Der Dr. fuhr uns hinauf zur Kongresshalle, in der die Lesungen stattfinden sollten. In diesem repräsentativen städtischen Gebäude neben dem scheußlichen “Hotelturm”, der Augsburgs Skyline dominierte, war der größte Saal angemietet worden. Als wir drei etwa eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung eintrafen, war der Raum noch erschreckend leer. Er streckte sich auf drei Seiten mit umlaufenden Galerien zwei Halbgeschosse empor. Endlose Stuhlreihen standen vor dem etwas provisorisch wirkenden Bühnenaufbau. Auf dessen linker Seite thronte einsam ein kleiner Tisch und hinter ihm ein hoher Hocker ohne Lehne. Beide wurden von der Galerie herab mit grellem Licht bestrahlt. Der Beleuchter unterzog die Scheinwerfer eben einer letzten Probe und erzeugte dabei unbeabsichtigt eine unheimliche Stimmung. Ein paar Lautsprecher machten Rückkopplungsgeräusche; anscheinend war man auch dabei, den Ton abzumischen. Dies da oben, der Barhocker, der war also die unbequeme Sitzgelegenheit der zehn Delinquenten. Auch ich würde später hier sitzen, aus meinem unbedarften Gnadengesuch vorlesen und auf die Milde der Scharfrichter hoffen, die auf der anderen Seite der Bühne in bequemen Sesseln ruhen, mir abgelenkt lauschen und anschließend hämisch ihre Todesurteile verkünden würden. Ich spürte plötzlich die kaum zu beherrschende Regung, mich für den Rest des Tages in die abschließbare Ruhe einer Toilette zu flüchten, eine Regung, die ich sofort als ein Lampenfieber identifizierte, wie ich noch nie eines gespürt hatte. Bei keiner Vernissage meiner Bilder war es mir bisher so schlecht gegangen, denn heute stand ich auf unsicherem, neuem Terrain.
Ich tastete nach der Hand von Christine, die ich neben mir vermutete und deren beruhigende Nähe ich jetzt dringend gebraucht hätte. Aber ich fasste ins Leere. Sie stand bei Klammer und dem Stadtbaurat in einer Ecke des Raumes und unterhielt sich gutgelaunt mit den beiden. Es war ihr anzumerken, wie sehr sie es genoss, einmal die Prominenz der Stadt kennenzulernen. Sie sah nicht einmal zu mir herüber. Allerdings spürte ich den spöttischen, nie ganz erklärbaren Blick von Klammer auf mir ruhen. Ihm entging wirklich nie etwas. Er war mir keine Hilfe, wahrscheinlich belächelte er meine Unsicherheit. Die etwas paranoide Vorstellung, er hätte mich absichtlich in diese Situation gebracht, war immer weniger von der Hand zu weisen. Es spielte gerne mit Menschen wie mit Marionetten. Das hatte ich schon von mehreren Seiten gehört. Ich schluckte und versuchte damit meine Nervosität zu unterdrücken; mein Mund war staubtrocken. Ich konnte mir im Moment nicht vorstellen, dass ich später bei meiner Lesung auch nur ein Wort herausbringen würde, ohne mich auf offener Bühne zu übergeben. Ich war froh, den Lesemarathon nicht eröffnen zu müssen. Ich bekam also die Gelegenheit, mich auf die Situation vorzubereiten. Hoffte ich.
Es war freilich nur ein frommer Wunsch, denn als ich dann am Abend in der ersten Sitzreihe im Parkett vor dem recht großen Publikum neben Markus Wimperle saß und meine Leidensgenossen einen nach dem anderen hinauf auf die Bühne wandern sah, verschlimmerte sich meine Aufregung von Lesung zu Lesung. Es war unerträglich heiß in dem Saal und von irgendwoher roch es manchmal intensiv nach Stall. Da ich in der ersten Reihe saß, konnte ich leider wenig vom Publikum sehen, von dem aber sicherlich der Hauptteil wegen des gesellschaftlichen Anlasses und nicht wegen der dargebotenen Texte gekommen war. Diese stellten sich in der Mehrzahl als recht belanglos und holprig vorgetragen heraus. Bevor jedoch dieser vermeintlich unterhaltsamere Teil mit den Lesungen und den spontanen Kritiken beginnen konnte, wurden die Gäste durch einige Ansprachen belästigt, die anscheinend bei derartigen Veranstaltungen unvermeidlich sind und sozusagen den Grießbreirand um das Schlaraffenland bilden. Es sprachen, in der Reihenfolge ihres Auftretens: Der zweite Bürgermeister, da der Erste unabkömmlich bei einem Vertriebenentreffen Goldenen Saal war, dann Dr. Pauli in seiner Eigenschaft als Kulturchef der Stadt, danach ein Vorstandsmitglied des Veranstaltervereins und schließlich ein junger dynamischer Mensch von der Pressestelle der Follia-Werke, der dann auch als Moderator fungierte und durch das gesamte Programm führte. Die Rede des zuletzt genannten war noch am besten zu ertragen, da sie amüsant und vor allem kurz war. Auch der zweite Bürgermeister hatte Erbarmen und hielt sich zurück; er wusste eh nichts zum Thema Literatur zu sagen und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Rolle als unvorbereiteter Lückenbüßer.
