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Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – Prolog (3)

Der Weg, der in den Tag führt
Teil 2: Pardais

[Zum ersten Teil …]

Endlich bewegte sich Esda. Es war der wie Feuer brennende Ring aus Schmerz, der um die Knöchel ihres linken Beines loderte, der sie schließlich zurück ins Leben brachte. Sie konzentrierte sich und setzte sich ruckartig auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die spiegelglatte Seitenwand.

»Das ist kein durch eine Laune der Natur entstandener Felsspalt, in dem ich mich befinde«, dachte sie, als ihr die Glätte der Wand hinter ihr mit dem Erwachen ihrer Lebensgeister bewusst wurde und ihr Verstand wieder die Kontrolle übernahm. Sie tastete zurück und erspürte mit ihren Fingernägeln die schmalen Einkerbungen zwischen den Fliesen, gegen die sie gerade ihren Oberkörper stützte. Dann versuchte sie, ihre verklebten Lider zu öffnen und stellte kopfschüttelnd fest, dass sie sie schon die ganze Zeit offengehalten hatte. Sie schloss sie und presste die Flächen ihrer Daumen gegen ihre Augäpfel, erzeugte dadurch flackernde Lichter und platzende Farbbälle auf ihrer Netzhaut.

»Ich bin nicht blind«, stellte sie beruhigt fest, »in diesem Loch ist es nur stockdunkel.« Sie hatte in der Finsternis keine Angst, denn in den vielen Jahren, in denen die Sammlerin schon in der Tiefe nach Artefakten suchte, hatte sie sich oft als ein Freund und Helfer erwiesen. Um sie herum gab es nichts Bedrohliches mehr und sie war auch nicht mehr in Gefahr. Das spürte sie.

Esda griff leichtsinnig zu ihrem Gürtel nach ihrer treuen Dynamo-Taschenlampe und schnitt sich an zerbrochenem Glas in den Finger. Ihr Licht war für den Augenblick nur noch Schrott, denn sie erfühlte nun vorsichtiger das zerplatzte Glühlämpchen. Sie hatte Ersatz dabei, würde ihn aber im Dunkeln nur schwerlich in ihrer Tasche finden und auswechseln können. Sie seufzte laut und sich sich selbst hören. Gut, nun kamen auch ihre Ohren wieder in Ordnung. Als sie jedoch versuchte, aufzustehen, jagte ein wütender, aufbrausender Schmerz von ihrer Verätzung an den Fesseln durch das ganze Bein empor bis in den Unterleib. Sofort quollen ihr Tränen aus den Augen und sie blieb schwindlig liegen. Nach einer Weile ließen die Schmerzen wieder etwas nach. Wie ernsthaft ihre Verwundung war, konnte Esda nicht abschätzen, ohne sie in Augenschein nehmen zu können. Sie traute sich nach der Erfahrung eben nicht, nach ihr zu tasten. Aber sie hatte bereits einige dieser Verletzungen gesehen und behandelt, die die Säure der Hâmidi-Echsen verursachten. Sie wusste, dass sie oft schrecklich waren und sich immer weiter ins Fleisch und dann auch durch die Sehen und die Knochen fraßen, wenn die Wunde nicht schnellstens und sorgfältig gereinigt wurde.

Voller Selbstmitleid fielen Esda ihre Zwillinge Aaha und Behara und ihre Eltern ein, die sich sicherlich schon Sorgen um ihre inzwischen längst verspätete Tochter machten. Aber dieser Gedanke gab ihr auch die Kraft, weiterzumachen und nicht zusammengekauert und weinend auf das Ende zu warten. Wenn sie schon nicht laufen konnte: Auf allen Vieren kriechen, das konnte sie und es gab nur eine einzige Richtung, in der sie sich fortbewegen konnte; nämlich tiefer in den engen Seitengang hinein, der hoffentlich einmal ein Versorgungstunnel für die alte Untergrundbahn der Vergangenen Menschen gewesen war. Sie war zwar nun an dieser Stelle durch die Detonation der Sprengfalle der Arbeitsamen und den anschließenden Einsturz verschüttet und hier für die Bewohner von Es Sakrat bis auf weiteres nicht mehr passierbar, aber vielleicht gelangte Esda ja über den Zugangstunnel in einen Bereich des unübersichtlichen, vielstöckigen Grubenbahn-Systems, der ihr bekannt war und sie heimführte. Wenn er nur nicht zu einer der gewaltigen Bunkeranlagen der sich bekämpfenden Roboterarmeen führte!

»Oder blind ist und plötzlich an einer massiven Wand endet«, wie sie erschrocken dachte, als sie nach ein paar hundert Metern anstrengender Kriecherei quer durch die Nacht und handbreiten Staub auf eine Metalltür stieß. Sie ließ sich jedoch mit leichtem Druck und erstaunlich leicht öffnen, als würde sie regelmäßig geölt.

