crisis – Eine Erzählung (Teil 3 – Schluss)

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ein tag ist doch wie der andere, nur ein endloses karussell, erneut kopfschmerz und verfaulendes fleisch auf der zunge. vielleicht fault die zunge selbst. noch eine woche urlaub. nach dem wichsen wartete ich auf das gewitter, das wieder nicht heraufzog. diesmal war es anstrengend, bis es mir kam. keine freude, ich sagte es schon. auch der gedanke an die breiten knie der magd half nicht. für meine aufzeichnungen wollte ich klarheit. deshalb schlug ich im lexikon nach. aber das WORT stand nicht drin, obwohl es ein gutes nachschlagewerk ist. wie hat man ein WORT an die wand schreiben können, das es gar nicht gib? – an diesem tag merkte ich, wie sich alles änderte. noch wusste ich nicht, was es war. es machte mir angst. das war der tag, und ich schrieb vieles auf.

ich ging später in ein gartenlokal, aber es war anders. ich beobachtete meine umgebung genau, das lachen der schüler dort verstärkte meinen kopfschmerz. ich fand nichts ungewöhnlich. trotzdem, es war anders. es lag in der luft, wie ein ungewöhnlicher geruch. ich trank mehr bier, als ich vertrug, aber es half mir nicht. die nadel blieb in meinem hirn stecken, ließ sich nicht entfernen. sie blieb, spaltete mein hirn. ich beschloss, am wehr spazieren zu gehen. dort war es schattig.

vision, ein irritierendes licht fällt von oben herab.

auf die erste leiche stieß ich bald. es war eine frau. sie war nackt, der bauch aufgerissen, zerfleischt, die hände wie in scham über der brust verkrampft. ich blieb stehen und starrte. ich wollte nicht glauben, was ich sah. ein ehepaar kam vorbei, einen kurzbeinigen dackel an einer leine hinter sich her ziehend. der hund hatte etwas helles im maul. es ähnelte einem hingeworfenen handschuh, in den der köter sich verbissen hatte. als das paar näher kam, sah ich, es war eine abgeschlagene hand, die nägel lackiert. ich deutete auf die hand, dann auf die frauenleiche. ich war nicht fähig zu sprechen. das paar sah mich an, es wirkte erstaunt, dann verstört. verzweifelt packte ich den ehemann an der schulter, schüttelte ihn, schrie. ich weiß nicht mehr, was. aber die beiden sahen mich nur an, staunten ängstlich. der hund ließ die hand in den sand fallen, bellte mich wütend aus. ich stieß den mann beiseite. nur weg von hier. die frau schimpfte hinter mir her. ich rannte den kiesweg weiter, stolperte dabei über die nächste tote. es war eine noch ganz junge frau. ihre lider waren weit aufgerissen, doch sie hatte keine augäpfel. fliegen krochen in der blutigen höhlung. auch ihr fehlte keine hand, aber eine war zermatscht, wie von einem lastwagen überfahren. ein würgender geruch kroch in meine nase. ich übergab mich über der leiche, besudelte sie mit meinem erbrochenen. dann kippte ich ohnmächtig zur seite.

eine nadel in meinem hirn, ein lichtstrahl von oben, vom brunnenrand.

das café war voll. nur mit mühe fand ich einen sitzplatz neben ein paar mädchen, die sich über wollwaschmittel unterhielten. es war kein gespräch möglich, sie waren zwar hübsch, aber jung. mir ging es inwischen besser. ich hatte im park beim wehr auf einer bank meinen rausch weggeschlafen, aber schlecht geträumt. trotzdem spürte ich weiterhin, wie sich alles um mich veränderte, anders, neu und fremd wurde. am abend begegnete mir das WORT wieder. ich traf einen arbeitskollegen, der mir den neuesten klatsch aus der firma berichtete. dann wurde unser gespräch persönlicher.

– wie geht es dir?, fragte er, du siehst schlecht aus.

– das erstaunt mich nicht.

