Er humpelte eilig auf Isa zu, fiel ihr in die Arme und umarmte sie dabei so fest, als würde er sie nie mehr loslassen wollen. Und das wollte er eigentlich auch nicht mehr. Die Tränen flossen ihm reichlich über seine Wangen und tropften von seinem Kinn. Er wusste nicht, ob seine Rührung der Grund war oder der stechende Schmerz in seinem Knie, der diesen nicht enden wollenden Fluss verursachte – wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Tatsächlich hielt der Autor seine Tochter nicht nur deshalb so lange und fest umklammert, weil er sie endlich in Sicherheit und geborgen in seinen Armen wusste. Er hatte noch einen anderen, eigennützigeren Hintergedanken. Er bekam dadurch die Gelegenheit, sich nach den Ereignissen ein wenig zu fassen und zu beruhigen. Allzu viel war in kürzester Zeit auf ihn eingestürzt, hatte sein Leben auf den Kopf gestellt und ihn fast um den Verstand gebracht, hatte ihn verwirrt und verängstigt. Sicherheiten und Weltbilder waren erschüttert worden, er war von unheimlichen Verfolgern gejagt worden und das Leben seiner Familie und sein eigenes wurden bedroht. Klammer war erschöpft, übermüdet, ausgehungert und nun schmerzte auch noch sein Knie nach dem unglücklichen Sturz eben. Er musste schon eine jämmerliche Figur abgeben!
Die Umarmung seiner Tochter gab ihm seine Kraft zurück und langsam ging es ihm wieder besser. Auch der Schmerz im Beingelenk ließ nach. Wenn seine Erlebnisse der letzten Tage ein Roman gewesen wären, den er selbst geschrieben hatte, dann wäre nun eine gute Gelegenheit gewesen, das Wort ENDE unter seine Geschichte zu setzen. Doch solch einen Kniff konnte man sich nur als Schriftsteller leisten. Denn in der Wirklichkeit endete eine Geschichte für den Hauptdarsteller – ihn selbst, Nikolaus M. Klammer – niemals, auch wenn sich die Wirklichkeit, die er in den letzten Tagen erlebt hatte, nicht gerade real anfühlte, sondern eher aus einem Albtraum zu stammen schien. War nun wirklich alles gut?
Er hob den Blick von Isas Schulter, in deren Halsbeuge er bislang seinen Kopf vergraben gehalten hatte. Er fand den geduldigen, aber auch etwas peinlich berührten Augenaufschlag von Marini; während dessen Frau Mercedes kaugummikauend neben ihm stand und sich ganz offensichtlich langweilte. Sie hielt ein Smartphone in der Hand und wischte abgelenkt und flink mit dem Daumen über das Display. Ein Räuspern in seinem Rücken brachte Klammer endlich dazu, zögernd seine Tochter loszulassen und einen Schritt zurückzutreten. Isa lächelte verlegen. Unter ihrer Urlaubsbräune war sie errötet und sie nickte ihrem Vater liebevoll zu.
„Deine Entführer …“, stammelte Klammer mit einem dicken Kloß im Hals, „… haben sie dir nichts getan? Ich hatte solche Sorgen.“
„Mich hat niemand entführt. Haben die Hyänen das behauptet? Nein, nein, das war eine Lüge. Es war zwar ziemlich knapp, als sie mich in dem Lokal in Brasília aufgespürt haben, aber ich konnte ihnen entwischen“, erwiderte sie kopfschüttelnd.
Klammer seufzte erleichtert. Wie er schon vermutet hatte, hatte überhaupt keine Entführung stattgefunden. Die Verbrecherorganisation der Hyänen, die offenbar nicht nur in dem Berlinroman seines Großvaters Sebastian Kerr, sondern nun auch in seinem eigenen Leben eine Rolle spielte, hatte ihm ihr Verbrechen nur vorgegaukelt, um an das Geltsamer-Buch zu kommen. Warum sie dann diese Scharade nicht aufrecht erhalten hatten, konnte er sich nicht erklären und übrigens auch nicht, wie es Isa geschafft hatte, innerhalb von 36 Stunden von der Hauptstadt Brasiliens – was hatte sie eigentlich dort verloren? Sie hätte eigentlich in Lima sein müssen! – nach Rom in die Vicolo della Volpe zu gelangen. Ein Flug allein dauerte schon mindestens fünfzehn Stunden.
