»Ich bin gebührend neidisch und beeindruckt«, erwiderte ich, seinen indignierten Tonfall nachahmend. »Auch wenn ich nicht so ganz verstehe, warum du nicht gerade begeistert klingst. Hast du dir etwa nicht wie wir alle Ruhm und Reichtum gewünscht?« Nix zog verächtlich einen Mundwinkel in die Höhe und sog pfeifend Luft durch die Nase ein.
»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, was ich mir eigentlich wünsche. Wir leben in einem Land, in dem es mir körperlich gar nicht schlecht gehen kann. Wo ich sogar mit einer tödlichen Krankheit ganz gut leben kann. Das hat aber doch wohl mit dem Kunstmachen nichts zu tun, oder? Es schließt einander beinahe aus. Das ist ein innerer Zwang, eine entnervende Qual in mir und kein beliebiger Broterwerb. Das ist ein schrecklicher Gedanke. Im Gegenteil, wenn ich es mir ernsthaft überlege: Die Vorstellung, von meiner Kunst wirklich leben zu müssen, macht mich krank«, stellte er fest und sah mich dabei tatsächlich erstaunt an, als wäre dieser Gedanke für ihn selbst eine Neuigkeit. Ich fragte mich, wovon er dann lebte, wenn nicht von seinen Bildern. Hielten ihn seine reichen Verwandten aus? »Das wollte mein Vater immer«, ergänzte er. »Künstler zu sein, sagte er oft, sei die sicherste Art zu verhungern, nicht die schnellste, aber die sicherste. Für ihn war nur ein reicher Künstler ein guter Künstler.« Er lachte bitter. »Kaufleute! Alles muss sich rechnen.«
»Du hast in deinem Artikel, den du mir vor einiger Zeit zum Lesen gegeben hast, kaum von deinen Eltern gesprochen; das habe ich vermisst. Dabei beeinflussen sie doch im Positiven wie im Negativen wie kaum jemand anderes in den frühen Jahren deine Entwicklung. Ob nun mit ihren Genen oder ihrer Erziehung, das sei dahingestellt. Das sollen die Entwicklungspsychologen unter sich ausmachen. Was für ein Mensch ist denn zum Beispiel dein Vater?«, fragte ich und klang, ich weiß, schrecklich nach Reporter. Ich muss auch zugeben, mich bewog dazu ein professionelles, – ein halb journalistisches und halb literarisches – Interesse dazu bewog: Vielleicht schenkte er mir noch einmal den Stoff für eine Geschichte. Doch diesen Gefallen tat er mir nicht.
»Mein Vater ist seit drei Jahren tot«, antwortete Nix fest und trank von seinem Wein. Eine Pause entstand. »Das ist das Beste, was ich von ihm sagen will und auch das Einzige. Im Übrigen glaube ich nicht an die Delegationsthese von Stierlin«, fuhr er fort, da mir anzumerken war, dass ich doch noch ein wenig mehr hören wollte.
»Und deine Mutter?«, hakte ich nach. Ein weiteres Mal verstand ich nicht, was er mir eigentlich sagen wollte.
»Gott! Mutter!«, entrüstete er sich. »Wollen wir ausgerechnet über meine Mutter reden? Als ob es nichts Interessanteres gäbe. Sind wir heute deswegen hier? Hätte ich der Öffentlichkeit etwas über meine Eltern sagen wollen, dann hätte ich das in meinem Aufsatz getan, der im Übrigen noch nicht einmal veröffentlicht ist, weil der Chefredakteur bei Metropolis schon nach der ersten Ausgabe gewechselt hat. Glaube mir, Georg, ich habe nicht vor, den Leuten die langweilige Wahrheit zu erzählen. Die wollen sie nicht von mir haben. Sie sehen meine Kunst und wollen dazu passende, spannende Geschichten hören. Wichtig ist das Bild, das sie von mir gewinnen, die Mystifikation ist ein unverzichtbarer Teil des Kunstwerks.« Er stockte, kaute nachdenklich an einem Fingernagel. Dabei sah er abgelenkt im Raum herum. Ich blieb stumm, denn ich musste das Gehörte verdauen. »Ich glaube auch: Jeder weiß, dass das zum Spiel gehört«, sagte er nach einer Weile, aufmerksam ein Plakat an der Wand begutachtend und dabei meinen neugierigen Blick ausweichend. Dann schüttelte er den Kopf. »Meine Mutter; ausgerechnet.«
»Dann … dann hast du in deinem Aufsatz gelogen? Deine Kindheit war überhaupt nicht so, wie du sie beschrieben hast? Das war nur ein … ein Märchen?«, fragte ich erstaunt und zweifelnd. Nix wandte mir seine Aufmerksamkeit wieder zu und betrachtete mich interessiert.
