Martin sah zu Goschad hinüber. Er steuerte seinen Wagen schweigsam und konzentriert. Auch von dem bisher so geschwätzigen Haschek war nichts zu hören. Und er selbst hatte nicht die geringste Lust, dieses Schweigen zu unterbrechen, er wusste ebenfalls nichts zu sagen. Sie waren alle drei mit den Gedanken längst bei ihrer schmutzigen Arbeit und die damit verbundenen Bilder in ihrer Vorstellung verschlossen ihnen den Mund. Martin wand sich von Goschad ab und sah hinaus auf die Straßen. Sie verließen Oberhausen hinter sich und bogen auf die Bürgermeister-Ackermann-Straße, wo nach dem Abzug der Amerikanischen Armee plötzlich viel Gelände am westlichen Standrand zur Verfügung stand und ein kleiner Bauboom eingesetzt hatte. Im letzten Jahrzehnt war links und rechts der Straße eine Infrastruktur entstanden. Gewerbe hatten sich hier angesiedelt, viele neue Gebäude entstanden auf den alten Truppenübungsplätzen und den ehemaligen Anlagen der Amis. Die Soldatenwohnhäuser wurden modernisiert und in Eigentumswohnanlagen und ein großes Zentrum für betreutes Wohnen umgewandelt. Hier machte Haschek gerade gute Geschäfte. Um so verwunderlicher für Martin, dass er sich auf die Mauscheleien mit den beiden Sonnenheim-Maklern eingelassen hatte. Von denen inzwischen zumindest einer tot war. Wo hielt sich eigentlich der andere auf?
Die drei parkten auf einem in der Nacht vollkommen leeren Lidlparkplatz und Goschad förderte aus dem Kofferraum eine schwere Stablampe, ein Seil und eine große Decke zu Tage, die er an seine Mitverschwörer verteilte. Martin klemmte die zusammengefaltete Decke unter den Arm und fand es interessant, was sein Freund alles in seinem Auto hatte. Dann gingen sie abseits von der vielbefahrenen Straße das letzte Stück zu Fuß, quer durch einen dunklen Park in Richtung Baustelle. Glücklicherweise war in dieser Gegend zu solch einer Uhrzeit niemand mehr unterwegs, denn Martin war sich sicher, dass man ihm sein schlechtes Gewissen ansehen konnte. Am ruhigsten wirkte Goschad, der nur aufmerksam um sich spähte, allerdings etwas gebückter und eiliger als sonst ging. Immer wieder zwirbelte er an den Mundwinkeln seinen dicken Oberlippenbart. Haschek ging den anderen her und als sich Martin im Schein einer Straßenlaterne einmal kurz nach ihm umsah, bemerkte er Schweißtropfen auf dessen Stirn. Er schwitzte wie ein Schwein, obwohl die Nacht unangenehm kalt war.
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Sie schlüpften hinter den Bauzaun, der das entstehende Seniorenzentrum von der Straße abtrennte. Dort mussten sie erst eine Weile stehen bleiben und sich an die Dunkelheit gewöhnen, bis es ihnen möglich war, die Umrisse der Umgebung zu erkennen und sich einen Eingang zu dem Rohbau zu suchen, der sich wie ein schwarzer Klotz vor ihnen aufrichtete. Auf Martin, der ihn zum ersten Mal erblickte, machte er einen düsteren und unheimlichen Eindruck. Dann kniff er geblendet die Augen zusammen, denn Goschad leuchtete zuerst ihm, dann Haschek, der etwas unverständliches murmelte, ins Gesicht. Erst dann ließ er den starken Strahl der Lampe zu Boden wandern. Er drückte dem Architekten die Lampe in die Hand und dieser übernahm nun die Führung. Weiterhin wechselten die drei Männer kein Wort. Zielstrebig ging Haschek durch den vom Regentag aufgeschwemmten Matsch auf das leere Gebäude zu. Martin folgte dem schmatzenden Geräusch seiner Schritte und bedauerte, dass er schon seine neue Hose verdreckte, die er erst eine knappe Stunde trug und noch nicht einmal bezahlt hatte. Haschek verzögerte seinen Schritt erst, als er über ein Brett steigen musste, um in das Haus zu gelangen. Es bog sich unter seinem Gewicht bedrohlich. Um es nicht unnötig zu belasten, wartete Martin, bis Haschek auf der anderen Seite unter dem kahlen Türsturz stand und ungeduldig winkte. Goschad, der direkt hinter martin stand, flüsterte eine bissige Bemerkung und brach damit als erster das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, seit sie das Büro des ermordeten Blücher verlassen hatten. Der Diskothekenbesitzer schien seine Nervosität – falls er überhaupt je eine empfunden hatte – vollständig überwunden zu haben. Vielleicht versuchte er auch nur, sie mit Galgenhumor zu bekämpfen.