Vielleicht geht es den Hyänen ja wie mir und es passiert ihnen alles viel zu schnell, dachte er. Ich habe sie einfach mit meiner Abreise überrascht. Sie mussten ihren Plan mit der fingierten Entführung aufgeben, sich umorganisieren und mir den mörderischen Avvocato auf den Hals hetzen.
„Es ist ja alles gut gegangen, Papa“, unterbrach Isa seine Gedanken. „Aber sag, wie geht es Mama?“
„Gut, nehme ich an. Ich habe ihr irgendeinen Bären aufgebunden, weshalb ich unbedingt nach Rom fahren müsse. Ich glaube, das war auch in deinem Interesse, sie erst einmal aus der Sache herauszuhalten, oder?“
„Ja, das hätte alles noch viel komplizierter gemacht. Mama ist zuhause am Sichersten und am besten aufgehoben. Aber du musst doch hundert Fragen haben …“
„Nur hundert? Ich habe tausend Fragen! Ich weiß überhaupt nicht, mit welcher von ihnen ich anfangen soll. Vielleicht erklärst du mir …“
„Das wird leider noch etwas warten müssen“, wurde Klammer von Verena unterbrochen. Sie war es gewesen, die sich eben geräuspert hatte. Nun stellte sie sich zwischen Vater und Tochter. Die große, blonde Frau drehte ihren Kopf hin und her und musterte die beiden nachdenklich.
„Isa, wie ich erfahren habe, hat dein Vater unser Buch nicht mehr. Er hat es ausgerechnet meinem Welki gegeben und der scheint auch schon eifrig darin gelesen zu haben.“
„Porca miseria! Wie konnte denn das geschehen?“, warf Marini zornig und überrascht ein. Nach dem Fluch, der ihm unbedacht herausgerutscht war, wechselte er sofort in ein akzentfreies Hochdeutsch. „Was machen wir denn nun? Wir brauchen das Buch!“
Klammer hob schuldbewusst die Handflächen nach oben. Er fühlte sich plötzlich wie vor ein Gericht gestellt. Er wandte sich an Verena, die ihm vielleicht als Anwältin helfen konnte:
„Es schien mir das einzig Richtige zu sein. Ich wurde seit Innsbruck von diesem Avvocato verfolgt und ich wusste, dass er nicht nur hinter Isa, sondern auch hinter dem Geltsamer-Buch her war. Mal abgesehen von dem Zaubertrick mit den immer neuen Geschichten, den es durchführen kann, habe ich nicht die geringste Ahnung, was das Buch so wertvoll macht. Doch ich habe die einzige Gelegenheit genutzt, die sich mir bot, es in Sicherheit zu bringen, als ich mich heute Vormittag im Hotel Raphael nach euch beiden erkundigte. Ihr wart ja leider unterwegs … also, was sollte ich tun? Ich hatte auch nicht viel Zeit, nachzudenken.“
„Das war sicher ja ein guter Einfall, aber …“, setzte Isa an.
„… aber jetzt ist der Verleger in Lebensgefahr und das Buch könnte den Hyänen in die Hände fallen“, brachte Mercedes den Satz zu Ende. Weiterhin vollkommen in ihr telefoninio versunken, hatte sie bisher nicht den Eindruck gemacht, als würde sie zuhören. Aber nun hatte sie das Offensichtliche in dem düsteren und rauchigen Tonfall einer Sybille ausgesprochen.
„Das wäre eine Katastrophe, die wir unbedingt verhindern müssen. Wenn alles gut gegangen ist, sitzt Welki im Moment noch immer auf der Dachterrasse unseres Hotels und ist von vielen Menschen umgeben und in Sicherheit“, sagte Verena nach einer kleinen Pause, in der alle betroffen vor sich hinstarrten. „Ich hielt vorhin es für das Beste, ihn dort mit seinem Bier sitzen zu lassen. Aber nachdem nun klar ist, dass uns die Hyänen auch hier in Rom aufgespürt haben, war das wohl nur Wunschdenken. Wir wissen es ja: Um ›Isachen‹ in die Hände zu kriegen, würden sie über Leichen gehen. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass sie das tun.“
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Die drei bisher erschienen Bände der Geltsamer-Trilogie mit ihren neuen Titelbildern. Sie sind in jeder gutsortierten Buchhandlung und selbstverständlich überall als E-Book erhältlich.
2 Antworten auf „In den Bücherkellern des Vatikans (8)“
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