Heute hat ein guter Freund von mir Geburtstag; ein Freund, den ich in den letzten Jahren leider etwas aus den Augen verlor (oder er mich, wie man es auch betrachten will). Selbst wenn wir uns leider in vielerlei Hinsicht voneinander entfernt haben: HD, ich denke heute an dich und feiere schön dort oben in deinem niederbayerischen Paradies zusammen mit 264 rothaarigen Feen! Den Prosecco habe ich schon auf Eis gelegt.
Du weißt es: Diese Geschichte habe ich dir gewidmet.
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Es folgt nun ein Capriccio im literarischen Stil meines Freundes Hans-Dieter Heun aus meiner umfangreichen Texthalde. Ich weise in diesem Zusammenhang noch einmal auf seine Romane hin, die wirklich humorvoll und lesbar. Und schon lasse ich wie automatisch das Hilfszeitwort am Ende des Satzes weg; eine Auslassung, die den Heun’schen Stil maßgeblich prägt und unverwechselbar macht. Ich kann eben nicht nur Balzac nachmachen.)
Der Oktopus
Ein Capriccio(1) ala Heun
Ein Vorzug meines Rentier-Lebens (das ist jetzt nicht mit Rentier-Fleisch zu verwechseln, das zäh und tranig – ganz anders als der Rentier auf Tabor, wo zu wohnen ich das wohl verdiente Schicksal habe) ist das Glück, für und mit Freunden zu kochen – mit ihnen den besonderen Augenblick: den einen Schluck, den einen Bissen teilen. Wenn dann mein lieber Freund und Trauzeuge – fast hätte ich Kupferstecher gesagt -, nämlich der bekannte Autor Nikolaus M. Klammer, seinen Besuch zu Silvester ankündigt: Dann ist dies des Glückes fast zu viel. Aber ist nicht jeder seines Glückes Koch?
Nichts weniger als ein Silvestermenü sollt’s also sein – und ein besonderes dazu. Der Herr Kupferstecher ist nicht allem Fleischlichen abhold, kaut es aber nur ungern zwischen den Zähnen (wenn es einmal tot), jedoch ist er nicht bayerischer als der Papst und neben den Früchten des Ackers auch denen des Meeres zugeneigt – isst also neben Obst und Gemüse immer wieder einmal alles, was schwimmt. Da ich nicht erneut ein Zicklein in den Teich hinterm Haus werfen wollte – die armen Goldfische sind vom letzten noch durcheinander – ließ ich mir vom Münchener Großmarkt in aller Herrgottsfrühe einen hundsgemeinen Oktopus besorgen, der sich allerdings als sau-gemein herausstellte.
ERSTES GEDICHT VOM OKTOPUS
Ein Oktopus, ein Oktopus,
acht Arme hat er und kein’ Fuß,
ist die Speise, die man servieren muss.
Denn glücklich wird ein jeder Tisch,
belädt man Teller mit Tintenfisch.
Ein Oktopus, ein Oktopus,
ist ein wahrer Hochgenuss,
wenn er zart wie ein Zungenkuss.
Wird er dir gelingen,
werden deine Freunde Hymnen singen.
So, nach dieser lyrischen Einlage tun wir was für die Bildung: Die fälschlich als Polypen bezeichneten Kraken – Octopoda vulgaria – italienisch Polpo – gehören zur Familie der Kopffüßer und sind nicht mit Kalmaren oder Tintenfischen zu verwechseln … Sie wissen schon, jenen schlabberigen, fetttriefend frittierten Gummireifen, die Sie gemeinsam mit matschigem Majonäse-Knoblauch-Brei beim Italiener um die Ecke serviert bekommen.
