»Es war einmal ein uralter Weihnachtshund, der trottete müde, fast schon vor Schwäche torkelnd, auf dem winterlichen Trottoir. Seine Flucht durch Nacht, Nebel und bitteren Gestank hatte ihn bis an den Rand der völligen Erschöpfung gebracht. Der Weihnachtshund trug eine zerschlissene rote Zipfelmütze. Sein Bart war silbern und eisig hart vom bitteren Frost. Auch stand sein kurzer Atem weiß in der klirrend kalten Winterluft, denn der schwere Sack, den er sich umgebunden hatte, war voll mit Nüssen und Hundekuchen und drückte auf Lunge und Rücken. Seine Pfoten schmerzten darüber hinaus von dem Viehsalz, das allzu eifrige, der frühmorgendlichen Schneeräumungspflicht bewusste Bürger aufs Trottoir gestreut, damit niemand sich vor ihrer Haustüre ein Bein oder gar Schlimmeres brach.
Ja, es war wahrhaft keine gute Zeit, diese Adventszeit, für einen mit den vielen Jahren seines Lebens ergrauten Weihnachtshund: Die Nase triefte; der Alte spürte die Grippe, sein Weihnachtsbellen war rau, und verzweifelt versuchte er sich an die Verse von »Oh du Fröliche …« (sic!) zu erinnern.
Seine Weihnachtslaune war wahrhaft im Hundearsch. Die Pflicht, bei diesem Sauwetter zu bescheren, drückte doch schwer auf seine einfache Hundeseele. Der Weihnachtshund dachte tatsächlich für einen kurzen Augenblick: ›Ach, wäre ich doch nur ein Osterhund! Wie viel schöner muss es wohl sein, auf einer grünen, von der warmen Frühlingssonne beschienenen Wiese viele bunte Eier und auch mal einen Schoko-Hasen zu legen.‹
Aber auf einmal, in seiner allertiefsten Depression, da hörte er ein glockenhelles Stimmchen: »Schau einmal, Mama, schau, da läuft doch glattauer ein echter Weihnachtshund!«
»Oh ja«, antwortete die Mutter verzückt, »endlich mal ein Köter, dessen Kacke auf dem Bürgersteig nur nach Tannennadeln und Lebkuchen duftet. Und schon denkt man doch gleich viel lieber ans Christkindl.«
Da aber wurde es dem alten Hund richtig warm ums Herz. War doch nicht alles so grau, wie es ihm seine farbenblinden Augen vorgegaukelt hatten? Gab es wirklich noch Hoffnung und Liebe in dieser tristen Welt, die ihm so aufs Gemüt drückte? Gerade wollte er auf die freundlichen Menschen zuwanken, ihnen mit seiner kalten, feuchten Schnauze die Knie reiben und sie mit seinen Nüssen erfreuen, als plötzlich …
Ein durchdringendes Sirren von eiskaltem Stahl zerschnitt den Morgen, bohrte sich schmerzhaft in sein rechtes, halbtaubes Ohr. Doch die Reflexe des Weihnachthundes funktionierten noch immer: Trotz der erlittenen Strapazen, trotz des Alters, trotz der Kälte, trotz der Grippe! Gedankenschnell wich – ja, in winterlicher, christlicher Wahrheit, so hieß unser Weihnachtshund – ich sage, Karl-Heinz wich der Schlinge des fiesen Hundefängers mit einem atemberaubenden Reflex aus, sprang los. Aber rutschten ihm die Hinterläufe weg! Er schlitterte über das Eis der nächstbesten gefrorenen Pfütze auf die freundliche Mutter und das liebliche Kind zu, landete mit Sack und Pack …«
Jan Philipp Rabenhorn senkte das Blatt, von dem er gelesen hatte, und legte es dann so eilig, als habe er sich die Finger daran verbrannt, zu den anderen Seiten des mit sauberer, fast kindlicher Handschrift geschriebenen Stapels Papier. Er seufzte. Dann nahm er seine schmale Lesebrille ab und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. Er versuchte vergebens, mit dem festem Druck der Wirklichkeit ein anderes Bild aufzupressen.