– ja, wie der lebende tod. hast du schlafstörungen?

– die habe ich.

– du hast sie also auch, das dachte ich mir schon.

– warum?

– es geht gerade den meisten so. die halbe firma schläft morgens in den büros. mich hat es gottseidank noch nicht erwischt.

– meinst du etwa, das ist ansteckend? ein schlaflosigkeitsvirus? kann es das geben?

– klar. das liegt doch auf der hand. da geht etwas vor. sogar in der zeitung stand es schon. aber sie wiegeln noch ab. angeblich gibt es kein mittel dagegen. zumindest…, er zögerte. mir fiel etwas ein, aber ich wusste nicht, woher diese erinnerung kam.

– aber es gibt doch etwas, oder? – das war ein schuss ins blaue. er saß.

– du hast etwas gehört, stellte er fest. ich nickte, wollte wissend aussehen. er verfolgte meine bewegungen aufmerksam.- du hast etwas gehört!

auch er nickte, sah sich um. – das bleibt unter uns, klar?

er wartete auf eine reaktion von mir, als keine kam, sah er sich wieder um. dann flüsterte er das WORT. ich zuckte zusammen, wie ertappt. ich wusste nicht, was ich sagen sollte. er lächelte.

– was ist das?, fragte ich und beging meinen ersten fehler. sein lächeln verschwand.

– willst du mich verarschen?

– nein. ich bin nur schwer von begriff. ich meine, ich weiß einfach nicht, stotterte ich. er schien mir nicht zu glauben.

– du bist von den anderen, du sauhund!

red doch keinen unsinn. von welchen anderen redest du überhaupt? geht das wieder los! verteidigte ich mich schwach. – mir fiel das seltsame gespräch mit dem alten ein, auch er hatte von den anderen gesprochen. mein freund nahm eine drohende haltung ein. er ballte die fäuste. ein paar mädchen schlenderten in der nähe vorbei und warfen uns bedeutsame blicke zu, das lenkte ihn ab. als ich wieder seine aufmerksamkeit hatte, war er etwas sanfter.

– so dumm kann doch keiner sein, sagte er, du wirst doch wenigstens wissen, wer die anderen sind, wenn du noch nicht einmal das WORT kennst. macht das keinen sinn für dich? mensch, alles ist in bewegung. durch das land geht ein ruck. noch wissen wir nicht, wann ER rettend eingreift, der mann. aber dass ER kommt, fühlen millionen. das musst auch du bemerkt haben.

– nein. mir ist, als hätte ich ein jahr verschlafen. diese welt ist nicht mehr die meine. ich verstehe sie nicht.

– so schlimm ist das ja nicht. vergiss nicht, niemand weiß genaues! im moment warten alle. und wenn es tatsächlich jemand ahnen sollte, dann schweigt er aus angst.

– wovor?

– angst? ist doch klar! überall sind die anderen. für uns gibt es zwei teile: einen, der sich bekennt, einen anderen teil, der zersetzen und zerstören will. er versucht, uns zu sabotieren, zu verhindern, dass wir wieder schlafen können. aber der tag wird kommen.

– ich verstehe nicht. nochmal, ich fühle mich, als wäre ich in einen brunnen gefallen und komme nun nicht mehr raus. meine eigene welt ist nur noch ein kleines, kreisrundes loch weit über mir. das atmen fällt mir schwer, meine lungen füllen sich mit wasser. ich höre stimmen, aber sie sind fern. ich ertrinke und weiß nicht warum. sag mir, warum sabotieren uns die anderen? was haben sie für einen grund?

– mensch! – er flatterte mit seiner hand vor meinem gesicht. das gespräch schien sich nicht so zu entwickeln, wie er es wollte.- ich habe dir vorhin gesagt …

– ja, genaues weiß man nicht. aber es muss doch gerüchte geben.

– es gibt sie. – er musterte mich scharf. – und du bist sicher keiner von den anderen?

ich schwieg vorwurfsvoll.

