Das goldene Kalb – Teil 9

Martin wurde kalt und er schluckte zweimal.

»Du hast ihn gesehen? Wie sah er aus?«, fragte er eilig. Endlich kam einmal etwas Konkretes. Wenn ihm Schiller jetzt eine gute Beschreibung lieferte, dann konnte er sicher die Identität des Mörders herausfinden. Aber der junge Freund des Architekten enttäuschte ihn.

»Es war leider dunkel und der Kerl hatte es wirklich eilig. Er rannte, als wären die Furien der Hölle hinter ihm her. Ich stand außerdem auf der anderen Straßenseite. Wie soll ich ihn beschreiben? Weißt du, er war nicht sehr groß, so Eins Siebzig, oder so … ein bisschen bullig, durchtrainiert, würde ich sagen, vielleicht war auch nur die Jacke ausgestopft. Er trug so ein ärmelloses, gepolstertes Ding über dem Pulli. Wie nennt man die? Diese Teil, das die Rednecks immer in den Ami-Filmen anhaben. Sonst, ich weiß nicht …«

»Gesicht? Haarfarbe?«

»Keine Ahnung, ehrlich. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Er ist Richtung Innenstadt gerannt. Und dann bist ja auch schon du aus der Tür gestürmt. Da war er aber schon aus der Sichtweite. Ich hätte eh keine Chance gehabt, ihm hinterher zu kommen. Ich habe mich entschieden, lieber weiterhin dir zu folgen.«

»Würdest du ihn wiedererkennen?« Martin fragte ohne viel Hoffnung und wie er erwartet hatte, schüttelte Schiller den Kopf. Trotzdem war diese Beobachtung wichtig, Schiller würde im Notfall Martins der Geschichte bestätigen können. Zumindest konnte er bezeugen, dass noch eine Person an der Sache beteiligt war. Er glaubte den Worten des jungen Mannes. Dass er den Mörder gesehen hatte, war eindeutig. Dass dieser kräftig war, passte in das Bild von jemandem, der einem bestimmt nicht wehrlosen Opfer so ohne weiteres die Kehle mit einem Küchenmesser durchschnitt.

Eine Weile schwiegen die beiden, Martin nachdenklich und Schiller mit den Resten seines Essens beschäftigt. Schließlich kam die Bedienung an den Tisch, um zum Abkassieren, weil das Lokal bald schloss. Martin war Schiller noch etwas schuldig und lud ihn ein, obwohl der boyfriend von „Heiner“ bestimmt mehr Geld zur Verfügung hatte als er selbst. Die beiden verabschiedeten vor der Tür des Lokals und verabredeten sich, am nächsten Vormittag gemeinsam zu Haschek zu gehen. Martin brauchte Schillers Aussage, die zumindest nahelegte, dass er kein Mörder war. Zudem fand er es richtig, den jungen Mann zu unterstützen. Ihn einfach sang- und klanglos abzuservieren, das war kein sympathischer Zug des Architekten.

Auf dem langen und einsamen Nachhauseweg – um diese Uhrzeit fuhren keine Straßenbahnen mehr in die Innenstadt – spürte er bei jedem Schritt, wie müde er war. Er brauchte dringend ein paar Stunden zu Schlaf. Es war an der Zeit für ihn, den Mord Mord sein zu lassen und ins Bett zu gehen, die ganze unerfreuliche Angelegenheit für eine Weile zu vergessen.

