Ich war noch nie bei dieser Veranstaltung gewesen; war nicht einmal im Publikum gesessen. Ich gebe es zu: Ich klage zwar wie alle anderen über das mangelnde Kunstinteresse der Bürger von Augsburg – das ist ein unbedingter Reflex bei allen, die in der Schwabenmetropole wohnen, ich bringe aber nur selten den Elan auf, an den ohnehin seltenen Veranstaltungen teilzunehmen. Dass ich nun dort aus meinem unveröffentlichten Erstlingswerk lesen und mich einer Jury stellen durfte, lag, wie gesagt, an Klammer, dem die Wettbewerbsbedingungen erlaubten, einen Schützling vorzuschlagen. Warum er sich dabei ausgerechnet für mich entschied, war eine seiner einsamen Entscheidungen, deren Beweggründe wie immer im Dunklen blieben. Da ich mich noch heute mit ihm über meine literarischen Erzeugnisse austausche und – soweit dies mit ihm überhaupt möglich ist – so etwas Ähnliches wie ein persönliches Verhältnis zu ihm aufgebaut habe, glaube ich, er tat es nicht, um sich über mich lustig zu machen. Wahrscheinlich tat ich ihm leid. Wie dem auch sei, ich bekam von ihm eine offizielle Einladung geschickt und mein Name erschien bald darauf mit Bild und Kurzbiografie in der Zeitung – neben den anderen glücklichen neun „jungen” und „aufregenden“ Autorentalenten, die in die Shortlist gekommen waren. Dies erregte einiges erstauntes Aufhorchen bei meinen Bekannten und wertete mein angekratztes Image ordentlich auf. Stehst du in der Zeitung, bist du für einen Tag existent, egal, was du vorher gemacht hast. Es gibt hier am Ort Politiker, die müssen sich mindestens einmal in der Woche im Lokalteil abgebildet finden, um sich davon zu überzeugen, ob sie noch leben.
Der erste, der mich anrief und mir gratulierte, war Rainer Werner. Er hob damit offiziell mein Schreibverbot bei seiner Zeitung auf und äußerte sich verwundert darüber, dass ich so lange keinen Artikel mehr für ihn geschrieben hätte. Es war mir eine Genugtuung, ihn überheblich und unfreundlich abzuwimmeln. Das war meine kleine persönliche Rache. Ich muss allerdings eingestehen, dass ich Werner damit nicht weiter weh tat und nur eine Gelegenheit verpasste, mal wieder auf leichtere Weise Geld zu verdienen. Aber diese Abfuhr, auch wenn sie eine nutzlose Geste war, war ich meiner Selbstachtung schuldig. Meine Freundin sah das übrigens vollkommen anders.
Der Nächste, der mich anrief und mich um ein dringendes Treffen bat, war zu meiner vollkommenen Überraschung Jonas Nix. Er tat am Telefon recht geheimnisvoll und sprach von einer günstigen Gelegenheit, endlich einmal gemeinsam etwas bewegen zu können. Erneut wirkte er so, als habe er keinen Groll mehr gegen mich und freue sich, sich wieder mit mir treffen zu können. Obwohl er mich wortreich zu sich einlud, war mir ein neutralerer Ort mit Publikum lieber. Deshalb verabredeten wir uns für den nächsten Abend im Annapam, einer Studentenkneipe mit Wohnzimmeratmosphäre in der Altstadt, die auf halbem Weg zwischen unseren Wohnungen lag.
Obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich auf keinen Fall als Erster am Treffpunkt einzufinden und erst zwanzig nach acht in dem Lokal auftauchte, war in der gutgefüllten Gaststube keine Spur von Nix zu entdecken. Er kam erst gegen neun, als ich bereits darüber grübelte, ob er mich versetzt hatte oder als pünktlicher Mensch längst vor meinem Erscheinen gegangen war. Ich saß mit meinem Bier relativ ungemütlich an einem Tisch bei vier Schülerinnen, die sich seit geraumer Zeit über Musikgruppen unterhielten, von denen ich noch nie gehört hatte. Es war sonst kein Platz mehr frei.
Als Nix kam, nahm ich mein Bier in die Hand, um mir mit ihm gemeinsam einen neuen Platz zu suchen, aber er fasste mich geheimnisvoll lächelnd an der Schulter und drückte mich zurück auf den Sitz meines Stuhls. Dann griff er in die weite Tasche seines Blaumanns, den er trug und holte eine ausgebeulte Versandtasche hervor, die er öffnete und aus der er etwas zu Tage förderte, das in Form und Konsistenz entschieden an Hundekot erinnerte. Er ließ das klebrige Zeug nachlässig mitten auf die Tischplatte klatschen und wischte sich den braunen Schmutz, der dabei an seinen Fingern kleben blieb, wie selbstverständlich an der Tischdecke ab. Damit hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Das Gespräch der Mädchen verstummte sofort. Dann begann Nix tatsächlich ein kurzes Gedicht zu zitieren, das ich als ein Stück von Andernajs Verbrauchslyrik identifizierte. Es hatte in gewohnt direkter, äußerst pornografischer und ekelerregender Wortwahl einen sodomitischen Verkehr mit einer Dogge zum Thema. Hätte Jonas eine Bombe am Tisch explodieren lassen, wäre die Wirkung keine verheerendere gewesen. Die Schülerinnen bekamen rote Ohren, starrten atemlos und entsetzt auf den Haufen Schmutz vor ihnen und flüchteten nach einer langen Schrecksekunde in Panik vom Tisch. Sie taten mir leid.