– gut, ich glaube dir. es passt auch nicht zu dir. du bist so unschuldig. also, du musst wissen, dass ER kommt, hier in unsere stadt.

– leskoff?, platzte ich heraus. mein freund packte mich wütend am kragen.

– höre gut zu. nenne diesen namen nie mehr in meinem beisein, verstanden? der ist tabu, ja?

– ja, ich entschuldige mich. – ich versuchte, mich loszumachen, aber er hielt mich mit festem griff.

– das alles hat nichts mit IHM zu tun. du musst irre sein, die beiden in einem atemzug zu nennen.

– ich dachte …

– du dachtest. wenn du so weiter machst, bist du bald tot.

einen augenblick war ich stumm. dann spürte ich, wie etwas versank. nein, das ist nicht richtig erzählt. es war anders. es war jetzt verschoben, der boden begann sich zu wölben. ich sah mich um.

vision. wo war mein freund? was war mit mir? und ein splitter spaltete mein hirn. ich blickte herab. meine kleidung funkelte. sie funkelte aus sich heraus, als wäre sie mit goldflitter bestreut, wie die reflektion eines tanzenden lichtes, das durch ein weinglas scheint. und gleichzeitig, sagte ich schon, verschob sich die umgebung nach oben, ich begriff, ich war am versinken. unglaublich, dachte ich, unglaublich, das ist nicht möglich, wenn je etwas unmöglich war, dann das: ich versinke, mich in einen funkenregen verwandelnd, im teer. ich löse mich auf, verschmelze mit der erde, werde eins mit dem wissen. endlich.

jemand tappte mir mit zwei fingern auf die schulter. ich bemerkte die berührung erst nach einer ganzen weile. meine abwärtsbewegung stoppte. das ist ER, dachte ich grundlos, das ist ER.

– hinter mir stand ein kleiner mann. seine augen funkelten spöttisch.

– kennen sie napoleon?, fragte er.

– ja, das ist einer der großen schlächter der menschheit, erwiderte ich, denn ich wollte streiten.

– was reden sie da? wissen sie, was sie da reden?

– sie werden mir das sagen. sie scheinen ja alles zu wissen.

– sie reden scheißdreck. sie sind ahnungslos. so ein mist. fragen sie doch die franzosen, die haben ihn im invalidendom begraben. er war ein gott.

– das ist lächerlich. napoleon war ein mensch und einen menschen muss man begraben. er war ein schlächter.

– ein schlächter. wissen sie überhaupt, was die geschichte ist?

– die geschichte ist eine aneinanderreihung von metzeleien.

– sie haben vollkommen recht. die geschichte ist kriegsgeschichte.

– es an der zeit, das zu ändern.

– guter mann, es ist zeit, ja, wir wollen mal sagen, dass das lämmchen beim löwen weidet.

– amen!

– sie sagen es. sie haben eine interessante art, zu diskutieren.

– gut. ich mag zwar als träumer gelten, wenn ich hier ‚scheißdreck’ erzähle, aber ich bin nicht blind. die menschheit hat immer versucht, ihre probleme mit gewalt zu lösen. das hat ihr nichts gebracht. jetzt ist es an der zeit.

– wenn sie christentum predigen, landen sie am kreuz. wenn sie aber politisch etwas erreichen wollen, müssten sie gewalt anwendenn. sie können nur mit dem schwert macht ausüben. wenn es die not gebietet, scheuen wir auch nicht davor zurück, blut zu vergießen. große fragen werden immer durch blut und eisen entschieden.

– es gibt auch einen anderen weg. macht auf möglichst viele menschen verteilen, damit keiner zu viel in den arsch bekommt.

– demokratie? dazu ist es doch längst zu spät. die macht ist seit jahrhunderten verteilt, das kind in den brunnen gefallen. wenn sie die geschichte überblicken, alle perioden, wann, glauben sie, war sie erfolgreich? die demokratie, wissen sie, war es nie. demos heißt nicht volk, sondern pöbel.