»Karl-Heinz, der Weihnachtshund …«, murmelte er fassungslos und zitierte damit den Titel des fetten Manuskripts, das er in seiner ›EILT!‹-Ablage entdeckt hatte und gerade zum ersten Mal durchblätterte, »ein winterliches Märchen.«
Rabenhorn drehte sich erschüttert in seinem ergonomisch geformten Sessel von seinem ausladenden Schreibtisch in Mahagoni-Imitat weg. Er sah aus dem Fenster seines Büros, in dem er im 8. Stockwerk des Kienbauer-Verlagshauses residierte. In fünfzig Grautönen breitete sich tief unter ihm bis zum Horizont hin der entlaubte Karlnickelwald aus. Allein schon die Höhe der Etage unterstrich seine bedeutende Stellung als leitender Lektor und Verlagsdirektor. Über ihm, direkt unter dem Dach, befanden sich nur noch die Tagungsräume des Verwaltungsrats und die ausgedehnte Zimmerflucht von Marie-Theres Kienbauer, der Witwe des großen Hubert Emanuel Kienbauer. Doch im Gegensatz zu dem allzu früh verstorbenen und zumindest von Rabenhorn auch viel beweinten Verblichenen – der sein enger Freund gewesen -, leitete Marie-Theres zwar mit leichter Hand die wirtschaftlichen Belange des Verlages. Das literarische Programm überließ sie aber in aller Regel ihrem Cheflektor Rabenhorn, denn sie fand die aktuelle ›Bunte‹wesentlich aufregender als den neuen ›Kehlmann‹.
Während Rabenhorn in die amorphen, allzu düsteren Wolken über dem stillen, regenfeuchten Wald starrte – ›amorph‹ war eines seiner Lieblingswörter, fast so schön wie ›Socke‹ oder ›Kakadu‹ -, da überlegte er, was wohl sein alter Kumpan Hubert Emanuel zu dieser Geschichte gesagt hätte, die heute der erfolgreichste Autor des Verlages als lang erwartetes Meisterwerk persönlich bei der Vorzimmerdame von Rabenhorn vorbeigebracht hatte. Wahrscheinlich hätte er den handgeschriebenen Text sofort im Ofen verbrannt und seinen Autor, den großen Egon M. Friederbusch, gleich mit dazu.
»Karl-Heinz, der Weihnachtshund und der König der Karlnickel …«, wiederholte Rabenhorn kopfschüttelnd den Titel des unverlangt eingereichten Manuskripts, »ein Weihnachtsmärchen von Egon M. Friederbusch, dem Autor von ›Edwin Egart und die Last des Schweigens‹ und Edwin Egart 2: ›In Alwins Zaubergarten‹.«
Egon M. Friederbusch, der ganz allein mit seinen Büchern um den Zauberlehrling ›Edwin Egart‹ für den Verlagserfolg verantwortlich zeichnete …
Egon M. Friederbusch, auf dessen dritten Egart-Roman ganz Deutschland voller Ungeduld wartete. Der nichts Besseres zu tun hatte, als eigenhändig – ohne Computer, Textprogramm und Rechtschreibhilfe – ein grauenhaftes 264-Seiten-Machwerk über … über Weihnachtshunde zu verfassen …
Egon M. Friederbusch, der Geliebte der Marie-Theres Kienbauer …
Egon M. Friederbusch, der nicht einmal ›Oh, du Fröhliche‹ richtig schreiben konnte …
Rabenhorn, in dessen Seele sich wie ein Luftballon eine große, innere Leere aufblies, starrte weiter beharrlich zum Fenster hinaus, entschlossen, sich erst zu bewegen, wenn es dort draußen über den Wipfeln des Karlnickelwaldes zu schneien begann.