Furchtbar jedoch war Pauli, er hatte eine ehrgeizige und ausufernde Rede verfasst, die außer einem eingehenden Lebenslauf von Weissensteiner, der eminenten Bedeutung der Stadt in der Bayerischen Kunstszene und diversen Schmeicheleien auf Anwesende noch fast das komplette Kulturprogramm seiner Partei zum Thema hatte. Obwohl dieses Programm mehr als mager war, machte er daraus einen üppigen Festschmaus. Ich denke, die wenigsten hörten ihm wirklich zu. Die sich steigernde Unruhe im Raum deutete darauf hin. Aber einen entschiedenen Vorzug hatte Paulis ausufernde Geschwätzigkeit, die sogar seine Parteifreunde zum Seufzen brachte: Ich hatte die Gelegenheit, mich an meine Situation zu gewöhnen, mein Lampenfieber für eine Weile in den Griff zu bekommen und mir die Menschen auf der Bühne genauer anzusehen. Links und rechts von Dr. Pauli saß bereits die Jury, die er sehr ausführlich vorstellte und von denen jeder auf seine Weise mit der Langeweile kämpfte. Auf der einen Seite sassen: Mischka Lob, die Fenrich, die Literaturkritikerin unserer grottenschlechten Tageszeitung, die berühmte Autorin Gabriele Hedracher und dahinter ein Uniprofessor, dessen Namen ich vergessen habe; gegenüber hatten der augenblicklich sehr schläfrig wirkende Klammer, Stefanie Grammich, eine Buchhändlerin und Herausgeberin einer örtlichen Literaturzeitschrift, dann Emanuel von Dänen, der Großneffe von Weissensteiner und Vorsitzender sowohl der Jury als auch des Trägervereins und schließlich der alte Karl-Maria Pauli Platz genommen. Auf die Wirtschaftsgröße aus vergangenen Zeiten war ich besonders gespannt gewesen: Ich hatte mir einen dürren, fünfundsiebzigjährigen Jonas Nix vorgestellt, einen beeindruckenden Beckett-Typ, den eine Aura von Wissen und Macht umgab. Doch er sah nun wirklich nicht wie der Mafia-Seniorchef aus. Er war klein, kahlköpfig, dicklich und insgesamt eher vom guten Leben als von asketischen Leidenschaften gezeichnet. Er war rein äußerlich nicht mehr als nur ein alt gewordener Arno Pauli. Jonas hatte seine beeindruckenden Gesichtszüge anscheinend aus der Linie des Vaters ererbt.
Schließlich begannen aber doch noch die Lesungen, obwohl ich zwischendurch ernste Zweifel daran gehegt hatte. Ich wurde in geometrischer Steigerung nervöser. Von den Lesenden kannte ich außer Wimperle, der direkt nach mir als Siebter an die Reihe kommen würde und laut Nix den Preis ja schon in der Tasche hatte, niemanden. Das lag nicht daran, dass ich nur als Seiteneinsteiger zum Schreiben gekommen war, sondern in der Hauptsache an einem merkwürdigen Phänomen: Literaten bilden im Gegensatz zu den Malern oder auch den Musikern keine Gemeinschaft aus, haben keinen Verein, der sie vertritt und tun sich auch wesentlich schwerer damit, eine Öffentlichkeit zu finden. Den Anfang machte eine entsetzlich schüchterne junge Frau, die geradezu bemitleidenswert scheu über ihre Lesebrille hinweg in den Raum sah und einen Ausschnitt aus einer Geschichte vorlas, in der es irgendwie um einen Baum ging, der aber gleichzeitig eine begehrenswerte Nymphe war – oder ein Bär. Das war nicht so genau auszumachen. Ich bemühte mich zwar redlich, den Texten der anderen zu folgen, hatte aber größte Schwierigkeiten wegen meines Lampenfiebers und meiner allgemeinen Unfähigkeit, jemanden, ohne mit den Gedanken abzuschweifen, länger und konzentriert zuzuhören. Die Autorin war von der Hedracher vorgeschlagen worden, die dann auch ihren impressionistischen und nervenzarten Stil lobte. Bei den anderen Jurymitgliedern mit Ausnahme von von Dänen, der immer lobte, fand die junge Schriftstellerin jedoch keine Gnade und ihr standen Tränen in den Augen, als sie an ihren Platz zurückging. Wimperle flüsterte mir grinsend zu, sie habe ein Verhältnis mit der Hedracher. Der nächste Autor war jung und zornig und gefiel außer Pauli und Klammer jedem.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 27)“
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