Als jedoch Martin über das Brett ging, das der Architekt fürsorglich beleuchtete, wurde ihm im Gegensatz wirklich flau im Magen und auch etwas tiefer im Gedärm rumorte es. Dass ihm Aufregungen ständig auf die Verdauung schlagen mussten! Das musste eine Neurose sein. Schließlich hatte er ja seit zwei Tagen keine Nahrung mehr zu mir genommen. Er spürte auch nicht das geringste Hungergefühl, im Gegenteil, sein Magen krampfte nur aus Angst. Er schluckte seine Anwandlungen hinunter und stellte sich neben Haschek. Goschad war gleich hinter ihm.
»Also«, sagte er, »dann suchen wir uns mal den vierten Mann zum Schafkopfspielen.« Martin war sich zu gut, um auf diesen schlechten Witz zu reagieren. Haschek kicherte einmal nervös auf. Er leuchtete ein wenig herum:
»Das ist die Empfangshalle«, erläuterte er und richtete seine Worte an Martin. »Und hier hinten ist das Treppenhaus. Es hat einen wunderbaren großen Lichthof. Dort …« Er verstummte. Martin nickte ihm freundlich zu. Sogar in dieser Situation war dem Dicken der Stolz über seinen Entwurf anzumerken. Es musste für den Architekten ein wundervolles Gefühl sein, wenn seine Gedankengebäude Reälität annahmen. Goschad klopfte ihm auf die Schulter.
»Aber jetzt!« Sie gingen los. Martin stolperte über etwas am Boden, fast wäre er gefallen.
»Die Fliesenleger sind noch nicht mit dem Fußbodenmosaik fertig«, bemerkte der Architekt und es klang wie eine Entschuldigung. Dann standen sie in dem berüchtigten Treppenhaus und Haschek leuchtete den Boden ab. Marin wusste nicht genau, was er erwartet hatte, das jedoch nicht: Er sah sich um.
»Wo ist er denn?», fragte er etwas dämlich und am Zittern des Lichtstrahls der Stablampe erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Goschad und Haschek sahen sich an. Der Diskothekenbesitzer machte ein paar Schritte in den Raum, sah nach oben.
»Weggeflogen ist er nicht«, stellte er fest. »Da hat uns wohl einer die Arbeit abgenommen. Ein fleißiger und flinker Junge, unser geheimnisvoller Unbekannter …« Er blickte nachdenklich auf seine Uhr. »So lange waren wir doch wirklich nicht weg!«
Haschek hatte sich noch nicht beruhigt. »Aber … warum tut er das?«, fragte er laut und fassungslos. Goschad zuckte mit den Schultern. Dann kam Martin die Erleuchtung.
»Dass ist doch sonnenklar«, sagte er, »das liegt auf der Hand. Den Mörder stört doch ein Leichenfund ebenso wie uns. Der will die Polizei nicht in dieser Sache mit drin haben. Schließlich ist es ja sein Ziel, Sie zu erpressen, Heiner. Das kann er schlecht, wenn man Sie unter Mordverdacht festnimmt.«
»Ja, richtig«, Goschad übernahm Martins Argumentation. «Und da Sie nachweisbar sowohl zu diesem Sonnenheimmakler Peter Schmuck, wie auch mit Blücher in Verbindung standen, würden sich die Bullen zu sehr für Sie interessieren. Das kann dem Erpresser auf keinen Fall recht sein, dann könnte er sich seine Geldforderungen in den Wind schreiben. So gesehen, hat er für Sie die Drecksarbeit erledigt und Sie erst einmal aus der Zwickmühle befreit. Das kostet Sie wahrscheinlich etwas zusätzlich …«
»Dann muss ich also damit rechnen, daß der Mörder sich sehr bald wieder bei mir melden wird?«, fragte Haschek nachdenklich.
