Die Weissensteiner-Literaturtage waren das kulturelle Ereignis des Sommers. Um den eher ermüdenden Lesemaraton der mehr oder meist weniger bedeutenden literarischen Werke der nominierten Autoren herum hatte der Veranstalter – der Weissensteiner-Verein – mit finanzieller Unterstützung einiger Banken und Firmen, die nach dem Follia-Engagement nicht zurückstehen wollten, einiges Sehenswertes auf die Beine gestellt. Die Literaturtage wurden zu einem literarischen Sommersalon aufgeblasen, bei dem die Preisvergabe an den besten Nachwuchsautor sozusagen das Sahnehäubchen sein sollte. Viele renommierte und namhafte Autoren hatten ihr Erscheinen im Rahmenprogramm angekündigt; Siegfried Unselt, Reich-Ranicki, Fritz Raddatz und Harry Rowohlt wurden erwartet, sowie Vertreter von überregionalen Blättern und selbstverständlich auch das Öffentlich-Rechtliche. Dadurch wurde ich plötzlich mit der verblüffenden und schmeichelhaften Tatsache konfrontiert, in Augsburg für eine Weile fast eine Berühmtheit zu werden. Obwohl ich nur eine einzige Geschichte geschrieben hatte und diese auch allen außer Klammer absolut unbekannt war, fühlte ich mich plötzlich in die edle Riege der wenigen ansässigen Literaten aufgenommen. Einige von ihnen, wie Markus Wimperle oder Stefan Kappnath, suchten mit einem Mal meine Nähe und redeten mir schön. Vielleicht war es diesmal umgekehrt und sie wollten auf meinen anfahrenden Zug aufspringen. Ihre Freundlichkeit war mir suspekt, denn ich wusste von den Eifersüchteleien und kleinlichen Streitigkeiten unter den Autoren des Ortes, die lieber einen Arm opferten, bevor sie zugaben, dass ernstzunehmende Konkurrenz für sie existierte.
Jonas Nix ließ in der verbleibenden Zeit nichts mehr von sich hören, er hatte sich wahrscheinlich wieder in sein Schneckenhaus verkrochen und schmierte beleidigt Unappetitliches auf Leinwände. Ich denke, ich wäre auch sehr unfreundlich mit ihm umgegangen, wenn er noch einmal versucht hätte, mich zu überreden, ihm meine Lesezeit abzutreten. Ich konnte im Nachhinein seine aufgeblasene Egozentrik, die man mit einiger Berechtigung Größenwahn nennen konnte, immer weniger begreifen. Jedes Mal, wenn ich an Jonas dachte, krampfte sich Ärger in meinem Magen zusammen. Ich trug allerdings die berechtigte Hoffnung, dass es ihm ähnlich ging.
Eine Woche vor der Lesung rief mich Theresa an. Sie sei jetzt endlich dazu gekommen, meine Geschichte zu lesen und habe sie interessant gefunden, auch wenn es einiges darüber zu sagen und vieles zu kritisieren gäbe. Ich konnte ihrer leisen Stimme anhören, wie sehr sie sich bemühte, sich freundlich und schonend auszudrücken; jedoch verbarg sie hinter dieser Hülle nur unzulänglich, wie sehr ihr mein Text missfallen hatte. Um so höher musste ich es ihr wahrscheinlich anrechnen, dass sie mein Werk gelesen und mit mir darüber sprechen wollte.
»Müssen wir uns denn am Telefon unterhalten? Warum treffen wir uns nicht?«, schlug ich vor, nicht ohne mich vorher durch einen vorsichtigen Blick zu versichern, ob Christine in einem Teil der Wohnung war, in dem sie mich nicht hören konnte. Sie würde nicht eifersüchtig reagieren, denn das gehörte nicht zu ihrem Charakter. Aber mir war selbst nicht wohl bei dem Gedanken, mich in ihrem Rücken mit einer anderen, dabei äußerst attraktiven und intelligenten Frau zu verabreden, von der ich zudem vermutete, dass ich von ihr mehr Verständnis für meine literarischen und künstlerischen Versuche erwarten durfte als von meiner Freundin. Ich will offen zugeben, der Gedanke, mich mit Theresa zu treffen, hatte etwas sehr Verführerisches. Sie gab mir jedoch einen Korb. Sie wirkte aber über die Telefonleitung bedauernd, was mir schmeichelte und eine warmes Gefühl der Zuneigung bereitete.
»Ich denke, das ist im Moment keine sehr gute Idee, wenn ich mich mit dir treffe. Falls Jürgen etwas davon erfährt, wird es wieder Streit geben. Ich weiß zwar nicht, warum, aber er ist sehr wütend auf dich. Hast du ihn etwa schon wieder geärgert?«
»Das Gegenteil ist der Fall. Diesmal bin ich der Beleidigte. Kommst du denn wenigstens zu meiner Lesung?« Für einen Augenblick war Stille in der Leitung.
