Alice Munro hat heute Geburtstag. Ich habe vor ein paar Jahren nach der Vergabe des Literaturnobelpreises an die kanadische Autorin neugierig in meiner hinteren Wohnzimmerbücherwand gesucht und wurde zu meinem Erstaunen an ungünstiger Stelle hinter dem Sofa zwischen weiteren mehr oder weniger prominenten Namen fündig.
Beim Herausziehen des Bandes musste ich erst einmal eine ordentliche Staubschicht vom Kopfschnitt blasen. Das verwendete billige Papier war an den Rändern gelb nachgedunkelt und daher wirkte das Taschenbuch wesentlich älter als die dreißig Jahre, die es trotz vieler Umzüge die meiste Zeit relativ ungestört und in Frieden in dem Regal ruhte, nur ab und an etwas nach rechts oder nach unten rutschen musste, weil ein neuer Band alphabetisch korrekt eingeordnet sein wollte. (1) Mein leicht ramponiertes Taschenbuch des Werks stammt aus dem Jahre 1983 und ich habe es wohl Mitte der 80er gelesen, was an den gleichmäßigen Knicken im Buchrücken erkennbar ist. Damals pflegte ich diese Marotte, ein Buch exakt alle 50 Seiten aufzuknicken und ich will jetzt keine Kommentare über neurotische Zwangshandlungen hören.
Der Band, der zwar 1998 und 2005 noch eine Neuauflage bekam, ist heute, wenn überhaupt, nur noch antiquarisch erhältlich und wird bei Amazon als zerlesenes Exemplar ernsthaft für 30 €(!) angeboten.(2) Es ist aber zu erwarten, dass es demnächst zu einem Nachdruck kommt. Mit einem Nobelpreisträger ist nur zeitnah Verdienst zu machen; nach zwei Wochen ist er vom Publikum bereits wieder vergessen. Oder wer kauft heute noch Bücher von Mo Yan oder gar Tomas Tranströmer (falls sich überhaupt noch jemand an den Lyriker erinnert)?
Mir geht es ähnlich: Ich hatte jahrzehntelang kein Interesse an der Munro, obwohl sie mir doch mit ihrem Beharren auf der kurzen Form sympathisch ist, die ja im Gegensatz zum Roman eigentlich eine zeitgemäße, aktuelle ist. Sie hat einen einzigen, lange Zeit ebenfalls nur antiquarisch erhältlichen Roman geschrieben: »Kleine Aussichten«(3).
Wäre die Autorin nicht plötzlich durch das schwedische Komitee geadelt worden, hätte ich »Das Bettlermädchen« aus Platzgründen demnächst im Bücherschrank im Augsburger Hofgarten ausgesetzt.
Alice Muro
Das Bettlermädchen
Ullstein-Taschenbuch, 1983
Auf der Rückseite dieses extrem billig produzierten, broschierten Bandes, der außer der Titelstory noch neun weitere Kurzgeschichten um ihre Protagonisten Rose und Flo versammelt, also auch als Episodenroman gelesen werden kann, wird die Munro noch als junger, aufstrebender Stern beschrieben. Es werden Joyce Carol Oates (deren Literatur, wenngleich leicht trivialer, der Munro’schen doch recht nahe kommt) und eine Journalistin der Zeit zitiert. Die erste lobt sie mit Worten, als würde sie über sich selbst schreiben (was sie vielleicht auch tat), die andere schmeißt mit den üblichen nichtssagenden Worthülsen aus meinem Kritikerhandbuch um sich: »Wie kann man lieben, wie kann man leben, warum handelt man so und nicht anders? Es sind beunruhigende Erzählungen voller Zweifel und Melancholie, aber auch voll Selbstironie und Witz.« Darüber zeigt ein Schwarzweißfoto die inzwischen greise Autorin als energische Vierzigjährige, deren »Frisur« sich seit damals nur farblich verändert und eingegraut hat.
Warum ich das erzähle? Nun, ich kann mich absolut nicht mehr an diese zehn Geschichten erinnern. Nicht einmal eine Ahnung oder ein Geschmack sind übrig. Viele Bücher hinterlassen auch nach Jahrzehnten einen Stempel im Gedächtnis, »dass man ihre Luft noch atmet, in ihrem Rhythmus noch schwingt, auch wenn ihr Inhalt, Fabel und Szene längst in der Erinnerung verblasst ist«, um einmal den großen Jakob Wassermann zu zitieren. Munros Short-Storys erreichten das bei mir nicht, sie drückten mir keinen Stempel auf. Ich habe sie gelesen und vergessen, sogar das Buch verschwand aus meiner Erinnerung, bis ich es in meinem Regal wiederfand. Ich habe probeweise die erste Geschichte »Eine fürstliche Abreibung« gelesen, doch ihr Inhalt war absolut neu für mich: Sie erzählt vom erfolglosen Versuch Flos, erzieherisch auf ihre Stieftochter Rose einzuwirken und leidet ansonsten darunter, die erste einer Reihe zu sein, also erst einmal eine Vielzahl an Figuren einführen zu müssen.
Daher werde ich meinen Essay
Ausführliche Handreichung, wie man eine Kritik schreibt,
ohne das Buch gelesen zu haben
abwandeln müssen:
Ausführliche Handreichung, wie man eine Kritik schreibt,
ohne das Buch gelesen zu haben,
oder sich absolut nicht mehr erinnern kann,
das Buch jemals gelesen zu haben
Genau das habe ich heute getan.
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(1) Inzwischen scheue ich bereits den Kauf von Autoren, deren Namen mit ‘A’ oder ‘B’ beginnen, weil ich sonst zwei Stunden mit Bücherrutschen beschäftigt bin.
(2) Falls jemand diesen Band für 29,99 € + Porto bei mir erwerben will: E-Mail mit Adresse genügt.
(3) Dieser Satz taucht in allen Agenturmeldungen und Kommentaren auf, er hat allerdings immer ein verächtlich machendes, herablassendes Wörtchen mehr, das deutlich macht, dass Kurzgeschichten in Deutschland nicht geschätzt werden, weil das Vorurteil besteht, der Autor hätte sich keine Mühe gegeben: »Alice Munro hat nur einen Roman geschrieben«. Hierzulande zählen allein Romane; der Deutsche Leser achtet wie immer auf das Preis-Leistungs-Verhältnis, das ihm nur bei fetten Erzählungen oder bei einer von einem unfähigen Ghostwriter verfassten Sch***-Autobiografie wie der von Herrn Becker stimmig scheint. »Man vergisst in Deutschland nichts geschwinder als gute, weise und verständige Bücher.«