– ich bin utopist. demokratie ist möglich, allein schon deshalb, weil sie die einzige staatsform ist, die sich kein bild vom menschen macht.

– nett auswendig gelernt. sie argumentieren schneller als ich denken kann. und ich glaube, sie reden nicht von der demokratie, sondern vom kapitalismus. schauen sie: man kann die geschichte nicht aus der sicht eines kriminalkommisars sehen, immer schuldige suchen. napoleon war ein mann, die die welt verändert hat. ihre schlächter haben uns weit gebracht. wo wären wir ohne sie?

– weiter entfernt vom abgrund.

– aber wir fallen doch längst. bald schlagen wir auf. wärend sie mit mir reden, wird wieder geschichte gemacht. es war an der zeit. ein mann kommt, nur er kann uns retten. die demokratie endet in einem blutigen chaos. je größer dieses chaos, desto sicherer ist ihr untergang und der erfolg von IHM.

– sie verstärken das chaos?

– ja. die masse braucht in ihrer schwerfälligkeit immer eine bestimmte zeit, ehe sie auch nur von einer sache kenntnis zu nehmen bereit ist. und nur einer tausendfachen wiederholung einfachster begriffe wird sie endlich ihr gedächtnis schenken. zu kommunisten spreche ich faschistisch, wenn ich nazis treffe, lobe ich marx, bei ihnen bin ich polemisch. es wirkt. schau dich doch um, sieh die verwirrung.

und ich versank. der blick des kleinen mannes war mitleidig. das hatte mir gerade noch gefehlt. – mit mir nicht, rief ich ihm zu, ich weiß, was ich weiß.

ein milchweißer splitter.

daran hatte ich zu schlucken. ich starrte meinen freund an, der mir langsam die luft abdrückte. ich wäre am liebsten vor ihm im boden versunken.

– tot? ist das dein ernst?, keuchte ich.

– bin ich ein lügner?, fragte mein kollege. – schau mich an! ich würde dich nicht anlügen. ich will dich nur warnen. glaube mir, ich will ehrlich sein. es ist gefährlich, zu viele fragen zu stellen. versuche doch weiter so zu leben, wie bisher. mach dir nicht so viele gedanken.

– alles um mich herum verändert sich und da soll ich weiter einfach so vor mich hin leben? das kann ich nicht.

– bis jetzt habe ich dich eigentlich wegen deiner sorglosigkeit bewundert, stellte er fest und ließ endlich meinen kragen los. ich stolperte einen schritt zurück, rang nach atem. er senkte den kopf.- lass gut sein, sagte er, das leben ist mehr.

er lud mich auf ein bier ein, begierig nahm ich an. aber es war nichts mehr aus ihm herauszubekommen. wir redeten über alltägliches. in dieser nacht war ich bei einem mädchen, einer bekannten meines freundes, die er zufällig in der pilsbar traf. sie machte es mir ganz einfach, ihr ging es wie mir. sie war ein ordentlicher fick, aber es war heiß. ich verschwitzte mich dabei und mein körper dünstete faulig aus. selbst nach einer dusche fühlte ich mich noch schmutzig. den rest der nacht lagen wir beide schlaflos nebeneinander. die hitze ließ auch in den morgenstunden trotz weit geöffneter fenster nicht nach.

WORTgeklingel.

so kann man sich irren. keine nation wird sich die finger zweimal verbrennen. der trick des rattenfängers von hameln verfängt nur einmal.

ich atme. noch atme ich sieh mich atmen! die luft schmeckt bitter, sie ist endlich kälter geworden. ich bin müde, mein kopf wendet sich zuckend von selbst halb zur seite, auch nach oben, ich beherrsche ihn nicht mehr.

ich atme. noch atme ich. höre mich atmen! meine finger vergraben sich in meinen handflächen zur faust, reißen blutig: ahab. mit dem WORT tropft hass in mein hirn. er erscheint als schweiß auf meiner zerfurchten stirn. ich habe kein morgen mehr. das gestern ist vergessen. das ewige heute bedeutet schaumige qual, die mir den blick für das wahre verklebt.

