»Werde nicht übermütig. Vergiss nicht, dass auch Markus Wimperle liest. Dieser Papagei kann schon jetzt damit beginnen, das Preisgeld auszugeben – so sicher ist es, dass er gewinnen wird.«
»Selbst wenn Nikolaus Klammer in der Jury sitzt?«
»Klammer? Ich würde nicht allzu viel von ihm erwarten. Wenn es darauf ankommt, zeigt er sich als Opportunist. Er kann sich auch nichts anderes leisten, nachdem er vor fünf Jahren …« Er stockte. »Du kennst die Geschichte?« Ich schüttelte den Kopf. »Egal. Außerdem hat auch Klammer nur eine Stimme. Neben ihm sind noch sieben weitere in der Jury. Darunter auch Gabriele Hedracher.« Ich pfiff durch die Lippen.
»Die ostdeutsche Schriftstellerin?«
»Gibt es denn noch eine andere? In ihrer Eigenschaft als sporadische Unidozentin und Ehrenvorsitzende des Augsburger Lehrstuhls für Germanistik bringt sie wirklich Glanz in die Veranstaltung, die auf diese Weise einen überregionalen Charakter bekommen hat und in diesem Jahr groß aufgezogen wird. Dass die Hedracher den Vorsitz eines Provinzliteraturpreises übernommen hat, dafür werden sich viele Zeitungen interessieren. Was meinst du, warum die Follia-Werke ausgerechnet jetzt ihr großes Herz für die Literatur entdeckt haben?«, erklärte Nix und lehnte sich gemütlich zurück.
Das waren Neuigkeiten, die erst einmal verdaut sein wollten. Gabriele Hedracher ist zwar neben Autoren wie Blatter, Rosendörfer oder Kirchhoff nur ein Name aus der zweiten Liga der Literaten, aber sie war eine jener Personen, die fleißig Bücher und Artikel veröffentlichen, wirklich von breiteren Schichten gelesen werden und von ihrer Kunst gerade so nicht leben können – weshalb sie nebenzu einem Brotberuf nachgehen. Die Bücher der Hedracher sind sicher keine zeitlosen Meisterwerke, aber sie sind handwerklich sauber, unterhaltsam und modern und finden in erster Linie in den Neuen Bundesländern viele Leser. Ihren Namen führen viele an, wenn sie von zeitgenössischer deutscher Literatur reden. Deshalb hatte Nix recht: Die diesjährigen Lesungen waren in der Tat etwas Besonderes. Die Hoffnung kehrte zu mir zurück. Vielleicht hatte ich mit meinem doch recht konventionell erzählten Erstlingswerk den Ton getroffen, der der Thüringerin gefiel.
»Da darf ich lesen!«, staunte ich. Nix beugte sich wieder zu mir.
»Deshalb wollte ich mit dir reden. Ich habe eine große Bitte an dich und ich hoffe wirklich, du wirst für sie Verständnis haben und zustimmen. Seien wir ehrlich: Dein kleiner Text ist nun wirklich nichts Besonderes und keine Konkurrenz für die anderen, die richtigen Autoren. Ich glaube, Klammer hat dich ausgewählt, weil er es immer genießt, jemanden in der Öffentlichkeit zu blamieren. Mich wundert nur, dass er sich mit dir gemeinsam nach vorn wagt, schließlich hat er dich ja vorgeschlagen«, sagte Nix leichthin; vielleicht ohne vollkommen zu ahnen, was er mit diesen Worten in mir auslöste. Ich hatte tausend Antworten und beleidigte Einwürfe auf der Zunge, aber ich war für den Moment nicht fähig, sie zu artikulieren. Deshalb blieb ich stumm und lauschte auf Nix Ausführungen, gespannt, was er wirklich von mir wollte. Er nahm mein Schweigen fälschlicherweise als Zustimmung; das merkte ich ihm an. Dass jemand nicht seiner Meinung sein konnte, lag auch außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Das passte nicht in sein Weltbild. Sein überlegenes Lächeln verließ für keinen Augenblick seine Mundwinkel, während er seine Idee erläuterte, während er umständlich begann, mir seine Idee zu erläutern.
»Vielleicht überrascht es dich, aber ich kenne deine Erzählung. Mein Großvater hat mir seine Kopien der eingereichten Werke gegeben. Er wollte meine Meinung. Ich war sehr neugierig auf deine Geschichte und bin wirklich enttäuscht, weil ich mehr von dir als diese platte Pubertätsmoritat erwartet hatte. Ich gebe dir den guten Rat, bei deinen Gemälden zu bleiben. Manche von ihnen haben etwas … Echtes, Persönliches; ein Gefühl und einen Geschmack, die sie ein wenig aus der Masse der anderen Bilder heben.« Er dachte kurz nach, während ich dieses vergiftete Kompliment verdaute. »Um ein guter Literat zu werden, müsstest du es lernen, die Menschen näher zu betrachten. Und nicht nur dich selbst.«
»Du denkst also, ich hätte eine schlechte Beobachtungsgabe?«, erwiderte ich eingeschnappt, gleichzeitig auch erleichtert. Er hatte offenbar nicht bemerkt, dass ich über ihn geschrieben hatte.