»Nicht wahr, so etwas steht nicht in der Bravo?«, rief Nix ihnen hinterher. »Ihr müsstet mir dankbar sein. Ich habe eurem Leben eine Erfahrung geschenkt, eine Erinnerung, die bleibt.«
Die Mädchen retteten sich wie verschreckte Hühner an die Theke und berichteten aufgeregt der Wirtin, was dieser Unhold ihnen angetan hatte. Ich erwartete, dass diese uns wutentbrannt mit einem Lokalverbot belegen würde, aber sie lächelte nur, sprach im Gegenteil beruhigend mit den Mädchen, spendierte ihnen ein Getränk und kümmerte sich für den Moment nicht weiter um uns. Nix setzte sich lässig neben mich.
»Das klappt immer, wenn man einen Sitzplatz will«, sagte er. »Freilich muss man wissen, wo man das macht. Ich bin hier ein guter Gast.« Ich konnte mir nicht helfen. Ich musste lachen.
»Was, zum Teufel, ist das?«, fragte ich, vorsichtshalber zurückgelehnt, auf den verblüffend echt wirkenden Fäkalienersatz auf dem Tisch deutend. Nix legte den Zeigefinger auf den Mund.
»Das ist ein Betriebsgeheimnis«, sagte er. »Aber es sind unter anderem selbstgefertigte Knetmasse, Mondamin – brauner Soßenbinder, Cola und eine Menge aufgeweichter Salzstängel drin. Aber nur die vom Aldi kleben richtig gut.« Sorgsam schlug er die Paste wieder ins Papier, schob sie in den Umschlag und zurück in die Tasche. »Wenn ich doch auch noch den Geruch hinkriegen würde …«
»Dann könntest du gleich echte Scheiße nehmen«, schlug ich vor.
»Wobei wir mal wieder beim Thema sind, nicht wahr? Denkst du wirklich, ich hätte noch nicht daran gedacht? Ich glaube allerdings, ich mache mir keine Freunde, wenn ich hier Scheiße auf die Tischplatte klatsche. Aber natürlich, auf der anderen Seite …« Er wollte sich noch näher erklären, aber er unterbrach sich, weil ihm die Wirtin, eine gut konservierte Frau Ende Vierzig, persönlich ein unbestelltes Glas Wein an den Tisch brachte. Dabei beugte sie sich nahe zu ihm herab, fuhr ihm mit der Hand zärtlich durch das fettige Haar und stellte leise mit gutgelaunter Stimme fest, dass er nicht immer ihre Gäste erschrecken solle. Als einzige Antwort umarmte er sie und fasste ihr dabei fest an die fülligen Brüste, wog sie einen Augenblick genießerisch in der Hand. Die von mir erwartete Ohrfeige blieb aus, sie wand sich mühelos und geschmeidig aus seiner Umklammerung und tänzelte zurück zur Theke, der ihr folgenden bewundernden Blicke der männlichen Gäste sicher. Da ich davon ausging, dass sie sich nicht von allen in dieser Weise betatschen ließ, war Nix hier offensichtlich tatsächlich ein guter Gast. Ich fragte ihn nicht, ob Theresa von seinem intimen Umgang mit dieser Frau wusste, denn das ging mich nichts an. Aber neugierig war ich doch. Vielleicht konnte ich aufgrund dieser Beobachtung meine Beziehung zu Theresa auf eine andere Stufe stellen. Nix führte also auch ein Boheméleben. Das war ein Zug an ihm, der mir neu war. Ich konnte mir allerdings eine anzügliche Bemerkung nicht verkneifen und beugte mich verschwörerisch zu ihm:
»Ich sehe, es geht dir nicht schlecht, Jonas«, stellte ich lächelnd fest. Nix kratzte sich am Hals.
»Aber ja. Ich bin gesund, schlafe gut, der Kühlschrank ist voller Lebensmittel, ich habe regelmäßigen Stuhlgang und Geschlechtsverkehr und meine Bilder verkaufen sich. Ich habe übrigens die Nachfrage einer Galerie in Sydney erhalten, die sich ernsthaft für meine Kunst interessiert. Auf welchen Wegen die von mir erfahren haben, ist mir ein Rätsel. Und das Wichtigste: Meine Mutter ist stolz auf mich«, stellte er nachlässig fest. Er klang ein wenig verschnupft.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 22)“
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