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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 22)

[Zum ersten Teil]

Ich war noch nie bei dieser Veranstaltung gewesen; war nicht einmal im Publikum gesessen. Ich gebe es zu: Ich klage zwar wie alle anderen über das mangelnde Kunstinter­esse der Bürger von Augsburg – das ist ein unbedingter Reflex bei allen, die in der Schwabenmetropo­le wohnen, ich bringe aber nur selten den Elan auf, an den ohnehin seltenen Veranstal­tungen teilzuneh­men. Dass ich nun dort aus mei­nem unveröffentlichten Erstlingswerk lesen und mich einer Jury stellen durfte, lag, wie gesagt, an Klammer, dem die Wettbewerbs­bedingungen erlaub­ten, einen Schützling vorzuschla­gen. Warum er sich dabei ausgerechnet für mich ent­schied, war eine sei­ner einsamen Entscheidungen, deren Beweggründe wie immer im Dunklen blieben. Da ich mich noch heute mit ihm über meine literarischen Er­zeugnisse austausche und – soweit dies mit ihm über­haupt möglich ist – so etwas Ähnliches wie ein per­sönliches Verhältnis zu ihm aufgebaut habe, glaube ich, er tat es nicht, um sich über mich lustig zu machen. Wahrscheinlich tat ich ihm leid. Wie dem auch sei, ich bekam von ihm eine offizielle Einladung ge­schickt und mein Name erschien bald darauf mit Bild und Kurzbio­grafie in der Zeitung – neben den an­deren glücklichen neun „jungen” und „aufregenden“ Autorentalenten, die in die Shortlist gekommen waren. Dies erreg­te einiges erstauntes Auf­horchen bei meinen Be­kannten und wertete mein ange­kratztes Image or­dentlich auf. Stehst du in der Zeitung, bist du für ei­nen Tag existent, egal, was du vorher ge­macht hast. Es gibt hier am Ort Politiker, die müssen sich min­destens einmal in der Woche im Lokalteil abge­bildet finden, um sich davon zu überzeugen, ob sie noch leben.

Der erste, der mich anrief und mir gratulierte, war Rai­ner Werner. Er hob damit offiziell mein Schreib­verbot bei seiner Zeitung auf und äußerte sich ver­wundert dar­über, dass ich so lange keinen Artikel mehr für ihn ge­schrieben hätte. Es war mir eine Ge­nugtuung, ihn über­heblich und unfreundlich abzu­wimmeln. Das war mei­ne kleine persönliche Rache. Ich muss allerdings einge­stehen, dass ich Werner damit nicht weiter weh tat und nur eine Gelegenheit verpasste, mal wieder auf leichtere Weise Geld zu verdienen. Aber diese Abfuhr, auch wenn sie eine nutzlose Geste war, war ich meiner Selbstachtung schuldig. Meine Freundin sah das übri­gens vollkommen anders.

Der Nächste, der mich anrief und mich um ein drin­gendes Treffen bat, war zu meiner vollkommenen Überraschung Jonas Nix. Er tat am Telefon recht geheimnisvoll und sprach von einer günstigen Gelegen­heit, endlich einmal gemeinsam etwas be­wegen zu können. Er­neut wirkte er so, als habe er keinen Groll mehr gegen mich und freue sich, sich wieder mit mir treffen zu können. Obwohl er mich wortreich zu sich einlud, war mir ein neutralerer Ort mit Publikum lieber. Des­halb verabredeten wir uns für den nächsten Abend im Annapam, einer Studentenkneipe mit Wohnzimmerat­mosphäre in der Altstadt, die auf halb­em Weg zwischen unseren Wohnungen lag.

Obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich auf kei­nen Fall als Erster am Treffpunkt einzufinden und erst zwanzig nach acht in dem Lokal auftauchte, war in der gutgefüllten Gaststube keine Spur von Nix zu entde­cken. Er kam erst gegen neun, als ich bereits darüber grübelte, ob er mich versetzt hatte oder als pünktlicher Mensch längst vor meinem Er­scheinen gegangen war. Ich saß mit meinem Bier re­lativ ungemütlich an einem Tisch bei vier Schülerin­nen, die sich seit geraumer Zeit über Musikgruppen unterhielten, von denen ich noch nie gehört hatte. Es war sonst kein Platz mehr frei.

Als Nix kam, nahm ich mein Bier in die Hand, um mir mit ihm gemeinsam einen neuen Platz zu su­chen, aber er fasste mich geheimnisvoll lächelnd an der Schulter und drückte mich zurück auf den Sitz meines Stuhls. Dann griff er in die weite Tasche sei­nes Blaumanns, den er trug und holte eine ausgebeulte Versandta­sche hervor, die er öff­nete und aus der er etwas zu Tage förderte, das in Form und Konsistenz entschie­den an Hundekot erinnerte. Er ließ das klebrige Zeug nachlässig mitten auf die Tisch­platte klatschen und wischte sich den braunen Schmutz, der dabei an seinen Fingern kleben blieb, wie selbstver­ständlich an der Tischdecke ab. Damit hatte er die unge­teilte Aufmerksamkeit aller. Das Gespräch der Mädchen verstummte sofort. Dann begann Nix tatsächlich ein kurzes Gedicht zu zitieren, das ich als ein Stück von An­dernajs Verbrauchslyrik identifizierte. Es hatte in ge­wohnt direkter, äußerst pornografischer und ekel­erregender Wortwahl einen sodomitischen Verkehr mit ei­ner Dogge zum Thema. Hätte Jonas eine Bom­be am Tisch explodieren lassen, wäre die Wirkung keine ver­heerendere gewesen. Die Schülerinnen be­kamen rote Ohren, starrten atemlos und entsetzt auf den Haufen Schmutz vor ihnen und flüchteten nach einer langen Schrecksekunde in Panik vom Tisch. Sie taten mir leid.

