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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 27)

[Zum ersten Teil]

Der Dr. fuhr uns hinauf zur Kongresshalle, in der die Lesungen stattfinden sollten. In diesem re­präsentativen städtischen Gebäude neben dem scheußlichen “Hotelturm”, der Augsburgs Skyline dominierte,  war der größte Saal angemietet worden. Als wir drei etwa eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung eintrafen, war der Raum noch er­schreckend leer. Er streckte sich auf drei Seiten mit umlaufen­den Galerien zwei Halbgeschosse empor. Endlose Stuhlrei­hen standen vor dem etwas provisorisch wirkenden Bühnenauf­bau. Auf dessen linker Seite thronte einsam ein kleiner Tisch und hinter ihm ein hoher Hocker ohne Lehne. Beide wurden von der Galerie herab mit grellem Licht be­strahlt. Der Be­leuchter unterzog die Scheinwerfer eben einer letz­ten Probe und erzeugte dabei unbeabsichtigt eine unheimli­che Stimmung. Ein paar Lautsprecher machten Rückkopplungsgeräusche; anscheinend war man auch dabei, den Ton abzumischen. Dies da oben, der Barhocker, der war also die unbequeme Sitzgelegenheit der zehn Delinquenten. Auch ich würde später hier sitzen, aus mei­nem unbedarften Gnadengesuch vorlesen und auf die Mil­de der Scharfrichter hoffen, die auf der anderen Seite der Bühne in bequemen Sesseln ruhen, mir ab­gelenkt lauschen und anschließend hämisch ihre Todesur­teile verkünden wür­den. Ich spürte plötzlich die kaum zu beherrschende Re­gung, mich für den Rest des Tages in die abschließbare Ruhe einer Toilette zu flüchten, eine Regung, die ich so­fort als ein Lam­penfieber identifizierte, wie ich noch nie eines ge­spürt hatte. Bei keiner Vernissage meiner Bilder war es mir bisher so schlecht gegangen, denn heute stand ich auf unsicherem, neuem Terrain.

Ich tastete nach der Hand von Christine, die ich ne­ben mir vermutete und deren beruhigende Nähe ich jetzt dringend gebraucht hätte. Aber ich fasste ins Leere. Sie stand bei Klammer und dem Stadtbaurat in einer Ecke des Raumes und unterhielt sich gutge­launt mit den bei­den. Es war ihr anzumerken, wie sehr sie es genoss, ein­mal die Prominenz der Stadt kennenzulernen. Sie sah nicht einmal zu mir her­über. Allerdings spürte ich den spöttischen, nie ganz erklärbaren Blick von Klammer auf mir ruhen. Ihm entging wirklich nie etwas. Er war mir keine Hilfe, wahrscheinlich belächelte er meine Unsicherh­eit. Die etwas paranoide  Vorstellung, er hätte mich absichtlich in diese Situation gebracht, war immer weniger von der Hand zu weisen. Es spielte ger­ne mit Menschen wie mit Marionetten. Das hatte ich schon von mehreren Seiten gehört. Ich schluckte und versuchte damit meine Nervosität zu unterdrücken; mein Mund war staubtrocken. Ich konnte mir im Mo­ment nicht vorstellen, dass ich später bei meiner Lesung auch nur ein Wort heraus­bringen würde, ohne mich auf offener Bühne zu übergeben. Ich war froh, den Lesemarathon nicht eröffnen zu müssen. Ich bekam also die Gele­genheit, mich auf die Situation vorzuberei­ten. Hoffte ich.

Es war freilich nur ein frommer Wunsch, denn als ich dann am Abend in der ersten Sitzreihe im Parkett vor dem recht gro­ßen Pu­blikum neben Markus Wimperle saß und meine Lei­densgenossen einen nach dem anderen hinauf auf die Bühne wandern sah, verschlimmerte sich meine Aufre­gung von Lesung zu Lesung. Es war unerträglich heiß in dem Saal und von irgendwoher roch es manchmal intensiv nach Stall. Da ich in der ersten Reihe saß, konn­te ich leider wenig vom Publi­kum sehen, von dem aber sicherlich der Hauptteil wegen des gesellschaftlichen Anlasses und nicht we­gen der dargebotenen Texte ge­kommen war. Diese stellten sich in der Mehrzahl als recht belanglos und holprig vorgetragen heraus. Bevor jedoch dieser vermeintlich unterhaltsamere Teil mit den Lesungen und den spontanen Kritiken begin­nen konnte, wurden die Gäste durch einige An­sprachen belästigt, die anscheinend bei derartigen Veranstaltun­gen unvermeidlich sind und sozusagen den Grießbrei­rand um das Schlaraffenland bilden. Es sprachen, in der Reihenfolge ihres Auftretens: Der zweite Bürgermeister, da der Erste unabkömm­lich bei einem Vertriebenentref­fen Goldenen Saal war, dann Dr. Pauli in seiner Eigenschaft als Kulturchef der Stadt, danach ein Vor­standsmitglied des Veranstaltervereins und schließlich ein junger dynamischer Mensch von der Pressestelle der Follia-Werke, der dann auch als Moderator fungierte und durch das gesamte Programm führte. Die Rede des zuletzt genannten war noch am besten zu ertragen, da sie amüsant und vor allem kurz war. Auch der zweite Bürgermeister hatte Erbarmen und hielt sich zurück; er wusste eh nichts zum Thema Literatur zu sagen und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Rol­le als unvorbe­reiteter Lückenbüßer.