Die lernfähigen Achtfüßer haben bezeichnenderweise 8 (in Worten: Acht) Arme und erreichen eine Gesamtlänge bis über 4 Meter. Für Bodenhaftung auf glatten Flächen sorgen reihenweise Saugnäpfe. Oktopussy ist ein nachtaktiver Einsiedler und labt sich an Krebsen und Muscheln, der alte Feinschmeck, der … Er kann sich farblich der Umgebung anpassen und, wenn er sich nicht festgesaugt hat, pfeilschnell sein (wir reden noch vom Kraken und nicht von der Erbschaftssteuer). Die ältesten Vertreter der achtarmigen Tintenfische tauchten vor etwa 264 Millionen Jahren auf. Genug der Bildung. Merken Sie sich die Zahl Acht. Das genügt.
Während am frühen Nachmittag der Besuch nebst meiner Gattin im Thermalbad zu Bad Birnbach bei 34° warmem Wasser pochierte, hatte ich Ähnliches mit dem achtarmigen Mittelpunkt der heutigen Tafel im Sinn.
Falls Sie alles nachkochen wollen (aber lesen Sie auf jeden Fall vorher zu Ende): Man nimmt den Kraken, spült ihn und schneidet den Kopf ab, was nicht ganz einfach, denn er sitzt zwischen Armen und Körper. Den Kopf wirft man weg (oder kocht ihn mit und erfreut später mit ihm diese Mistviecher von Katzen in der Gegend). Vom Sack zieht man die Haut ab, stülpt ihn um und entfernt die Innereien. Das Kauwerkzeug zwischen den Fangarmen wird ebenfalls herausgeschnitten.
Fischer schlagen den Kraken nun gegen brandungsumbrauste, salzüberkrustete Felsen. Dem Oktopoden fehlt jedes stützende Skelett, deshalb haben seine Arme (8 Stück!) ein Eiweißgerüst aus elastischen und verzweigten Proteinen, die dem Bindegewebe von Landtieren ähneln. Durch die Gewalt platzende Zellen setzen Enzyme frei, die die Eiweißfasern zerschneiden und den Kraken zarter machen. Wenn wir das Eiweiß so behandeln, dann wird eine Delikatesse daraus. Da ich nur wenige Felsen mein Eigen nenne, klopfte ich meinen Oktopoden über dem Rand der Wanne im Badezimmer windelweich. Sie können diese Arbeit auch auf Ihrer Küchenplatte, der edlen Travertinstein-Terrasse oder an den Säulen Ihres Vestibüls erledigen; wichtig ist, dass Sie wirklich brutal und rücksichtslos.
Haben Sie auf diese Weise Oktopussy fix und fertig gemacht, schneiden oder zerschnipseln Sie 4 Karotten, 1 Zwiebel, ¼ Sellerie, eine Stange Lauch, ½ Fenchel und bringen alles in einem schweren Topf mit ca. 1 ½ l Wasser, ¾ l trockenem Weißwein, 4 Lorbeerblättern und 4 kleinen scharfen Chilischoten zum Kochen. Manche Köche legen noch alte Weinkorken ins Kochwasser, sie sollen feste Verfilzungen und Gummitextur des Fleisches verhindern. Am wichtigsten ist, einen Oktopus sanft zu dünsten oder knapp unter dem Siedepunkt zu pochieren, damit sich die Proteine langsam auffalten, lockere Netze bilden und Wasser binden. Sie können alle Techniken kombinieren, entscheidend ist die sensible Temperatursteuerung. Und lassen Sie sich drei bis vier Stunden Zeit – mindestens.
Kommen wir zur Katastrophe: Der Begriff Krake kommt aus dem Norwegischen und bezeichnet ein Seeungeheuer, das trinkfeste Seeleute im Mittelalter entdeckten. Vieles spricht dafür, dass Homer in der Scylla einen Kraken beschrieb.
Meine Scylla entpuppte sich als würdiges Monster! Während ich sie vorsichtig köcheln ließ, wurden die acht Arme nicht weicher, sondern kleiner – schrumpelten wie der beste Freund des Mannes nach einem Sprung in eiskaltes Wasser. Ursprünglich über einen Meter groß (der Krake, nicht der Freund), war der saugemeine Oktopus nach einer Stunde im Topf um die Hälfte geschrumpft!