ich atme. noch atme ich. fühle mich atmen! mein schweiß tränt auf das papier, erbricht sich als sprachlosigkeit, formt sich zu worten, die nichtig sind.

sinnloses WORTgeklingel. das schreibe ich. es wird zeit zu schweigen. ich möchte endlich schlafen lernen.

nach wochen ist es mir wieder in die hände gefallen: mein schwarzes heft. ich sollte doch noch etwas hineinschreiben, zu einem ende kommen. denn ich weiß etwas wichtiges, das ich vergessen hatte. ich bitte einen, der das liest, die folgenden zeilen nicht auszulassen. ein paar wenige wird es geben, die lesen. einer wird in diese wohnung ziehen, in ein paar monaten vielleicht, wenn der herbst kommt und alles vorbei ist. dann wird er dieses schwarze heft neben meinen kleinen cassetten auf dem wohnzimmertisch liegen sehen. vielleicht liest er alles, bevor er es aus angst vernichtet.

inzwischen ist nichts geschehen. in der wirklichkeit passiert nie etwas. die veränderungen merken wir erst, wenn es zu spät ist. ich habe die arbeit nicht wieder aufgenommen und genau so weitergelebt, wie ich es oben beschrieben habe. nun ist mein konto erschöpft. ich bin noch immer nicht hinter die geheimnisse gekommen, aber ich habe sie inzwischen durchschaut. das WORT ist laut auf den straßen zu hören, man schreit es mir hinterher. doch bedeutung des WORTES ist mir inzwischen gleichgültig geworden. mir ist das egal, ehrlich. auch mein telefon läutet nicht mehr. vielleicht ist ganz kaputt, aber das glaube ich nicht. mein verfolger hat es einfach nicht mehr nötig. inzwischen geht er wie ein freund neben mir her, erzählt mir seine geschichten und lässt mich an seinen lebensweisheiten teilnehmen. wenigstens brauche ich nun keine angst mehr vor ihm zu haben. man hat nur angst vor dingen, die man nicht kennt. ich weiß nicht, wie lange ich schon nicht mehr geschlafen habe. der schlaf ist mittlerweile in den bereich der legende gerückt. manchmal gaukelt mir mein fiebriges hirn visionen von der zukunft und träume vor. vielen geht es wie mir, ich sehe es an den schweißiggrauen gesichtern, denen ich begegne. sie leben in der nacht und verdämmern in ihren wohnungen hinter herabgelassenen jalosien den hitzewallenden tag. alle arbeit liegt darnieder, die stadt ist tagsüber wie ausgestorben. es ist sinnlos, dass die ampeln noch funktionieren. die lebensmittelläden sind ausgeplündert, die anderen werden immer frecher, es wird zeit, dass einer kommt, ihnen das maul zu stopfen.

aber ich wollte von dem wichtigen schreiben. mir ist etwas eingefallen. das ist der sinn meiner täglichen selbstbefriedigung: ich war einmal bei meinen großeltern im dorf zu besuch. ich war vielleicht zehn, oder jünger, älter bestimmt nicht. ich frage mich, warum ich mich noch so gut daran erinnern kann, ich habe wenige eindrücke von meiner kindheit behalten und habe alles, was vor meinem, sagen wir mal, vierzehnten lebensjahr lag, vergessen. ich habe mit dem kind, das ich einmal war, nichts mehr gemein. es war ein dummes, fettes und eingebildetes kind. ich habe, bevor die kopfschmerzen zu stark wurden, in einem buch gelesen, jeder würde sich nach seiner kindheit sehnen. das ist grotesk falsch. ich war froh, älter zu werden, nie mehr möchte ich ein kind sein.

warum erinnere ich mich also, wenn ich wichse und mich über kurz lebendig fühle?