Da klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Das rote Lämpchen des Hausanschlusses blinkte wie der ›rote Alarm‹ auf dem Raumschiff Enterprise. Marie Kienbauer war am Apparat – natürlich. Rabenhorn hasste dieses Weib aus ganzem Herzen. Kaum verwitwet war sie schon die Geliebte eines Zauberlehrlings- und jetzt Hundeschriftstellers geworden! Nebenbei bemerkt, war sie eine grauenhafte Hobbyköchin, die so etwas Unsägliches wie ›Schichtkohl‹ fabrizierte und die üppigen Ergebnisse ihrer Kochkünste gerne erkaltet in Tupperschüsseln gestopft unter ihren Angestellten verteilte. An solchen Tagen hängte Rabenhorn ein Schild vor seine Bürotür, auf dem in Kapitälchen ›Ich bin auf irgendeiner Buchmesse‹ stand und schloss die Tür von innen zweimal zu.
Vor ein paar Wochen hatte er eine Einladung zum Abendessen nicht ablehnen können, die wohl auch noch in der lüsternen Absicht ausgesprochen wurde, ihn über ihre Gourmetküche in Schlafzimmer von Marie-Theres zu locken. Er, ein gestandener Rabenhorn und stadtbekannter Feinschmecker, konnte es nicht verhindern: Er hatte seiner Chefin nach den tapfer heruntergewürgten Kohlrouladen auf das teure Designersofa gekotzt. Nun ja, seither war das Verhältnis etwas frostiger, aber sie hatte sich zu Rabenhorns Erleichterung nach einem anderen Objekt ihrer Begierde umgesehen und es ausgerechnet in dem Erfolgsautor Friederbusch gefunden. Der hatte wohl Geschmacksnerven aus grünem Gartendraht.
»Rabenhorn!« Ihre aufgeregte Stimme schrillte ohrenpfeifend in seine trüben Erinnerungen an zermatschten Schichtkohl mit fettigem Hack. »Rabenhorn, haben Sie schon das Manuskript von Friederbuschs ›Karl-Heinz, der Weihnachtshund‹ gelesen? Ehrlich, ich bin überwältigt. Ich sage Ihnen, das ist schlichtweg ein Hammer!«
Friederbusch musste wahrhaft ein As im Bett sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Rabenhorn räusperte sich: »Wenn ich ehrlich bin, bin ich nur bis zu der Stelle gelangt, an der der Hundefänger aufgetaucht ist. Das …«
»Da sind Sie doch noch ganz am Anfang! Rabenhörnchen, Sie müssen sofort weiterlesen! Unbedingt! Das ist Weltliteratur, die ›Friedi‹ da geschrieben hat. Nun machen Sie schon, und ich erwarte eine ausführliche Stellungnahme von Ihnen. Bald, sonst lasse ich Sie auf unserer Facebook-Seite die Hasskommentare von Pegida-Anhängern korrigieren!« Und zackig aufgelegt. Die Führerin hat gesprochen.
›Friedi!‹ Ha! Was sollte das denn sein? Die Kienbauer mischte sich in seine Kompetenzen ein? Das war ja ganz was Neues. So ging das nicht. Er war der Cheflektor und alleine für literarische Programm des Verlags verantwortlich. Vorbei mit dem Vorsatz, sich nicht zu rühren. Nun war Machtkampf angesagt! Andererseits: Die Zeiten waren schlecht. Gute Lektoren, die niemand benötigte, gab es wie Sand am Meer. Seufzend nahm Rabenhorn erneut das Elaborat über den Weihnachtshund in die Hand und suchte die Stelle mit dem Hundefänger. Und auf einmal bannte ihn die Handlung, denn es wurde dramatisch. Doch ein echter Friederbusch?