»Du klingst entsetzt. Hast du tatsächlich geglaubt, meine Jugend wäre so grauenvoll verlaufen? Du bist naiver, als ich dachte.« Er lachte erneut, diesmal spöttisch. »Weißt du denn nicht, dass jede autobiografische Aufzeichnung gelogen ist und das nicht einmal bewusst? Unser Gehirn betrügt uns ständig, es ist gezwungen, zu interpretieren und fügt deshalb andauernd die Bilder unser Vergangenheit auf Kosten der Wahrheit zu einem einigermaßen sinnvoll erscheinenden Puzzle zusammen. Deshalb stimmen Erinnerungen nur selten mit dem wirklich Erlebten überein. Das nennt man Kryptomnesie.« Nix erzählte mir noch einiges zu diesem Thema, er schien gerade einen Zeitungsartikel darüber gelesen zu haben. Aber ich hörte ihm kaum zu. In diesem Moment war ich wirklich beleidigt und böse auf ihn. Dann aber fiel mir ein, dass es für mich vielleicht das Beste war, wenn er seine Jugendgeschichte erlogen hatte. Wenn dies so war, was ich allerdings bezweifelte, konnte er mir nicht böse sein, dass ich mich mit meiner Erzählung an seinen erfundenen Geständnissen orientiert hatte.
»Aber ich kann dich beruhigen«, fuhr er abschließend fort, »ein wahrer Kern bleibt bestehen. Ist das Ganze auch nicht wahr, habe doch ich es erfunden: Das Gefühl zumindest ist echt, es ist der faule Kern der schönen Frucht. Um es mit Augustinus zu sagen, ist dies alles eben auf eine Weise wahr, weil es auf eine andere Weise falsch ist.«
»Du wolltest mich sprechen«, erwiderte ich, kühl das Thema wechselnd. Er ging sofort darauf ein und nickte nachdenklich.
»In der Tat. Weißt du, wer alles in der Jury der Weissensteinerlesungen sitzt? Ich meine, außer dem Klammer natürlich, dessen Protegé du bist«, fragte er. Mir wurde etwas unbehaglich zumute. Die Namen der Jurymitglieder waren im Gegensatz zu denen der lesenden Autoren noch nicht öffentlich bekannt gegeben worden. Das war Tradition und sollte Einflussnahmen vor Beginn ausschließen. Ich sagte ihm dies. Ob Theresa ihr Versprechen gebrochen und er meinen Text wohl doch gelesen hatte? Nix zuckte mit der Schulter.
»Da zeigt es sich, dass sich eine Verwandtschaft mit dem Kulturreferenten lohnt. Ich kenne die Jury«, erwiderte er gelassen. »Mein Onkel hat mich in die Liste ihrer Mitglieder und der anderen Teilnehmer sehen lassen. Ich war sehr überrascht. Du hast also noch keine Ahnung?« Ich verneinte.
»Neugierig?« Ich nickte unwillig und schürzte die Lippen. Musste er mir eigentlich immer wieder demonstrieren, wie überlegen er war? So schafft man sich keine Freunde. »Weißt du, wer Karl Maria Pauli ist?« fragte er und lehnte sich bequem zurück.
»Du hast mir von ihm erzählt. Er ist dein Großvater.«
»… und einer der reichsten Männer der Stadt, genau. Er ist der Vertreter der Wirtschaft in der Jury.«
»Versteht er denn etwas von Literatur?«, fragte ich, denn ich hatte den Namen dieses Mannes in Zusammenhang mit Kunst noch nie gehört. »Oder ist es nur die übliche Augsburger Klüngelei?«
»Beides. Die Follia-Werke, deren Vorsitzender mein Opa war, haben in diesem Jahr aus Reklamegründen vor, bei den Weissensteiner-Lesungen einen eigenen Preis auszusetzen, fünftausend Mark, um genau zu sein. Das ist nicht überwältigend, aber um sich einen Ruf als Kunstförderer zu besorgen, reicht es aus. Kein Image ist billiger zu haben. Natürlich muss deshalb jemand aus dieser Firma dabei sein. Da mein Opa ein sehr distinguierter, älterer Herr ist, zudem nicht zur Gänze unberührt von Literaturkenntnissen, ist er der ideale Mann, seine Firma zu repräsentieren«, führte Nix aus. Ich schnalzte erfreut mit der Zunge.
»Dann lohnt es sich diesmal also auch finanziell, an den Lesungen teilzunehmen«, stellte ich fest und erfreute mich an dem Wunschtraum, von den ausgesetzten Geldern einen Anteil in die Hände zu bekommen. Natürlich war diese Vorstellung nur eine Schimäre, denn jemand, der zum ersten Mal teilnahm, konnte nicht gewinnen, selbst wenn das Werk, aus dem er las, besser war als das der anderen und nobelpreisverdächtig. Ich habe es schon erwähnt: So funktioniert das hier nicht, nicht in der Musik, nicht in der Malerei und vor allem nicht in der Literatur. Ich konnte mich nur zu gut an die Ausführungen Favelkas zu diesem Thema erinnern. Und Nix zerstörte auch sofort meine Hoffnungen:
»Werde nicht übermütig. Vergiss nicht, dass auch Markus Wimperle liest. Dieser Papagei kann schon jetzt damit beginnen, das Preisgeld auszugeben – so sicher ist es, dass er gewinnen wird.«
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 23)“
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