»Besser nicht …«, sagte sie dann zögernd. Ich hatte den Eindruck, sie verschwieg mir etwas. »Ich hätte zwar wirklich große Lust, auch weil ich gern sehen will, was Jürgen …« Sie beendete den Satz nicht, räusperte sich. »Auf jeden Fall hat er es mir verboten.« Ich hätte einiges darum gegeben, zu erfahren, was Theresa eigentlich hatte sagen wollen. Was sich allerdings hinter ihrem letzten Satz verbarg, empörte mich so, dass ich den Fehler beging, nicht nachzuhaken.
»Höre ich richtig? Er kann dir doch nicht einfach verbieten …« Mir fehlten die Worte. Ich bemerkte Theresas Verwirrung wegen meiner plötzlichen Lautstärke.
»Aber ja«, erwiderte sie einfach, als wäre eine solche Handlungsweise selbstverständlich. Ich antwortete nicht und sie bemühte sich nach einer peinlichen Pause, sich zu erklären. »Doch. Zwischen uns beiden funktioniert es gerade nicht so gut. Jürgen macht eben eine schwierige Phase durch. Er hat seinen Erfolg noch nicht verdaut. Es ist das Beste, wenn ich ihn vorsichtig behandle. Ich will … deswegen nicht meine Beziehung aufs Spiel setzen«, sagte sie langsam und nach einer rationalen Erklärung suchend, wo sie nur ein Gefühl hatte, was richtig und was falsch war. Ich wollte ihr gerade ihr mangelndes Über-Ich zum Vorwurf machen, als Christine zu mir ins Zimmer trat und neugierig die Augenbrauen hob, stumm die Frage formulierend, wer denn am anderen Ende der Leitung sei. Ich schüttelte den Kopf.
»Nun, das musst du wissen.« Ich blieb bewusst allgemein, um meiner Freundin keinen Anhaltspunkt zu geben, mit wem ich sprach. Hätte ich dieses verheimlichende Verhalten erklären müssen, wäre ich in ähnliche Schwierigkeiten geraten wie Theresa bei ihrem Deutungsversuch ihrer sklavischen Unterwerfung vor Nix. Ich wusste nur instinktiv, dass es falsch war, Christine mitzuteilen, mit wem ich telefonierte.
»Nun sei nicht beleidigt«, erwiderte Theresa. »Es ist nur besser, wenn ich etwas zurückstecke. Er ist ein Künstler.« Als würde das etwas erklären! Ich hätte ihr jetzt gerne erzählt, wie Jonas mit der Wirtin im Annapam umging. Es hätte mir Spaß gemacht, ihr zu zeigen, dass er alles andere als ein Gott war, dessen Launen unterstützt oder zumindest ertragen werden mussten, weil er doch ein Künstler war. Kunst darf keine Entschuldigung für einen miesen und schmarotzerhaften Charakter sein. Aber mit meiner Freundin als Zuhörerin war das eben nicht möglich. Zudem ging es mich, vom Verstand her betrachtet, nun wirklich nichts an. Es war Zeit, dieses Gespräch zu beenden.
»Vielleicht sehen wir uns ein andermal«, sagte ich.
»Aber wir wollten uns doch über deine Geschichte unterhalten …«
»Nicht jetzt. Ich habe keine Zeit mehr. Tschüß.«
»Du bist beleidigt«, hörte ich noch, dann legte ich auf. Natürlich wollte Christine sofort wissen, mit wem ich gesprochen hatte. Ich machte eine vage und wegwerfende Handbewegung und nannte den Namen eines Freundes von mir, von dem ich wusste, dass ihn meine Freundin nicht ausstehen konnte und sie deshalb nicht neugierig war, was ich mit ihm zu bereden hatte. Christine erwiderte nichts. Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und sah versonnen und lächelnd auf den Notizblock, in dem ich während meines Telefongesprächs gekritzelt hatte. Ich sah ebenfalls hin und wurde rot. Ich hatte völlig unbewusst ein halbwegs anständiges Portrait von Theresa gestrichelt. Es war nur gut, dass Christine ihr noch nie begegnet war und diese Zeichnung keinem lebenden Menschen zuordnen konnte.
Am frühen Nachmittag des großen Tages wurden Christine und ich standesgemäß von Dr. Klammer in seinem eleganten roten Mercedescabrio abgeholt. Während der kurzen Fahrt gab der glänzend gelaunte Klammer interessante Anekdoten zum Besten, die meine Freundin entzückten und für ihn einnahmen, denen ich aber nur mit einem Ohr lauschte. Ich verpasste deshalb mehrmals die Pointe. Denn ich wurde langsam nervös. Das äußerte sich zuerst in dem irritierenden Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, dann begann mein Frühstück, in meiner Verdauung zu rumoren.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 26)“
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