»Nicht wahr, so etwas steht nicht in der Bravo?«, rief Nix ihnen hinterher. »Ihr müsstet mir dankbar sein. Ich habe eurem Leben eine Erfahrung ge­schenkt, eine Erin­nerung, die bleibt.«

Die Mädchen retteten sich wie verschreckte Hüh­ner an die Theke und berichteten aufgeregt der Wir­tin, was dieser Unhold ihnen angetan hatte. Ich er­wartete, dass diese uns wutentbrannt mit einem Lo­kalverbot belegen würde, aber sie lächelte nur, sprach im Gegenteil beru­higend mit den Mädchen, spendierte ihnen ein Getränk und kümmerte sich für den Moment nicht weiter um uns. Nix setzte sich lässig neben mich.

»Das klappt immer, wenn man einen Sitzplatz will«, sagte er. »Freilich muss man wissen, wo man das macht. Ich bin hier ein guter Gast.« Ich konnte mir nicht helfen. Ich musste lachen.

»Was, zum Teufel, ist das?«, fragte ich, vorsichtshal­ber zurückgelehnt, auf den verblüffend echt wirken­den Fä­kalienersatz auf dem Tisch deutend. Nix legte den Zei­gefinger auf den Mund.

»Das ist ein Betriebsgeheimnis«, sagte er. »Aber es sind unter anderem selbstgefertigte Knetmasse, Mondamin – brauner Soßenbinder, Cola und eine Menge aufgeweicht­er Salzstängel drin. Aber nur die vom Aldi kleben richtig gut.« Sorgsam schlug er die Paste wieder ins Pa­pier, schob sie in den Umschlag und zurück in die Ta­sche. »Wenn ich doch auch noch den Geruch hinkrie­gen würde …«

»Dann könntest du gleich echte Scheiße nehmen«, schlug ich vor.

»Wobei wir mal wieder beim Thema sind, nicht wahr? Denkst du wirklich, ich hätte noch nicht dar­an gedacht? Ich glaube allerdings, ich mache mir keine Freunde, wenn ich hier Scheiße auf die Tisch­platte klatsche. Aber natürlich, auf der anderen Sei­te …« Er wollte sich noch näher erklären, aber er unterbrach sich, weil ihm die Wirtin, eine gut kon­servierte Frau Ende Vierzig, persön­lich ein un­bestelltes Glas Wein an den Tisch brachte. Dabei beugte sie sich nahe zu ihm herab, fuhr ihm mit der Hand zärtlich durch das fettige Haar und stellte lei­se mit gutgelaunter Stimme fest, dass er nicht immer ihre Gäste erschrecken solle. Als einzi­ge Antwort um­armte er sie und fasste ihr dabei fest an die fülligen Brüste, wog sie einen Augenblick ge­nießerisch in der Hand. Die von mir erwartete Ohr­feige blieb aus, sie wand sich mühelos und geschmei­dig aus seiner Um­klammerung und tänzelte zurück zur Theke, der ihr fol­genden bewundernden Blicke der männlichen Gäste si­cher. Da ich davon ausging, dass sie sich nicht von allen in dieser Weise betat­schen ließ, war Nix hier offensicht­lich tatsächlich ein guter Gast. Ich fragte ihn nicht, ob Theresa von seinem intimen Umgang mit dieser Frau wusste, denn das ging mich nichts an. Aber neugierig war ich doch. Vielleicht konnte ich aufgrund dieser Beoba­chtung meine Beziehung zu Theresa auf eine andere Stufe stellen. Nix führte also auch ein Boheméle­ben. Das war ein Zug an ihm, der mir neu war. Ich konnte mir allerdings eine anzügliche Bemer­kung nicht verkneifen und beugte mich verschwöre­risch zu ihm:

»Ich sehe, es geht dir nicht schlecht, Jonas«, stellte ich lächelnd fest. Nix kratzte sich am Hals.

»Aber ja. Ich bin gesund, schlafe gut, der Kühl­schrank ist voller Lebensmittel, ich habe regelmäßi­gen Stuhl­gang und Geschlechtsverkehr und meine Bilder verkau­fen sich. Ich habe übrigens die Nach­frage einer Galerie in Sydney erhalten, die sich ernsthaft für meine Kunst interessiert. Auf welchen Wegen die von mir erfahren haben, ist mir ein Rät­sel. Und das Wichtigste: Meine Mutter ist stolz auf mich«, stellte er nachlässig fest. Er klang ein wenig verschnupft.

[Zum 23. Teil]

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