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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 24)

[Zum ersten Teil]

»Werde nicht übermütig. Vergiss nicht, dass auch Mar­kus Wimperle liest. Dieser Papagei kann schon jetzt da­mit beginnen, das Preisgeld auszugeben – so sicher ist es, dass er gewinnen wird.«

»Selbst wenn Nikolaus Klammer in der Jury sitzt?«

»Klammer? Ich würde nicht allzu viel von ihm er­warten. Wenn es darauf ankommt, zeigt er sich als Oppor­tunist. Er kann sich auch nichts anderes leis­ten, nach­dem er vor fünf Jahren …« Er stockte. »Du kennst die Geschichte?« Ich schüttelte den Kopf. »Egal. Außerdem hat auch Klammer nur eine Stim­me. Neben ihm sind noch sieben weitere in der Jury. Darun­ter auch Gabriele Hedracher.« Ich pfiff durch die Lip­pen.

»Die ostdeutsche Schriftstellerin?«

»Gibt es denn noch eine andere? In ihrer Eigen­schaft als sporadische Unidozentin und Ehrenvorsit­zende des Augsburger Lehrstuhls für Germanistik bringt sie wirklich Glanz in die Veranstaltung, die auf diese Weise einen überregio­nalen Charakter bekommen hat und in diesem Jahr groß aufgezogen wird. Dass die Hedracher den Vorsitz eines Provinzliteratur­preises übernommen hat, dafür werden sich viele Zeitungen interessieren. Was meinst du, war­um die Follia-Werke ausgerechnet jetzt ihr großes Herz für die Literatur entdeckt haben?«, erklärte Nix und lehnte sich gemütlich zurück.

Das waren Neuigkeiten, die erst einmal verdaut sein wollten. Gabriele Hedracher ist zwar neben Autoren wie Blat­ter, Rosendörfer oder Kirchhoff nur ein Name aus der zwei­ten Liga der Literaten, aber sie war eine jener Personen, die fleißig Bü­cher und Artikel veröffentlichen, wirk­lich von breiteren Schichten gelesen werden und von ihrer Kunst gerade so nicht leben können – weshalb sie nebenzu einem Brotberuf nachgehen. Die Bü­cher der Hedracher sind sicher keine zeitlosen Meis­terwerke, aber sie sind hand­werklich sauber, unterhaltsam und modern und finden in erster Linie in den Neuen Bundesländern viele Leser. Ihren Namen führen viele an, wenn sie von zeitgenössischer deutscher Literatur reden. Deshalb hatte Nix recht: Die diesjährigen Le­sungen waren in der Tat etwas Besonde­res. Die Hoffnung kehrte zu mir zurück. Vielleicht hatte ich mit meinem doch recht konventionell erzählten Erst­lingswerk den Ton getroffen, der der Thüringerin gefiel.

»Da darf ich lesen!«, staunte ich. Nix beugte sich wie­der zu mir.

»Deshalb wollte ich mit dir reden. Ich habe eine große Bitte an dich und ich hoffe wirklich, du wirst für sie Verständ­nis haben und zustimmen. Seien wir ehrlich: Dein kleiner Text ist nun wirklich nichts Besonderes und keine Konkurrenz für die ande­ren, die richtigen Autoren. Ich glaube, Klammer hat dich aus­gewählt, weil er es immer genießt, jemanden in der Öffentlichkeit zu bla­mieren. Mich wundert nur, dass er sich mit dir gemein­sam nach vorn wagt, schließ­lich hat er dich ja vorge­schlagen«, sagte Nix leicht­hin; vielleicht ohne vollkommen zu ahnen, was er mit diesen Worten in mir auslöste. Ich hatte tausend Antworten und beleidigte Einwürfe auf der Zun­ge, aber ich war für den Moment nicht fähig, sie zu arti­kulieren. Deshalb blieb ich stumm und lauschte auf Nix Aus­führungen, gespannt, was er wirklich von mir woll­te. Er nahm mein Schweigen fälschlicherweise als Zu­stimmung; das merkte ich ihm an. Dass jemand nicht seiner Meinung sein konnte, lag auch außerhalb seines Vorstel­lungsvermögens. Das passte nicht in sein Weltbild. Sein überlegenes Lächeln verließ für keinen Augenblick seine Mundwinkel, während er seine Idee erläuterte, während er umständlich begann, mir seine Idee zu erläutern.

»Vielleicht überrascht es dich, aber ich kenne deine Er­zählung. Mein Großvater hat mir seine Kopien der ein­gereichten Werke gegeben. Er wollte meine Meinung. Ich war sehr neugierig auf deine Geschich­te und bin wirklich enttäuscht, weil ich mehr von dir als diese plat­te Pubertätsmoritat erwartet hatte. Ich gebe dir den gu­ten Rat, bei deinen Gemälden zu bleiben. Manche von ihnen haben etwas … Echtes, Persönliches; ein Ge­fühl und einen Geschmack, die sie ein wenig aus der Masse der anderen Bilder heben.« Er dachte kurz nach, während ich dieses vergiftete Kompliment verdaute. »Um ein guter Literat zu werden, müsstest du es lernen, die Menschen näher zu betrach­ten. Und nicht nur dich selbst.«

»Du denkst also, ich hätte eine schlechte Beobach­tungsgabe?«, erwiderte ich eingeschnappt, gleichzeitig auch er­leichtert. Er hatte offenbar nicht bemerkt, dass ich über ihn geschrieben hatte.