»In der Tat. Und ist es nicht mithin die wichtigste und zugleich dankbarste Übung für jeden Künstler, Menschen zu beobachten?« Obwohl Jonas seine Feststellung als Frage formulierte, schien er keine Erwiderung von mir zu erwarten. Ohne es zu wollen oder noch verhindern konnte, entwischte mir ein breites und überhebliches Lachen. Endlich, dachte ich, weiß ich einmal etwas besser als du.
»Die Menschen sind doch in unseren Tagen uninteressant geworden. Es gibt einfach zu viele. Und jeder sagt und tut immer wieder das selbe wie alle anderen. Kennst du einen, kennst du alle.« Nix nickte, als habe er diesen Einwand von mir erwartet.
»Ganz, wie du es sagst. Du sollst recht haben«, entgegnete er und für einen Moment klang er, als würde er mit einem Kind reden, »aber du und ich, wir sind ein Teil dieser Masse. Wir können ihr nicht entkommen. Wir können sie nur führen. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, das einzige originäre Empfinden, das sich in den letzten, sagen wir, zwanzig Jahren entwickelt hat, ist der Vojeurismus – der neugierige Blick auf den anderen. Selbst beobachten, ohne beobachtet zu werden, das ist doch spätestens seit der Einführung des Privatfernsehens und dieser merkwürdigen neuen Erfindung des Internets, frühestens seit der gesellschaftlichen Tolerierung der Pornografie eine eingeübte, akzeptierte Verhaltensweise von uns allen. Es gibt nichts Interessanteres zu sehen, als die von der Norm abweichenden Handlungen und Emotionen eines anderen. Sonst haben wir doch bereits alles gesehen. Das Kameraauge war an jedem Punkt im Makro- oder Mikrokosmos. Wenn ich will, kann ich Innenaufnahmen von meinem eigenen Dünndarm machen lassen und mir als gerahmtes Bild über mein Bett hängen.« Er machte eine Pause, schürzte die Lippen. Ich hielt seine Ausführungen für etwas zusammenhanglos und wahrscheinlich empfand er ähnlich. »Wir haben die Dinge unserer Umgebung und der Natur durch die fotomechanische Abbildung getötet, die Originale durch Kopien ersetzt«, fuhr er präzisierend fort. »Nur durch die Begegnung mit Menschen, durch ihre Nutzung, treten sie für einen Moment ins Leben, sonst sind sie tot – tot und sterbenslangweilig.« Jonas stockte und nickte mir verschwörerisch zu. »Nach so viel Theorie gebe ich dir einen Beweis. Schau doch mal zum Nebentisch.«
Ich sah schnell zur Seite. Dort saß ein Mann in einem für mich undefinierbarem Alter vor eine Tasse Kaffee. Er war erschreckend dünn und seine Wangen eingefallen. Sonst wirkte er auf den ersten Blick nicht weiter auffällig, einzig die grotesk dicken Brillengläser, die, etwas herabgezogen, schwer auf den Nasenflügeln lasteten, waren bemerkenswert. Er blickte stumpf auf die niedergerauchte Zigarette in seiner Rechten und schien völlig in Gedanken versunken. »Der Mann ist gefahrlos zu beobachten«, erläuterte Jonas leise. »Er besitzt das Gesichtsfeld eines Maulwurfs. Aber er hat gute Ohren.«
Ich sah genauer hin. Auf den zweiten und dritten Blick war zu bemerken, dass die Sehbehinderung des Mannes nicht seine einzige Abnormität war. Er hatte einen nervösen Tick und hob immer wieder flatternd einen Nasenflügel. Und er hatte den Tragegurt einer großen Umhängetasche um den Hals, sie selbst ruhte auf seinen Oberschenkeln. Die Tasche fiel mir erst jetzt auf, weil er, die Füße angezogen, mit krummem Rücken halb über ihr kauerte. Was sie auch immer enthielt, es schien ihm so wichtig zu sein, dass er es mit seinem Körper schützte. Er war nicht allzu sauber und für das momentan sommerlich warme Wetter viel zu warm gekleidet. Die Bedienung trat neben ihn und drückte ihm einen kleinen Zettel mit seiner Rechnung in die Hand. Der Mann zuckte erschrocken zusammen, aus seiner Versunkenheit gerissen, befühlte er einen Augenblick zweifelnd das Papier, dann hob er es zu seinen Augen. Um die Zahlen entziffern zu können, musste er mit einer Hand die Brille in die Höhe schieben, mit der anderen den Zettel direkt gegen seine Augen drücken, sich dabei gegen das Licht wendend.
Ich bemerkte, dass ich diesen extrem kurzsichtigen Mann wie eine ausgestellte Monstrosität begaffte und schämte mich plötzlich. Ich sah zur Seite. Doch Jonas packte mich am Arm.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 24)“
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