»Genau. Und das ist wiederum gut für uns. Sie gehen zum Schein auf alle seine Forderungen ein und wir stellen ihm eine Falle.« Goschad sah sich abschließend um. »Hier gibt es wohl nichts mehr für uns zu tun. Machen wir, daß wir wegkommen, bevor noch ein Nachtwächter auftaucht.«
Er drehte sich um und ging Richtung Ausgang. Martin und der Architekt folgten ihm eilig. Alle drei waren erleichtert, dass der Erpresser für sie die Leiche entsorgt hatte.
Martin ging das alles im Augenblick viel zu glatt. Irgendetwas stimmte nicht: Seit Goschad mitmischte, lösten sich die Schwierigkeiten verdächtig schnell auf. Das konnte natürlich an seiner Geschicklichkeit liegen, aber für seinen Geschmack passte er sich viel zu schnell an neue Gegebenheiten an. Welche Rolle spielte er? Wie hing er mit drin? War er wirklich nur ein Außenstehender, den Haschek und Martin eher zufällig mit in die Sache gezogen hatten? Und wenn er gerade darüber nachdachte, wie stand Martin selbst eigentlich zu Haschek? Er wollte sein Geld, klar. Er hatte sich ja geschworen, den Dicken wie eine Zitrone auszuquetschen, sich zu rächen. Dennoch empfand er jetzt wieder Zuneigung zu dem Architekten. Ähnlich, wie er es vor ein paar Tagen spürte, als sie dessen hässlichen Hund spazieren geführt hatten. Wann war das gewesen? Richtig, erst vorgestern Vormittag. Und am Tag zuvor hatte er mit der Sache noch überhaupt nichts zu tun gehabt. Martin schüttelte den Kopf. Merkwürdig. Ein Leben lang geschieht nichts, doch dann überschlagen sich die Ereignisse, machen die Tage voll. Was wird in zwei Tagen sein, in dreien? War die Sache dann ausgestanden? Hatte Martin dann eine halbe Million Euro auf die Seite gebracht?
Oder war er tot?
Martin zuckte mit den Schultern und folgte den anderen, bevor er sie aus den Augen verlor.
Goschad fuhr das Trio zu Martins Wohnung in der Jakober Vorstadt, da Haschek mit seinen Partnern im Schlepptau nicht bei sich zu Hause aufkreuzen wollte. Das hätte Judith unnötig neugierig gemacht. Oder – falls sie etwas mit den Morden zu tun hatte – gewarnt. Obwohl Martin keine achtundvierzig Stunden gefangen gewesen war, kam ihm seine Wohnung merkwürdig klein und ungewohnt vor. Die Proportionen schienen nicht mehr zu stimmen. Er holte Whisky und stellte ihm mit ein paar Gläsern auf den Tisch.Sich selbst öffnete er lieber ein Bier, da er zu Recht vermutete, dass starker Alkohol nichts für seinen nüchternen Magen und für sein Unwohlsein war.
Haschek schenkte sich sein Glas bis an den Rand voll und leerte es zügig, seine andere Hand hielt dabei noch fest den Flaschenhals gepackt. Dann füllte er sich sein Glas erneut, nahm wieder einen langen Schluck, der es diesmal nicht ganz leerte. Erst jetzt gab er die Flasche an Goschad weiter, der sich einen Fingerbreit eingoss und sich dann erhob, um im Kühlschrank nach Eiswürfeln zu suchen. Er warf Martin bei dieser Gelegenheit einen bedeutungsvollen Blick zu. Ja, Martin erinnerte sich. Am Donnerstag hatte der Architekt ebenfalls viel Schnaps getrunken. Aber er hatte das seiner Aufregung zugeschoben. Doch wie er jetzt den billigen Fusel kippte, dafür konnte keine Erregung verantwortlich sein. Der Mann war ein Alkoholiker. Er hatte für solche Menschen eigentlich kein Mitleid, da sie sich seiner Meinung nach ihre Sucht selbst zuzuschreiben haben. Er sah jedoch bedauernd zu, wie Haschek sich sein drittes Glas füllte. Die Menge, die der Architekt innerhalb kürzester Zeit gekippt hatte, hätte ausgereicht, Martin volltrunken zu machen. Goschad, der aus der Küche zurückkam und mit den Eiswürfeln in seinem Glas klirrte, schüttelte langsam den Kopf. Haschek merkte, dass etwas nicht stimmte und er hob den Kopf, erwischte die vorwurfsvollen Blicke. Seine Augen waren bereits glasig. Doch als er sprach, war seiner Stimme nichts anzumerken.