»… und landete mit Sack und Pack, sich fast überschlagend, auf dem roten Plastikschlitten, den das Kind hinter sich herzog. Erschrocken ließ die Kleine los. Durch den ungestümen Sprung des alten Weihnachtshundes schoss der Schlitten ungebremst über die Bürgersteigkante auf die spiegelnde, glatte Straße. Zorniges Hupen, ein Möbelwagen – Aufschrift: ›Sicher von Heim zu Heim‹ – versuchte, noch zu bremsen. Vergebens!
Karl-Heinz, machtlos auf dem Schlitten, sah das Weiße in den Augen des Möbelwagenfahrers, das Weiße und darin sein eigenes Ende. Aus, vorbei! Die ihm von seinem Herrchen persönlich gestellte Aufgabe, nach vielen Jahren des Ruhestands erneut herrenlose Hunde mit Nüssen und Hundekuchen unter dem großen Pinkelbaum zu bescheren, wurde durch einen simplen Möbelwagen verhindert. Nur noch Sekundenbruchteile im Advent, und der Hundetod durfte Weihnachten feiern. Versagt, eindeutig, er hatte es verdient, in der Hölle für stinknormale Köter zu braten. Ergeben senkte der alte Hund sein Haupt.
Urplötzlich: »Iiaah, Iiaah und Iiooh!«, sang eine mächtige Stimme gegen sein Verderben an. Ein Freund in allerhöchster Not?
Es war so, denn eine kräftige Zunge wickelte sich um Karl-Heinzens Lenden, wischte ihn von dem Schlitten und zog ihn unwiderstehlich in die warme Sicherheit einer rauchigen Kneipe. Uff, das war gerade noch einmal gut gegangen. Karl-Heinz wagte zu blinzeln und ein Auge zu öffnen. Daraus quollen sogleich Freudentränen, als er den Freund erkannte. Kein Zweifel möglich:
Es war Singing Sam, der singende Kuschelesel.«
Rabenhorn blickte wieder versonnen aus dem Fenster. Er seufzte. Diesen Schmarren von sage und schreibe 264 endlosen und von Rechtschreibfehlern gespickten Seiten sollte er noch weiter lesen? Musste er sich das wirklich antun? Er, der Cheflektor des Kienbauer-Imperiums – der gleichste unter den Gleichen? Und das nur, weil der vertrottelte Friederbusch ein Weihnachtsmärchen geschrieben hatte und sich einbildete, es auch publizieren zu müssen? Einzig und allein, weil die Kienbauer auf ihren ›Friedi‹ flog?
Das verlangte man von ihm! Von Jan Philipp Rabenhorn, der Klassiker lektoriert hatte wie ›Die Schwalbe‹ oder gar den Jahrhundertroman ›Wie das Schwarze in den Himmel kam‹? Andererseits: Er war siebenundfünfzig Jahre alt und die Zeiten waren für die Literatur schlecht. Abertausende jobsuchende Germanisten und Germanistinnen lagerten vor den Toren der Verlage und waren bereit, für ein paar aufmunternde Worte und ein schlecht kopiertes Praktikumszeugnis zu arbeiten. Selbstredend hatten die keine Ahnung. Aber das zählte doch heute nicht mehr, wo Selfpublisher und grottige E-Books den Markt verstopften wie die fetttriefenden Buletten der Burgerketten die Mägen der Schnellhungrigen.
Jan Philipp Rabenhorn seufzte erneut, diesmal lauter und länger. Dann wandte er sich wieder resigniert dem verhassten Manuskript zu …
»Hey, das war aber knapp, Alter«, Sams Eselsohren wackelten vorweihnachtlich und seine Nase leuchtete rot, »voll krass. Nur gut, dass ich gerade rein zufällig in meiner Stammlocation chillte. Ich find’ eigentlich so gut wie nie die Chicks, äh, also, die Zeit, mal voll gemütlich abzuhängen. Voll krass, dieser Möbelwagen. Das war der VW-Diesel unter den Möbelwägen! Der hätte dich doch sowas von uncool ins Off befördert. Na, wer ist hier der Babo?« Sams Eselsaugen glänzten verdächtig, selbstverständlich nur aus reinem Zufall. Er schlug seine Vorderhufe knallend zusammen.