»In der Tat. Und ist es nicht mithin die wichtigste und zugleich dankbarste Übung für jeden Künstler, Men­schen zu beobachten?« Obwohl Jonas seine Feststellung als Frage formulierte, schien er keine Erwiderung von mir zu erwarten. Ohne es zu wollen oder noch verhindern konnte, entwischte mir ein breites und überhebliches Lachen. Endlich, dachte ich, weiß ich ein­mal etwas besser als du.

»Die Menschen sind doch in unseren Tagen unin­teressant geworden. Es gibt einfach zu viele. Und je­der sagt und tut immer wieder das selbe wie alle an­deren. Kennst du einen, kennst du alle.« Nix nickte, als habe er diesen Einwand von mir erwartet.

»Ganz, wie du es sagst. Du sollst recht haben«, ent­gegnete er und für einen Moment klang er, als wür­de er mit einem Kind reden, »aber du und ich, wir sind ein Teil dieser Masse. Wir können ihr nicht ent­kommen. Wir können sie nur führen. Manchmal be­schleicht mich der Verdacht, das einzige originäre Empfinden, das sich in den letzten, sagen wir, zwan­zig Jahren entwickelt hat, ist der Vojeurismus – der neugierige Blick auf den ande­ren. Selbst beobach­ten, ohne beobachtet zu werden, das ist doch spätes­tens seit der Einführung des Privatfernseh­ens und dieser merkwürdigen neuen Erfindung des Internets, frühestens seit der gesellschaftlic­hen Tolerierung der Pornografie eine eingeübte, akzep­tierte Verhaltensweise von uns allen. Es gibt nichts In­teressanteres zu sehen, als die von der Norm ab­weichenden Handlungen und Emotionen eines ande­ren. Sonst haben wir doch bereits alles gesehen. Das Kamer­aauge war an jedem Punkt im Makro- oder Mikrokosm­os. Wenn ich will, kann ich Innenaufnah­men von mei­nem eigenen Dünndarm machen lassen und mir als gerahmt­es Bild über mein Bett hängen.« Er machte eine Pause, schürzte die Lippen. Ich hielt seine Ausführun­gen für etwas zusammenhanglos und wahrscheinlich empfand er ähnlich. »Wir haben die Dinge unserer Umgebung und der Na­tur durch die fotomechanische Abbildung getötet, die Originale durch Kopien ersetzt«, fuhr er präzisie­rend fort. »Nur durch die Begegnung mit Menschen, durch ihre Nutzung, treten sie für einen Moment ins Leben, sonst sind sie tot – tot und sterbenslangwei­lig.« Jonas stockte und nickte mir verschwörerisch zu. »Nach so viel Theo­rie gebe ich dir einen Beweis. Schau doch mal zum Ne­bentisch.«

Ich sah schnell zur Seite. Dort saß ein Mann in einem für mich un­definierbarem Alter vor eine Tasse Kaffee. Er war erschre­ckend dünn und seine Wangen eingefallen. Sonst wirkte er auf den ersten Blick nicht weiter auffällig, einzig die grotesk di­cken Brillengläser, die, etwas herabgezo­gen, schwer auf den Nasenflügeln lasteten, waren bemerkenswert. Er blickte stumpf auf die niederge­rauchte Zigarette in sei­ner Rechten und schien völ­lig in Gedanken versun­ken. »Der Mann ist gefahrlos zu beobachten«, erläuterte Jo­nas leise. »Er besitzt das Gesichtsfeld eines Maul­wurfs. Aber er hat gute Ohren.«

Ich sah genauer hin. Auf den zweiten und dritten Blick war zu bemerken, dass die Sehbehinderung des Mannes nicht seine einzige Abnor­mität war. Er hatte einen nervösen Tick und hob immer wieder flatternd einen Nasenflügel. Und er hatte den Tragegurt einer großen Umhänge­tasche um den Hals, sie selbst ruhte auf seinen Oberschenkeln. Die Tasche fiel mir erst jetzt auf, weil er, die Füße angezogen, mit krummem Rücken halb über ihr kauerte. Was sie auch immer ent­hielt, es schien ihm so wichtig zu sein, dass er es mit sei­nem Körper schützte. Er war nicht allzu sauber und für das mo­mentan sommerlich warme Wetter viel zu warm gekleidet. Die Bedienung trat neben ihn und drückte ihm ei­nen kleinen Zettel mit seiner Rechnung in die Hand. Der Mann zuckte erschrocken zusammen, aus seiner Ver­sunkenheit gerissen, befühlte er einen Augenblick zwei­felnd das Papier, dann hob er es zu seinen Au­gen. Um die Zahlen entziffern zu können, musste er mit einer Hand die Brille in die Höhe schieben, mit der anderen den Zettel direkt gegen seine Augen drücken, sich dabei gegen das Licht wendend.

Ich bemerkte, dass ich diesen extrem kurzsichtigen Mann wie eine ausgestellte Monstrosität begaffte und schämte mich plötzlich. Ich sah zur Seite. Doch Jonas packte mich am Arm.

[Zum Teil 25 …]

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