ich war bei meinen großeltern im dorf. ich sah einer magd beim melken zu. ich erinnere mich genau an ihre hände, sie waren fett und knubblig. sie ähnelten den zitzen, an denen sie mit festem griff zogen. der helle milchstrahl spritzte in regelmäßigen intervallen in den blechernen eimer, manchmal, wenn ich nicht genau hinsah, hatte ich den irritierenden eindruck, die milch käme aus den fingern dieser frau. der gedanke gefiel mir, das weiß ich noch ganz genau. die magd hatte eine schürze an. sie saß breitbeinig auf dem melkschemel. ihre fleischigen knie waren sehenswert und imposant, mit ihnen konnten die knie, die ich bisher kennengelernt hatte, nicht konkurrieren. ich stand, aus einem spiel gerissen, nahe bei der kuh und starrte auf die mächtigen schenkel dieser frau. ich hätte ihre haut dort gerne betatscht, nicht aus frühreifen gefühlen, sondern weil mich ihre beschaffenheit interessierte. die schenkel schienen wie ein mit milch gefüllter beutel, dessen hülle mit einem dünnen geäst bläulicher linien verkrakelt war.

dann die folgende situation: sie nahm mich wahr. mit einer lässigen handbewegung spritzte sie scherzhaft mit einer zitze in meine richtung. sie lachte hell, als mich der warme milchschaum ins gesicht traf. ich fand nichts witzig. feuerrote scham brannte auf meinen backen. tränen der wut füllten meine augen. ungerechtigkeit. hilflos, machtlos. kind. sie bemerkte alles. dann sagte sie ernst, und diesen satz kann ich nicht vergessen, ich flüchte zurück zu ihm, wenn ich onaniere. sie sagte:

– so ist das, kleiner. beschissen nicht? sie klatschen es dir ins gesicht und du kannst nichts machen. vergiss es einfach, kleiner.

genau so sagte sie es, mit diesen worten. ich wiederhole, sie sagte es wortwörtlich. es ist seltsam, aber ich habe es wirklich nie vergessen.

ich habe eben zum fenster hinausgesehen, es ist noch immer leer dort unten. bald geht die sonne unter. dann werde ich gehen, den neuen mann hören. IHN.

nein, noch bin ich nicht fertig, noch habe ich nicht alles gesagt.ein paar sätze weiß ich noch, zum beispiel diesen: ich werde sterben.

ich muss ihn erklären. ich werde sterben, weil ich es will. allein das ist entscheidend. wenn ich nicht sterben wollte, würde ich es nicht tun. es gibt alternativen. ich kann die leichen übersehen. so einfach ist das, das habe ich erkannt. man stirbt nicht einfach so. man kann einfach so leben, das geht, das mache ich bisher ja jeden tag, aber es macht mir keinen spaß mehr. gibt es überhaupt etwas langweiligeres.

das ist die reihenfolge, die mir am anfang fehlte, nun kann ich beenden, womit ich begann. erst war langeweile, dann unwohlsein, dann angst, gewöhnung an die angst und wieder nur langeweile, ein teufelskreis. nur einen ausweg gibt es, einen letzten. er löst alle fragen und rätsel und als einziger macht er sinn. es ist der tod. ich werde sterben. was interessiert mich noch das WORT? es ist auch nur wieder etwas neues, das eigentlich etwas altes ist. es hat bereits meinen vater zerstört, und den vater vor ihm. nur klang es damals anders. sie waren selbst schuld. ich werde ihre fehler nicht wiederholen. ich habe lang gebraucht, bis ich erkannt habe, wie alt das WORT ist. es hat mich nicht wirklich überrascht. es war zwangsläufig. damit ging die angst und die langeweile kehrte wieder.

ich werde wohl aus langeweile sterben. ich werde gehen, IHN hören, aufbegehren und sterben, bevor sich das alte wiederholt. ich will das nicht erleben, das nicht. ich werde gehen, diese tür hinter mir schließen, nicht absperren, das macht keinen sinn. aber ordnung muss sein. das sagt auch ER.

der krug wurde lange genug zum brunnen geschleppt.

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