»Zack! Deckel zu! Und ab ins Hunde-Jenseits. Ins Paradies darfst du ja nicht, wie die Bibelfesten unter uns beiden wissen. He, he, für den treuen, grauen SUV, der den Herrn lässig nach Ägypten schmuggelte, gilt das stressige Verbot nicht. Ich bin viel zu fly dazu. Oneway-Ticket to Paradise, oh yeah …« Sam würde doch nicht wieder zu singen beginnen? Karl-Heinz beeilte sich, den feuchten Redefluss des angeheiterten Esels, von dem er übrigens nur die Hälfte verstand, zu unterbrechen.
Der Weihnachtshund musste sich erst den Schleim aus der brennenden Kehle räuspern, ehe er antworten konnte:
»Danke, Sam! Man sollte alte Hunde wie mich nicht mehr bei so einem Sauwetter vor die Türe jagen. Ich weiß überhaupt nicht, warum der Chef mich ausgerechnet in diesem Jahr noch einmal auf die Große Tour geschickt hat, wo ich doch seit einhundertunddreiunddreißig Jahren nicht mehr in Bromberg an der Fiesel war. Ehrlich, ich finde mich hier gar nicht mehr zurecht. Das ist hier auf Erden so hektisch geworden und so laut. Es stinkt. Da wundert es mich nicht, dass es in Deutschland nicht einmal mehr einen Kaiser geben soll …«
»Komm Alter, chill mal. Vergiss doch den Beckenbauer. Schlag ‘ne Weihnachtskugel drüber, Bro, wie wir modernen Esel sagen. Und dann, Charly, trinkst du erst mal ‘nen Pott von meinem Eselstraum. Ich sag dir was: Gei … el, Alter, voll das Gesöff. ›Sams Eselstraum‹ ist wahrhaft der heißeste Punsch zwischen hier und der Bronx. Die fetteste Droge, die jemals ein Esel braute. Donkeybuisness, absolut der Burner. Da hebst du ab wie Superman, grinst dir einen und es geht dir so gut, als ob dir Lassie persönlich an den Nüssen knabbert.«
Ja, Singing Sam war schon ein wahrer Freund …«
Rabenhorn hustete rau. Das wurde immer stärkerer Tobak! Hätte jemand anderer als Friederbusch solch einen Text geliefert und hätte ihn die Kienbauer nicht zum Lesen gezwungen, das Manuskript wäre längst im Papierhäcksler gelandet. Es war zum Heulen. Da lag auf seinem Schreibtisch noch der wundervolle Roman eines jungen Debütanten über eine amour fou. Der Titel ›Die neunhundertneunundneunzig Jahre alte Fee, die von einer Parkbank sprang und verschwand‹ müsste allerdings noch verändert werden. Und dann gab es auch noch das nobelpreisverdächtige neue Werk von Nikolaus Xaver Maria Klammer, das auf seine pflegende Hand wartete. Aber er, der große Rabenhorn, er hatte sich mit diesem grotesken Machwerk auseinanderzusetzen! Friederbusch musste ja schon völlig schwachsinnig oder größenwahnsinnig geworden sein, so etwas Unausgegorenes aus der Hand zu geben. Ein Schafscheiß war das!
Und es sollte noch toller kommen, denn der Lektor war ja erst auf Seite 37.