Esda rutschte über den leicht erhöhten Türrahmen und kniff sofort geblendet die Augen, denn wie an vielen Stellen in dem Höhlengang funktionierte auch hier noch die Beleuchtung der Vergangenen. Beim Überschreiten der Schwelle wurde ein Kontakt ausgelöst. Mit einem trockenen Knistern gingen die grellen Deckenleuchten an. Der Raum, in dem sich die Sammlerin nun wiederfand und sich neugierig umsah, nachdem sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, war nicht groß und mit vielen Holzkisten bis zur niedrigen Decke hinauf voll gestellt. Die Stapel bildeten vier Gänge. An den Wänden standen noch einige verstaubte und leere Eisenregale der Vergangenen und rosteten still vor sich hin. Wofür auch immer die Menschen der Vorzeit vor tausenden von Jahren diesen Ort verwendet hatten, er diente nun als ein Lager der Arbeitsamen.Ein nicht allzu starker, aber aufdringlicher und ekelhafter Geruch nach Verwesung und saurer Milch lag hier in der Luft und würgte in Esdas Kehle. Er war charakteristisch für die sogenannte „Milch des Vergessens“, die die Arbeitsamen bei ihren Westri-Bärchenrindern molken. Stark verdünnt – ein Tropfen genügte auf einen halben Liter Flüssigkeit – war diese Milch ein beliebtes hochprozentiges alkoholisches Getränk, in seiner reinen Form aber ein starkes Nervengift, das abhängig machte und die Gehirne schmolz. Wahrscheinlich wurde in einigen der Kisten hier unten frisch gemolkene „Milch des Vergessens“ gelagert.

Zu Esdas Glück hielt sich außer ihr niemand in dem Raum auf. Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, war allerdings auch nicht allzu groß; denn obwohl die Sammlerin keine Ahnung hatte, wie spät es inzwischen war, vermutete sie, dass die Sonne längst untergegangen und im Tal unterhalb des Stadtberges von Es-Sakrat die niemals endende Schlacht der Roboterarmeen tobte. Die meisten Arbeitsamen hatten sich inzwischen bestimmt zur Ruhe begeben und ihre Anführer beobachteten gebannt von der Aussichtsplattform an der Alyasar-Spitze des steilen Gipfels über der Stadt die Bewegungen der Flugmaschinen am Himmel, deren Bordwaffen unablässige Zerstörung herabregnen ließen. Auf diese Weise sagten sie die Zukunft vorher.

Allerdings konnte man sich bei diesen abgestumpften Irren, denen der Genuss der Milch ihrer Westri den Verstand geraubt hatte, nie sicher sein. Esdas Situation konnte sich jederzeit ändern, denn die Explosion der Sprengfalle und die anschließende Erschütterung musste trotz des ewigen Krieges oben in den Häusern der Arbeitsamen laut und deutlich zu hören gewesen sein. Jederzeit konnte einer von ihnen durch die zweite, der ersten gegenüber liegende Tür eintreten und Esda gefangen nehmen – wenn er die Ertappte nicht gleich auf der Stelle erschlug. Und das wäre sogar noch das günstigere Los gewesen, denn im anderen Fall würden die Arbeitssamen sie unzweifelhaft ihrem schrecklichen Gott Sadon opfern, der irgendwo in den Tiefen nach Blut und Opfergaben gierte.

Aber auch wenn sie jeden Augenblick durch einen Wächter entdeckt werden konnte, hatte Esda keine andere Wahl: Sie musste vorerst in der trügerischen Sicherheit des Lagerraums bleiben. Das Gute an ihrer Lage war, dass es von dort draußen vor der Tür mit Sicherheit einen Weg zurück nach Es Sakrat geben musste; auch wenn er wahrscheinlich von den Arbeitsamen gut bewacht wurde. Wenn sie sich ihnen stellen wollte, musste sie aber gut ausgeruht sein und ihre Verletzung behandeln.

Sie zog die Tür zu dem schwarzen Tunnel, durch die sie in das Lager eingedrungen war, hinter sich zu und rutschte hinter einen der Kistenstapel, wo sie nicht sofort entdeckt werden würde, wenn jemand hereinkam. Sie klopfte oberflächlich den Dreck von ihrer Kleidung ab.

»Ich muss ja wie ein Erdmännchen aussehen«, dachte sie. Aber es gab wirklich wichtigeres als schmutzige Haare. Sie krempelte behutsam ihr linkes Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung an ihrer Fessel. Der zwei Finger dicke, blutige und wunde Streifen, der ihre Fußknöchel umschloss, eiterte und tat höllisch weh, sah aber nicht ganz so schlimm aus, wie sie befürchtet hatte. Der Nesselarm der Hâmidi-Echse hatte sie nur kurz umklammert und wenig von seiner ätzenden Säure auf ihre Haut getropft. Wenn sie die Wunde schnell reinigte, würde wohl außer einem hässlichen Narbengewebe kein weiterer Schaden zurückbleiben, denn ihre Sehnen und Knochen, mit denen sie ihren Fuß unter Schmerzen bewegen konnte, schienen ihr noch nicht angegriffen zu sein – noch nicht zumindest …

[Zum 4. Teil …]

Der Beginn der Geschichte:

Der Weg, der in den Tag führt
Teil I: Karukora

Als Taschenbuch oder günstiges E-Book, 380 Seiten, illustriert

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