackte mit einem wundervollen satten Geräusch beim Schließen; das hörte sich wirklich wie das Durchladen einer Winchester in einem Western an – meine Waffe war scharf. Ich flüsterte diese Worte: “Meine Waffe …”
Ein seltsam warmes, angespanntes Gefühl wühlte plötzlich in meinem Unterleib, kreiste im Magen, setzte sich wie Durchfall ab in die Gedärme, als ich zuerst im Zimmer umherzielte und dann mit einer Handvoll Kugeln auf den mit einer hohen Steinbrüstung ummauerten Balkon trat, der das Dach der Veranda bildete und zu dem nur ich über mein Schlafzimmer Zugang hatte. Zahllose Bücher aus den Regalen der Großeltern las ich dort, von der Sonne langsam braun geröstet. Diesmal war anderes in meinem Sinn: Ich kniete, nahm das Gewehr in Anschlag. Die schwitzige Wange an dem glatten, hölzernen Kolben, zielte ich auf den alten furchigen Kirschbaum, von dem viele Jahre später mein Großvater bei der Obsternte fallen würde – ein Sturz, von dem er sich nie mehr erholte. Ich sah das Weiße in den Augen meiner Indianerfeinde und schoss. Ein trockener Knall wie das Brechen eines dürren Astes ertönte. Da hinten, an einer anderen Stelle als der, auf die ich gezielt hatte, segelte ein zerfetztes Blatt zu Boden. Aufgeregt lud ich von Neuem. Die nächsten Schüsse trafen aufspritzend die graue Mauer hinter dem Baum, die den Garten zum Nachbargrundstück eines Kohlenhändlers abgrenzte. Die Großeltern hatten wohl nichts mitbekommen, denn beide hörten schlecht. Diese ersten Schüsse lösten in mir ein Gefühl der Macht aus, das ich noch nie empfunden hatte. Schnell rannte ich zurück ins Zimmer und holte die Dose mit der Munition. Anschließend verpulverte ich bestimmt dreißig Schuss, die ich in den Garten hinunter zielend in die Bäume und die Hecken feuerte. Ich kann nicht behaupten, dass mir dabei langweiliger wurde, jeder Schuss war wie ein erneuter Orgasmus. Mir war endlich das mir adäquate Spielzeug in die Hände gefallen.
Und daran sollten auch die anderen teilhaben: Passt auf, ich bringe eine Waffe mit. Ich bin groß!
Das Haus meiner Großeltern, das heute meinem Onkel gehört, liegt in einer kurzen, sich zu einem kleinen Platz erweiternden Sackgasse, die bei einer Tankstelle vom Waidmannsluster Damm abbiegt. Dort lebten 1977 fast nur alte Leute – sozusagen die Urbevölkerung – die man aber nie zu Gesicht bekam. Allein zwei Häuser weiter wohnten nahe Freunde meiner Familie, die zwei Söhne hatten, von denen der Ältere nur wenig jünger als ich war. Mit Holger verband mich eine seltsame Freundschaft, die jedesmal von Neuem geschlossen werden musste, wenn ich wieder einmal nach Berlin kam. Dann aber, wenn bereits nach ein paar Stunden die erste Fremdheit überwunden war, verbrachten wir die gemeinsamen Ferien nahezu unzertrennlich, gingen ins Freibad nach Lübars, trieben uns in der „Freien Scholle“ und im Tegeler Fliess herum und spielten gemeinsam die Abenteuer, die ich mir ausdachte. Dann war das Haus meiner Großeltern ein Raumschiff, der Keller von Holgers Eltern ein Pharaonengrab oder die alte, stillgelegte Borsig-Lokomotive auf dem Spielplatz entführte uns in die Prärie. Die Ferien meines Teilzeitfreundes endeten jedoch meist schon Mitte August, während meine noch vier lange Wochen länger währten – also war ich bald wieder für die meiste Zeit allein.
Im Sommer ’77 waren wir beide längst zu alt für unsere früheren Abenteuerspiele, aber meine Entdeckung des Luftgewehrs überwältigte auch Holger und für den Rest des Tages begaben wir uns zurück in den Wilden Westen. Ich war Johnson, der Revolverheld und Westmann und er war Siosi, Johnsons Indianerfreund, Häuptling der Pueblo-Cheyennes. Kein Baum und kein Zaun waren vor unseren Schießkünsten sicher. Wir ballerten auf Blumentöpfe und Blechdosen, auf Flaschen, Luftballons und auf unsere zerplatzenden alten Plastikcowboys, die wir zu diesem Zweck wieder requirierten. Als wir mutiger wurden, schossen wir auch auf Vögel, die missmutige Hauskatze und die Hasen in den Boxen hinterm Haus – glücklicherweise streute das alte Luftgewehr so sehr, dass wir nie trafen. So ganz trauten wir uns auch nicht, richtig zu zielen. Den Lauf spannen, laden, ihn mit diesem wunderbaren Geräusch zuschnappen lassen, auf irgendetwas zielen und feuern – das wurde uns nie langweilig und die fünfhundert Schuss Munition in der Dose schmolzen wie Eis an der Sonne dahin.
Dann spannte Holger erneut den Lauf und diesmal gab es ein hässliches metallisches Knirschen, mit dem der Metallbügel, der die Luft bisher ins Gewehr gepresst hatte, ermüdet zerbrach. Verblüfft starrte mein Freund auf den Bügel, der schlaff an einer Seite der Waffe herunter hing. Wütend riss ich ihm das Gewehr aus der Hand. Damit löste sich der berühmte letzte Schuss und Johnsons Kugel traf den großen Zeh von Siosi, der seine nackten Füße in braunen Ledersandalen stecken hatte. Knapp unterhalb des Nagels drang das Blei ins Fleisch. Wir sahen uns an – und nichts geschah. Holger schrie nicht, sein Schock war zu groß. Mein Blick rutschte herab. Der Zeh blutete heftig. Jetzt sah auch mein Blutsbruder herab und damit endete die Schmerzunempfindlichkeit des Indianerhäuptlings. Kreischend rannte er zu seiner Mutter ins Haus.
Und der tapfere Cowboy? Der packte eilig sein kaputtes Gewehr, schob die spärliche restliche Munition in die Hosentasche und schlich sich kleinlaut aus dem Garten, umging über einen Umweg durch den Keller die Konfrontation mit den Großeltern und stellte das Luftgewehr einfach wieder zurück an seinen Platz, als hätte es ihn nie verlassen. Dort ruhte es für den Rest der Ferien und ich habe es danach nie mehr gesehen. Im Sommer darauf waren in dem Schrank nur noch Mäntel und Modehefte aus den schwarzweißen 50er-Jahren zu finden.
Holger trug in der nächsten Woche einen dicken Verband um seinen waidwund geschossenen Zeh. Ich weiß heute noch nicht, welche Geschichte er seiner Mutter aufgetischt hat. Unsere Freundschaft litt keineswegs unter meinem peinlichen Mordversuch; ich entschied mich aber in diesem Sommer endgültig, meine Geschichten nicht mehr zu erleben, sondern sie nur noch aufzuschreiben. Ich begann mit dem ersten Kapitel meines selbstredend Fragment gebliebenen SF-Romans „Dem Sieger eine Handvoll Dreck“; den ich mit Zwanzig ins Altpapier entsorgte, als ich wegen einer vernichtenden Kritik entschlossen war, nie mehr etwas zu schreiben
Das ist allerdings eine andere Geschichte …
[… wird fortgesetzt …]