Endlich wieder in der Jakober Vorstadt angekommen, ging er geradewegs nach Hause, diesmal selbstverständlich zur Vordertür herein. Als braver Mieter verschloss er sie hinter sich. Er betätigte den Schalter, aber das Ganglicht war kaputt. Wahrscheinlich sparte der Hausmeister wieder einmal Strom. Vorsichtig tastete sich Martin das düstere Treppenhaus empor, in das nur an den Absätzen durch die Außenfenster ein wenig gelbes Licht von der Straße herein fiel. Er hatte bestimmendes und mächtiges Déjà-vu und eine Vorahnung machte ihm Angst. Sein Magen zog sich zusammen. Er hoffte inständig, dass keine blutende Leiche in seiner Wohnung lag. Auf dem letzten Treppenabsatz vor der verschlossenen Wohnungstür war es mit dieser Empfindung vorbei und er schalt sich einen Idioten. Das war nur Zufall und keine Falle. Woher sollte der Mörder wissen, wo er wohnte? Kopfschüttelnd schrieb Martin seine Furcht seiner Müdigkeit und seinem stark angegriffenen Nervenkostüm zu. Er holte seinen Schlüssel aus der Tasche und stocherte mit ihm blind an der Wohnungstür herum.

Dann ging alles viel zu schnell für ihn. Jemand packte Martin von hinten mit beiden Armen am Hals und zog ihn mit einem gekonnten und kräftigen Griff zurück, drückte ihn gewaltsam gegen den Oberkörper. Der Schlüsselbund fiel scheppernd zu Boden. Martin ruderte voller Panik mit Armen und Beinen in der Luft, um sich zu befreien. Der Griff wurde fester und ihm blieb die Luft weg. Er röchelte und knickte ein, wurde aber von dem Angreifer in der Höhe gehalten. In diesem Augenblick glaubte er wirklich, dass er erledigt war und, seltsam, mit dieser Erkenntnis wurde er ruhig. Der Mann hatte hier einfach auf ihn gewartet, bis er endlich nach Hause kam, hier an der Treppe. Vorher hatte er bestimmt die Sicherung herausgedreht. Martin wurde übel.

»Ganz still!«, zischte eine Stimme, die er noch nie in seinem Leben gehört hatte, da war er ganz sicher. Er versuchte vergeblich, den Kopf zu wenden, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der hinter ihm stand und ihn im Schwitzkasten hielt. Es war ihm nicht möglich. Der Würgegriff war zu fest und es war wohl auch zu dunkel.

»Sei bloß still«, wiederholte der Angreifer und lockerte seine Arme ein wenig. Gerade so viel, dass Martin nicht erstickte. Gierig nach Luft röchelnd atmete er ein. Er tastete mit der Hand vorsichtig nach hinten und fühlte. Der Kerl schien eine gepolsterte Lederjacke zu tragen. Er fuhr weiter nach unten, hatte wohl im Sinn, ihn im Schritt zu packen und ihm ein wenig die Eier zu quetschen. Leider bemerkte der Mann Martins Vorhaben, der Griff wurde wieder fester.

»Keine Tricks, oder ich drück dir die Luft endgültig ab. Klar?«

Martin wusste nicht, ob er seinen verunglückten Versuch, eifrig zu nicken, verstand. Also gurgelte er ein paar zustimmende Laute. Der Mann kam mit seinem Mund ganz nah an Martins Ohr. Er konnte das Rasierwasser des Angreifers riechen, dessen Duft eine ganze Menge in seinem Gehirn in Bewegung setzte. Es entstand wieder etwas Panik in ihm.

»Hör zu«, sagte der Mann mit gefährlich leiser Stimme. Die Kraft, mit der er sein Opfer hielt, war ihm kaum anzumerken. »Du willst doch nicht, dass wir deine Nachbarn stören. Und ich sage das nur ein einziges Mal. Weil du uns nicht unsympathisch bist und wir dir nichts tun wollen.«

UNS? Der Mörder sprach in der Mehrzahl?

»Die Angelegenheit ist zu groß für dich. Halte dich da einfach raus. Vergiss Haschek und die unerfreuliche Sache bei Sonnenheim.« Martin kannte diese Worte, bevor der mann sie ausgesprochen hatte. Er hätte sie auswendig mitsprechen können. Er fühlte sich, als wäre ich plötzlich in einer durchschnittlichen Tatort-Folge gelandet. Warum legte der Mörder – denn der musste sein Angreifer sein – ihm nur solch einen melodramatische Philip Marlowe-Bösewicht-Auftritt hin?

