Der Prolog der großen Brautschau-Saga:
Mánis Fall
Und hinab ging der trudelnde Sturzflug in die Tiefe, kreuzte vertikal ein paar der zum Glück nur wenig befahrenen Luftstraßen und tauchte dann nur ungefähr zwanzig Meter über dem Boden zwischen zwei eng beieinander stehende Gebäude, wo Fabia durch tollkühne Flugmanöver versuchte, die Verfolger abzuhängen. Es gelang ihr nicht. Die künstlichen Piloten der Polizeischweber steuerten gedankenschnell und mit ebenso viel Todesverachtung wie die junge Frau, der sie mit geringem Abstand auf dem halsbrecherischen Zickzack-Kurs durch das antike Stadtviertel Bezons ohne Probleme folgten. Blaue Lichter kreisten um die Meridiane der Polizeiflieger und Omicron bekam viel Arbeit, die Hackzugriffe der Omegas auf den Schweber zu unterbinden.
Weil der Motor aufs Äußerste gefordert wurde, war es in der Kabine wurde es trotz der Enge mit einem Mal eisig kalt. Fabias hektisch ausgestoßener Atem stand als Wolke vor ihr. Jetzt, knapp über dem Boden auf einer scheinbar willkürlich und zufällig gewählten Route dahinjagend, beschleunigte sie immer weiter, reizte den Motor bis zu seinen Grenzen aus. Der Steuerknüppel in ihrer Hand begann zu vibrieren und ließ sich kaum mehr von ihr beherrschen. Leon, der die Gefahr erkannte und wohl auch Fabias Vorhaben erahnte, legte seine Hand auf ihre und gemeinsam hielten sie den Schweber stabil und weiterhin unter Kontrolle. Von Omicron von seinen Sicherheitsschranken befreit, war er fast dreihundert Stundenkilometer schnell, ein mörderisches Tempo, das alle in ihre Sitze drückte.
Dann hatte Fabia über die von ihren Augreyes eingeblendete Stadtkarte einen geeigneten Ort für ihren waghalsigen Plan gefunden. Nur auf diese Weise würde sie die Polizei abschütteln können. Sie bog noch zweimal ab – einmal trennte ihr Fluggefährt in der Kurve nur Zentimeter von der Hauswand – dann raste sie auf einen niedrigen Torbogen zu, der einen Eingang zu einer ausgedehnten Gartenanlage markierte, die dem alten Bois de Bologne nachempfunden war. Links und rechts von dem Tor erhoben sich massive Steinmauern. Selbstverständlich war es nur die zeitgenössische Kopie eines Triumphbogens aus der napoleonischen Zeit. Man hatte schon vor Langem alle übrig gebliebenen Antiken durch widerstandsfähige Repliken ersetzt. Manche von ihnen, wie die Glaspyramide im Innenhof des Louvres – der übrigens auch ein Nachbau war -, existierten nur noch als Hologramm. Fabia hätte es niemals gewagt, ein echtes, achthundert Jahre altes Relikt aus der bewegten Vergangenheit der Megapole auf diese Weise der Gefahr seiner Zerstörung auszusetzen. Doch sie lenkte den Schweber mit gutem Gewissen durch das aus nahezu unverwüstlichem Kunststoff nachgebildete Tor.
Es war ein heikles Kunststück, aber es gelang ihr perfekt, als hätte sie es seit ihrer Jugend geübt. Links und rechts blieben ihr zwischen dem Schweber und den Säulen vielleicht eine Armlänge Platz. Glücklich durch das Tor gezwängt, riss sie das Steuer scharf zu sich und bremste. Die Steuerung kreischte wie ein weidwundes Tier auf, gehorchte jedoch. Raphaël, nicht angeschnallt, weil die Kabine ja nur für zwei ausgelegt war, wurde von der Fliehkraft nach vorne geschleudert. Leon hielt ihn zwar am Kragen fest und und milderte dadurch den Fall des Dichters etwas ab, aber er schlug doch mit dem Gesicht gegen das Glas der Scheibe und holte sich eine blutige Nase. Wahrscheinlich hätte er sich den Hals gebrochen, wenn sich nicht die Notfall-Trägheitsdämpfung eingeschaltet hätte und den abrupten Bremsvorgang abpufferte.
Doch von diesem Schönheitsfehler abgesehen, war Fabias akrobatisches Flugmanöver ein voller Erfolg. Die Maschinenintelligenz in dem Polizeischweber, die wie eine Klette an ihr hing, war auf solch eine blitzartige Pirouette nicht vorbereitet. Während Fabia ihre gläserne Kugel in einer engen Aufwärtskurve elegant emporsteigen ließ, gelang es zwar dem ersten der Verfolger noch, ihr unbeschadet durch das Tor zu folgen, aber die anschließende scharfe Kehre schaffte er nicht mehr. Sein Wendekreis war um einige Meter breiter und das Fluggerät geriet dadurch in die Äste eines der Alleebäume, die den Kiesweg in den Park säumten. Sich um sich selbst drehend stürzte der Polizeischweber in die üppigen Büsche, von denen eine empörte Wolke winziger Drohnen aufstieg, die auf allen landwirtschaftlichen Flächen die Bestäubungsarbeit der fast ausgestorbenen Bienen unterstützten.