Das war kein Hauptgericht mehr, der Oktopus disqualifizierte sich zur kleinen Vorspeise. Aber ein Koch, der sich nicht zu helfen weiß, ist keiner. Der Freund und die Gattin planschten noch einige Stunden im Lauwarmen – genug Zeit, umzuplanen: Tintenfischrisotto oder ein leckerer Salat ließ sich aus dem Tierchen auf jeden Fall noch gewinnen, wenn es nur endlich Mitleid mit mir hätte und sich erweichen würde. Ich eilte in den Keller, die Vorräte kontrollieren. Vielleicht musste ich einem im Eisschrank tiefgefrorenen Hasen das Schwimmen beibringen, damit jener den Tag rettete.
Als ich wieder in den Topf sah, zog es mir buchstäblich die Schuhe aus: Erneut war der Krake geschrumpft, hatte die Größe eines gewöhnlichen Kalmaren – und war noch immer nicht weich. Das Tier machte sich lustig über mich, den Chef de Cuisine, den Maître!
Na warte! Ich schob meine weißen und gelochten Latschen zur Seite, spürte die kühlen Terrakotta-Fließen unter meinen ausladenden Fußsohlen. Ich erdete mich. Das war ein Zweikampf: Der größte Koch der Welt gegen den Kraken – da konnte es nur einen Gewinner geben. Zum Amuse-Gueule reichst du noch, dachte ich, das »freut das Maul«. Dich krieg’ ich weich – windelweich!
Wie die meisten Schriftsteller konnte man Nikolaus mit der Witwe Clicquot oder dem Baron Rothschild ablenken, bei den Damen war das schon schwieriger! Ich sah bereits den halblächelnden Blick meiner Holden auf mir lasten, mit dem sie mitleidig die Reste des Kraken begutachten würde: Nein, jetzt musste eine zündende Idee her.
ZWEITES GEDICHT VOM OKTOPUS
Oktopus, oh Oktopus,
was ich mit dir erleben muss.
Oktopus, oh Oktopus,
du bereitest nur Verdruss.
Oktopus, oh Oktopus,
jetzt ist aber endlich Schluss.
Ach, Oktopus, nun werd’ schon weich,
landest sonst gleich
als Futter bei den Fischen im Teich.
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Wieder verging eine Stunde, dann sah ich erneut nach dem Kraken. Es roch verführerisch in der Küche. Ich nahm einen Schaumlöffel, fischte nach dem unbeugsamen Monster. Sie werden es nicht glauben, aber ich lege meine Hand ins Feuer, denn ich lüge oder übertreibe nie:
Im Topf schwammen Karotten, Zwiebeln, Sellerie, Lauch, Fenchel, Lorbeerblätter, Chilischoten und sonst – nichts. Der Krake hatte sich einfach in Luft oder besser gesagt, in Wohlgeschmack aufgelöst … Wobei, das stimmt nicht ganz: Tief unten, unter dem Gemüse, auf dem Boden des Topfes, lag eine Kugel aus lila-schwarzer Materie, hart wie eine Glasmurmel und tonnenschwer. Es war unmöglich, den Topf anzuheben oder sie mit einer Schöpfkelle herauszufischen. Die acht Arme hatten sich wie die Milchstraße ineinander gedreht und dabei in ein schwarzes, materieschweres Loch verwandelt. Ich fühlte mich, als würde ich hineingezogen und hätte mich dort am Liebsten für alle Ewigkeit und noch länger versteckt.
»Was gibt es heute Abend Leckeres?« Meine Frau stand in der Küchentür, schnupperte. Frau Klammerle und mein Freund und Trauzeuge schoben sich hinter ihr herein.
»Die Sauna macht hungrig«, rief er.
»Suppe«, sagte ich, »leckerste Oktopussuppe, das Beste, was es gibt. Das gibt es auf keiner Speisekarte der Welt. So eine einmalige Köstlichkeit kriegst du nur bei mir. Mein Potage beschert sogar Mumien feuchte Träume.«
Und – glauben Sie’s mir oder nicht – ich hatte recht!
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(1) Bitte nicht mit einem „Carpaccio“ verwechseln, das sind zwei grundverschiedene Dinge.