»Der Weihnachtshund trank, schmatzte und schlürfte und sabberte den ›Eselstraum‹. Er spürte dabei in seinen Gliedern die aufsteigende Wärme eines sanften, dann gewaltig durch den Schlund wieder aufsteigenden Feuers. Das war die Mutter aller Sodbrände. In allen Gliedern regte es sich zu einer Überraschung! Seitdem er einmal in einer Sakristei Messwein aufgeschlürft, den ein völlig besoffener Pfarrer auf dem Boden verschüttet, hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Vergessen die Gabenverteilung unter dem großen Pinkelbaum, vergessen die Beschwerden seines weit über sechshundertjährigen Körpers, er fühlte sich schlichtweg ›Pudel‹-wohl, obwohl er sich relativ sicher war, dass keiner dieser hochnäsigen Kerle jemals seinen bunten Stammbaum befleckt hatte.
Karl-Heinz betrachtete den Kuschelesel mit neuen Augen. Der stimmte gerade hingebungsvoll den einen Schlager an, welcher ihn bei allen Damen rund um den Erdball berühmt gemacht hatte:
»Iiaah, Iiaah und auch Iiooh!
Will dein Stecher nicht mehr kuscheln,
Selbst nach Penne arabiata mit zu viel Muscheln,
Sind sie leer, des Typen Eier,
Hol zum Teufel ihn der Geier!
Denn du brauchst ihn wahrhaft nicht,
Den Wicht,
Du kennst ja schließlich … Saaaam!«
(Letzterer Reim leise, fast flüsternd vorgetragen)
»Iiaah, Iiaah und auch Iiooh,
Sam, der Esel, macht dich froh.
Das beste Grauohr für die Liebe,
Seitensprung und Seitenhiebe.
Iiaah, Iiaah und Yeah für die Triebe!«
Ehrlich, so übel klang dieses Lied nach dem zweiten Eselspunsch nicht (oder war es gar schon der dritte?). Und auch der Typ selbst, der hatte was. Zumindest war er nicht mehr der graue Langweiler von früher, an den er sich erinnerte. Wenn der Weihnachtshund richtig überlegte, war das alte, abgenutzte Chagrinleder schon ein bisschen des Kuschelns wert. Es störte Karl-Heinz nicht, dass Sam ausgesprochen männlichen Geschlechts und stockbesoffen war. Das war er schließlich auch. In seinem runzligen Hundealter nahm man doch alles mit, was sich bot – im Himmel wie auf Erden. Er winkte dem ausgesprochen depressiv wirkenden Kellner, der sich gerade in vergeblicher Hoffnung ein Küchentuch über die Ohren schlang: »He, mein Freund, noch einen Liter von dem Stoff!«, und dabei blinzelte er Sam, der gerade die dritte von unzähligen weiteren Strophen begann, vielversprechend zu.«
Rabenhorn wurde schlecht, dieses blödsinnige Lied eines kuschelnden Esels schmerzte ungeheuer in seinem feinen, onomatopoetisch geschulten Gehör. Der Refrain reimte sich nicht einmal. Was zu viel war, das war wirklich zu viel! Gut, Friederbusch war der Hausautor, noch dazu der erfolgreichste, und es war in allen ihm bekannten Verlagen gute Politik, die Geld bringenden Hausautoren mit Samthandschuhen zu streicheln. Doch wie weit sollte diese Übung gehen? Musste er, ein Rabenhorn, Germanist und Philosoph, sich aus reiner Existenzangst diesem Schwachsinn beugen? Nur, weil ›Friedi‹ was mit der ranzigen Kienbauer hatte? Er besaß doch noch seinen Stolz … und an Weihnachtshunde und singende Kuschelesel glaubte er schon gar nicht, auch wenn Friederbusch sie hier in seiner Heimatstadt Bromberg an der Fiesel auftreten ließ, in der es tatsächlich in der Mitte der Altstadt einen vom Volksmund sogenannten ›Großen Pinkelbaum‹ gab, um den herum der jährliche Christkindlesmarkt stattfand.
Doch Jan Philipp Rabenhorn sollte eines Besseren belehrt werden. Schließlich herrschte die gnadenbringende Weihnachtszeit.
Eine Antwort auf „Karl-Heinz, der Weihnachtshund, und der König der Karlnickel – EINS“
[…] <– zum 1. Teil […]