Dem zweiten Polizeischiff erging es noch schlechter. Sein Pilot wollte den Fehler des anderen vermeiden und dem Triumphbogen in letzter Sekunde ausweichen, streifte aber eine der dorischen Säulen und explodierte in einem Feuerball, der ein Loch in die Gartenmauer sprengte. Zum Glück hielt sich kein Mensch in der Nähe auf.
»Bürgerin Winterfeld …«, vernahm Fabia noch die Stimme eines Roboter-Polizisten durch die Funkverbindung, dann war nur noch weißes Rauschen zu hören. Seelenruhig gab sie die Steuerung wieder an Omicron ab, der den Flieger auf den rechten Kurs brachte, ihn über die nahe Seine steuerte und in gemäßigtem Tempo und niedriger Höhe auf das weitläufige Universitätsgelände zuhielt. Gemeinsam mit Leon kümmerte sich Fabia währenddessen um den jammernden Raphaël, dem zwei kaum zu stoppende Blutrinnsale aus der Nase liefen. Sein Freund griff unter den Sitz und holte den Erste-Hilfe-Koffer heraus, aus dem er dann eine Bandage nahm, die er dem jungen Dichter gegen die Blutung presste.
»Entschuldigt bitte mein Flugmanöver, aber ich sah keine andere Möglichkeit, die Polizei loszuwerden«, sagte Fabia kleinlaut. Sie hatte inzwischen großen Respekt vor dem glatzköpfigen Bildhauer, der offenbar immer Herr der Lage war. Raphaël grunzte nur, aber Leon machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das geht schon in Ordnung. Wenn sie uns erwischt hätten, dann wären wir wahrscheinlich auf der Stelle gelasert worden. Die Notstandsgesetze der 2MC kennen kein Erbarmen und keine Entschuldigungen. Ich hatte gehofft, sie würden nie in Kraft treten. Noch vor einem Monat haben wir gegen sie demonstriert, weil sie unsere bürgerliche Gesellschaft in die brutalste und menschenverachtendste Diktatur seit Ibn-Saids “Rechtgläubigem Rotem Reich” verwandeln würden, wenn sie zur Anwendung kämen. Man kann doch keine KI Recht sprechen lassen! Aber von einem multikontinentalen, planetaren Konzern wie der Corporation kann man nichts anderes erwarten, wenn er sich an die Regierung putscht. Solche Wirtschaftsgiganten sind die natürlichen Feinde jeder Demokratie«, steigerte er sich wütend in ein politisches Manifest.
Omicron landete den Schweber auf einem kleinen Platz neben der Universitätsbibliothek. Die beeindruckende, glänzende Fassade des Gebäudes reichte fünfzehn Stockwerke in den Himmel und ebenso viele in den Erdboden hinab. Wegen ihrer verwinkelten, in der Regel sechseckigen Innenräume und den schier bodenlosen Lichthöfen wurde sie von den Studierenden und den Professoren in Anklang an den alten Schriftsteller Jorge Luis Borges “Babel” genannt. Dort residierten in der untersten Kelleretage die Citoyens um Professor Rosenthal und dorthin wollte Fabia.
Sie schnallte sich ab, nahm Omicron unter den Arm und schälte sich aus dem Schweber, dessen mitgenommene Außenhülle trotz der sommerlichen Temperaturen, die am Boden herrschten, mit Reif bezogen war. Er dampfte eisig. Sie sah sich um. Es war fast unheimlich, wie leer der Platz war. Für Menschen, die es gewohnt waren, ihr Leben auf engstem Raum mit Milliarden anderen Individuen zu teilen, war es beängstigend. Fabia war da nicht anders. Sie kannte Einsamkeit und Leere nur, wenn sie über ihre Augreyes auf den Server des Computerspiels “Walden 3.2” ging, das einen weltumspannenden Wald simulierte und – weil es aus der Mode gekommen war – nur wenige NPCs und Player hatte, die sich deshalb fast nie begegneten. Dort saß sie gerne ein paar Stunden vor ihrer virtuellen Holzfällerhütte im Sonnenschein, sah den Flugechsen zu, die in der Thermik unter dem rosafarbenen Himmel ihre Runden drehten und genoss diese scheinbare Einsamkeit. Doch in der echten Welt fürchtete sie die Leere und litt an Agoraphobie, gegen die sie sich nie hatte behandeln lassen. Sie wäre am Liebsten direkt in die Bibliothek mit ihren engen, nach echten Büchern riechenden Räume voller Menschen gewechselt, als die wenigen hundert Meter quer über den verwaisten Platz zu laufen. Aber ihr blieb keine andere Wahl.
Sie machte ein paar unsichere Schritte in Richtung Eingangstore. Doch dann sank sie in die Knie und erbrach sich. Schnell war Leon bei ihr und beugte sich über sie, hielt ihr helfend die Stirn. Omicron drehte aufgeregt fiepend enge Kreise um die beiden.
Wie es weitergeht:
Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der “Brautschau”-Trilogie
Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Und wer nicht genug kriegen kann:
Die Vorgeschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eine Antwort auf „Mánis Fall (Kapitel 1.9)“
[…] [Zur Fortsetzung …] […]