Furchtbar jedoch war Pauli, er hatte eine ehrgeizi­ge und ausufernde Rede verfasst, die außer einem einge­henden Lebenslauf von Weissensteiner, der eminenten Bedeu­tung der Stadt in der Bayerischen Kunstszene und di­versen Schmeicheleien auf Anwe­sende noch fast das komplette Kulturprogramm sei­ner Partei zum Thema hatte. Obwohl dieses Pro­gramm mehr als mager war, machte er daraus einen üppigen Festschmaus. Ich den­ke, die wenigsten hör­ten ihm wirklich zu. Die sich stei­gernde Unruhe im Raum deutete darauf hin. Aber einen entschiedenen Vorzug hatte Paulis ausufernde Ge­schwätzigkeit, die sogar seine Parteifreunde zum Seuf­zen brachte: Ich hatte die Gelegenheit, mich an meine Si­tuation zu gewöhnen, mein Lampenfieber für eine Wei­le in den Griff zu bekommen und mir die Menschen auf der Bühne genauer anzusehen. Links und rechts von Dr. Pauli saß bereits die Jury, die er sehr ausführlich vorstellte und von denen jeder auf sei­ne Weise mit der Langeweile kämpfte. Auf der einen Seite sassen: Mischka Lob, die Fenrich, die Li­teraturkritikerin unserer grottenschlechten Tageszeitung, die berühmte Autorin Gabriele Hedracher und da­hinter ein Unipro­fessor, dessen Namen ich verges­sen habe; gegenüber hatten der augenblicklich sehr schläfrig wirkende Klam­mer, Stefanie Grammich, eine Buchhändlerin und Her­ausgeberin einer örtli­chen Literaturzeitschrift, dann Emanuel von Dänen, der Großneffe von Weissensteiner und Vorsitzender sowohl der Jury als auch des Träger­vereins und schließlich der alte Karl-Maria Pauli Platz genom­men. Auf die Wirtschaftsgröße aus vergangenen Zeiten war ich besonders ge­spannt gewesen: Ich hatte mir einen dürren, fünf­undsiebzigjährigen Jonas Nix vorgestellt, einen be­eindruckenden Beckett-Typ, den eine Aura von Wis­sen und Macht umgab. Doch er sah nun wirklich nicht wie der Mafia-Seniorchef aus. Er war klein, kahlköpfig, dicklich und insgesamt eher vom guten Leben als von asketi­schen Leidenschaften gezeich­net. Er war rein äußerlich nicht mehr als nur ein alt gewordener Arno Pauli. Jonas hatte seine beeindru­ckenden Gesichtszüge anscheinend aus der Linie des Vaters ererbt.

Schließlich begannen aber doch noch die Lesungen, ob­wohl ich zwischendurch ernste Zweifel daran ge­hegt hatte. Ich wurde in geometrischer Steigerung nervöser. Von den Lesenden kannte ich außer Wim­perle, der di­rekt nach mir als Siebter an die Reihe kommen würde und laut Nix den Preis ja schon in der Tasche hatte, nie­manden. Das lag nicht daran, dass ich nur als Seitenein­steiger zum Schreiben ge­kommen war, sondern in der Hauptsache an einem merkwürdigen Phänomen:  Literaten bilden im Gegensatz zu den Malern oder auch den Musikern keine Gemein­schaft aus, haben kei­nen Verein, der sie vertritt und tun sich auch we­sentlich schwerer damit, eine Öffentlichkeit zu finden. Den Anfang machte eine entsetzlich schüchterne junge Frau, die geradezu bemitleidenswert scheu über ihre Lesebrille hinweg in den Raum sah und ei­nen Aus­schnitt aus einer Geschichte vorlas, in der es irgendwie um einen Baum ging, der aber gleichzeitig eine begeh­renswerte Nymphe war – oder ein Bär. Das war nicht so ge­nau auszuma­chen. Ich bemühte mich zwar redlich, den Texten der anderen zu folgen, hatte aber größte Schwierigkeiten wegen meines Lampenfiebers und meiner allgemeinen Unfähigkeit, jemanden, ohne mit den Gedanken abzu­schweifen, länger und kon­zentriert zuzuhören. Die Au­torin war von der Hedra­cher vorgeschlagen worden, die dann auch ihren im­pressionistischen und nervenzarten Stil lobte. Bei den anderen Jurymitgliedern mit Ausnah­me von von Dänen, der immer lobte, fand die junge Schriftstellerin jedoch keine Gnade und ihr standen Tränen in den Augen, als sie an ihren Platz zurückging. Wimperle flüsterte mir grinsend zu, sie habe ein Verhältnis mit der Hedracher. Der nächste Autor war jung und zornig und gefiel außer Pauli und Klammer jedem.

[Zum 28. Teil …]

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