»Warum starrt ihr mich so an? Kümmert euch … um euren Dreck. Soweit kommt es noch, dass mir einer von euch vorschreibt, was ich zu tun habe. Ihr wollt mich Moral lehren, ausgerechnet ihr?« Er redete sich in einen unglaublichen Zorn. Sein Gesicht wurde rot und geschwollen. Goschad setzte sich ruhig, drehte, beide Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, sein Glas zwischen den Händen. Als einziges Zeichen der Missbilligung hatte er seine Lippen geschürzt. »Gerade ihr zwei … Schaut euch doch an! Ich habe wenigstens Geld. Ihr habt nichts. Ihr seid doch zwei Hunde. die sich um einen Knochen raufen. Ihr seid zwei gemeine … geldgierige …«
»Sagen Sie es nicht, wenn Sie es nicht bereuen wollen. Noch ein Wort und Sie haben uns mal gesehen«, sagte Goschad laut und hart und schnitt ihm damit das Wort ab. Haschek sackte plötzlich kleinlaut in sich zusammen. Einen Augenblick befürchtete Martin, er würde weinen. Aber er hatte sich unter Kontrolle.
»Ja, ist recht. Entschuldigung«, murmelte er. Wenn Haschek gehofft hatte, die Angelegenheit sei damit vom Tisch war, dann hatte er sich in Goschad gewaltig getäuscht:
»Glauben Sie ernsthaft, uns kümmert, wie viel Whisky Sie trinken? Ich bin nicht Ihre Mutter. Wenn es Ihnen gefällt, können Sie sich totsaufen. Aber erst, nachdem das alles erledigt ist. Bis dahin reißen Sie sich gefälligst zusammen!Versuchen sie wenigstens einigermaßen nüchtern zu bleiben, damit ist uns allen geholfen. Wir haben keine Lust, eine Schnapsleiche mit uns rumzuschleppen, die richtigen reichen uns vollkommen. Und überhaupt …«
»Ich werde uns einen Kaffee machen«, unterbrach Martin kurz Goschads Redeschwall und ging hinaus in die Küche, schloss die Tür hinter sich.
Goschad redete weiter, sein Ton war zornig, aber er wollte ihm jetzt nicht mehr bei seiner Gardinenpredigt zuhören. Er stützte sich auf den Küchentisch. Er war müde und gereizt und jetzt – plötzlich – auch sehr hungrig. Also setzte er den Kaffee auf und machte sich ein paar Brote, die er mit einer sich selbst erstaunenden Gier verschlang. Er ließ sich mit dem Kaffee Zeit, brühte ihn so stark wie möglich auf. Zum einen wollte er nicht wieder so schnell ins Wohnzimmer zu den beiden Streithähnen zurück, er wusste aber auch, dass erneut eine lange Nacht bevorstand. Er sah zur Küchenuhr. Es war bereits Montag, es ging auf halb ein Uhr. Ein geregelter Tagesablauf war das nicht gerade.
Als es dann bei den beiden drüben im Wohnzimmer still wurde, kam er mit einem Tablett mit Tassen und dem heißen, duftenden Getränk herein. Goschad schnupperte in der Luft und zwirbelte wieder seine Schnurbartspitze, diesmal jedoch wesentlich vergnügter. Ein wenig Schalk saß ihm in den Augen. Haschek schien er am Boden zerstört zu haben. Martin hoffte, der der Kaffee würde den Dicken wieder etwas aufrichten, doch der war erst einmal so verschüchtert, dass er nur ein wenig an dem gebräu nippte. Dann jedoch zeigte er seinen Trotz und goss den Rest seines Whiskys in seinen schwarzen Sud. Das tat er allerdings nicht, ohne Goschad vorher einen vorsichtigen Blick zuzuwerfen.