»Hast du verstanden?« Er löste seinen Griff und trat einen Schritt zurück. Martin fiel auf die Knie und fasste sich an den Hals, atmete hektisch.

»Verstanden?«

Sein Antwort-Ja kam etwas krächzend. Aber er dachte gar nicht daran, dem Mann zu gehorchen. Flink richtete er sich auf und wand sich halb herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. Der Mörder schlug präzise zu, erwischte genau den Punkt am Kinn. Nein, Martin hat ihn nicht gesehen. Es war dunkel und der Angreifer nur ein verwaschener Fleck in der Finsternis. Der harte Schlag, der nach viel Übung aussah, ließ Martin herumwirbeln. Er fiel gegen seine Wohnungstür, dann erst spürte er den Schmerz. Er fragte sich, wie manche Boxer es schafften, so einen Punch wegzustecken und weiter zu kämpfen. Er jedenfalls gehöre zu diesen Typen. Für ihn war erst einmal Feierabend. Er rutschte an der Tür herab und litt.

Sein Gegner rannte stolpernd das Treppenhaus hinunter, dann rumpelte er zu seiner Überraschung schwer gegen die Haustür, die Martin vorher abgeschlossen hatte. Dieses Geräusch machte ihn wieder etwas munterer. Er rappelte sich auf und folgte dem Mörder. Dass er nicht wie vor einigen Stunden in dem Gebäude in der Frölichstraße über die Stufen fiel und sich den Hals brach, war wohl mehr ein glücklicher Zufall als Ortskenntnis. Dass er über die letzte Stufe dann doch fiel und zwar hart auf schwere Steinfliesen, das war das Werk seines Gegners, der ihm seinen Fuß gestellt hatte. Diesmal war Martin endgültig erledigt und entschied sich, liegen zu bleiben und sich tot zu stellen. Der Tritt des Mörders in meine Seite war also vollkommen überflüssig. Aber er trat trotzdem weh. Dann probierte der Kerl die Hintertür und die war offen. Martin konnte konnte seine Gestalt noch im Türrahmen sehen. Der Mann klein und bullig, passte also auf Schillers Beschreibung.

Martin wusste später nicht mehr, wie lang er auf dem kalten Steinboden lag, aber nach einer Weile wurde ihm dann doch unbequem. Außerdem konnte er hier ja wohl nicht den Rest der Nacht verbringen, auch wenn es noch so verlockend war. Er fühlte sich so erledigt wie noch nie in meinem Leben. Aber der Gedanke an den Zeitungsboten, der ihn hier vor der Haustür in ein paar Stunden fände und wohl neugierig wäre, brachte ihn doch noch einmal auf die Beine. Es gab kaum einen Körperteil, der ihm nicht schmerzte, aber gebrochen schien nichts zu sein. Vorsichtig zog sich Martin wieder die Treppe hoch. Er brachte es nicht einmal mehr fertig, sich auszuziehen und legte sich einfach quer aufs Bett.

Schlaf fand er allerdings noch keinen. Die Ereignisse des Tages flimmerten in einer Endlosschleife vor seinem inneren Auge wie ein zu schnell laufender Stummfilm. Dabei begann ein Plan in ihm zu reifen, ein Plan, der ihm viel Geld bringen würde.

Martin würde Haschek wie eine Zitrone ausquetschen, das war er ihm nach den Ereignissen schuldig. Was Martin wegen ihm in dieser Nacht durchgemacht hatte, dafür würde der Architekt büßen müssen.

[Damit endet der 1. Teil des Romans. Er ist im Textarchiv als PDF und als E-BOOK zum Download zu finden.

Und dann habe ich noch eine kleine, unverschämte Frage, auch wenn ich befürchten muss, dass sie wieder niemand beantwortet: Liest diesen Kriminalroman eigentlich jemand? Gefällt er oder ist er Käse? Ein Kommentar wäre mal schön, denn ich zweifle gerade, ob es Sinn macht, ihn hier fortzusetzen …]

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