Bunte Söckchen – Kurzgeschichte (I)

Das Magazin der Süddeutschen Zeitung hat kürzlich vier Autoren gebeten, eine Kurzgeschichte zu schreiben. Die Vorgabe war, sich von der kürzesten Shortstory aller Zeiten inspirieren zu lassen, nämlich Hemingways: „For sale: baby shoes, never worn.“ Zumindest Zweieinhalb der offenbar etwas irritierten Autoren drückten sich ein wenig ums Thema. Mir hat die Idee jedoch gefallen und ich habe einen verregneten Urlaubsabend genutzt, mich ebenfalls von Hemingways Vorgabe inspirieren zu lassen. Heraus kam eine trotz des Vorwurfs optimistische Kurzgeschichte, deren Anfang ich euch nicht vorenthalten will.

Ich denke, ich werde so etwas jetzt häufiger machen; es gibt da z. B. noch eine wunderbare Kürzestgeschichte von Fredric Brown: „The last man on Earth sat alone in a room. There was a knock on the door.“

Bunte Söckchen – Kurzgeschichte

Der Diktator war tot. Ich hatte ihn überlebt.

Es dauerte einige Tage, bis die Nachrichten von seinem Ableben und der von seinem Nachfolger verkündeten Generalamnestie das Straflager in den Bergen erreichte. Dann ging alles schnell: Panik brach unter unseren sadistischen Bewachern und den Folterknechten des alten Regimes aus. Unterlagen und Beweise wurden in die Stollen des Bergwerks gebracht und der Eingang gesprengt, eilig hat man noch ein paar der üblichen Verdächtigen erschossen, den Medikamenten- und den Waffenschrank geplündert, den Safe mit den Löhnen aufgebrochen, die Lebensmittelvorräte aus der Küche gestohlen. Das alles passierte in rasender Eile in einer einzigen Nacht, während wir von unserer Fron erschöpft wie im Koma auf unseren Pritschen lagen. Wir ahnten nicht, dass dies unser letzter Schlaf in Unfreiheit war. Am Morgen dann erwachten wir Gefangenen – Ex-Gefangenen, sollte ich sagen -, allein im Lager. Die Offiziere und ihre Familien, die Wachmannschaft und die Kapos hatten noch vor Sonnenaufgang jeden fahrtüchtigen Untersatz mit ihrer Beute, den Lebensmitteln und ihren Wertsachen beladen und waren talwärts in neue Leben geflohen. Ich sollte keinen von ihnen jemals wiedersehen.

Ich lag zu jener Zeit bereits seit über einer Woche wegen einer schweren Lungenentzündung im Krankenlager. Es war eine Krankheit, die ich mir in den feuchten Stollen geholt hatte, in denen sie uns „Nicht-Politische“ nach Kohle graben ließen. Ich bestand nur noch aus Haut und Knochen und war noch sehr schwach. Aber ich befand mich auf dem Weg der Besserung. Dennoch hustete ich dem Pfleger noch immer bellend etwas vor und wärmte das Fieberthermometer heimlich im heißen Tee, damit ich noch länger in der Krankenabteilung ausruhen und wieder zu Kräften kommen konnte. Man heißt es wohl eine Ironie des Schicksals, dass heute das Gerücht umgeht, der Diktator sei an einer verschleppten Pneumonie gestorben.

Nun würde ich gerne erzählen, wir wären besser gewesen als unsere Folterherren. Doch nachdem der erste Schock überwunden war und allen deutlich wurde, dass wir zwar frei, aber auf uns selbst gestellt in einer unwegsamen, eisigen Wildnis hockten und am Verhungern waren, machten wir da weiter, wo unsere Bewacher aufgehört hatten. Es war einfach niemand mehr da, der die Autorität besaß, zweihundert verzweifelten Männern zu befehlen. Sie waren entweder durch die Qualen der Gefangenschaft gebrochen oder längst tot und im ausgedehnten Friedhof hinter dem Lager verscharrt.

Es brachen hässliche Tage an. Kaum etwas war von der geflohenen Wachmannschaft übrig gelassen worden, das einen Wert besaß. Aber wir kämpften um jedes Teil, das sie vergessen oder übersehen hatten. Schon ein Stück Draht, ein verbogener Nagel oder ein paar trockene Krümel, die den Boden eines leeren Brotkastens bedeckten, konnten über Leben und Tod entscheiden. Erbittert wurde um Nahrung, jeden Fetzen Kleidung, die letzten Kohlestücke, jede Decke und jedes Laken, die vor der bitteren Kälte schützen konnten, gestritten und gekämpft. Es bildeten sich rasch Banden im Lager, die gegeneinander Krieg führten. Die Opfer des unmenschlichen alten Regimes fielen wie die tollwütige Tiere übereinander her und zerfleischten sich wegen ein paar fauliger Kartoffeln und löchrigen Stiefeln. Soviel zur Solidarität unter den Geknechteten.

Die Krankenstation war unter den ersten Zielen der Plünderer. Nachdem sie wieder mit fast leeren Händen abgezogen waren, lag ich zum Sterben zurückgelassen in einer Ecke des Raums hinter dem Skelett der Pritsche, aus deren Gestell man das Spanntuch herausgeschnitten hatte. Ich hatte mich aufgegeben. Ich blutete aus den Wunden, die meine ehemaligen Leidensgefährten mir zugefügt hatten, als die einen mich verprügelten und die anderen praktisch alles mitgehen ließen, was ihnen noch von Nutzen sein konnte. Das einzige Kleidungsstück, das mir noch geblieben war, war ein auf der Rückseite geknöpftes blaues Krankenhemd, das mir gerade einmal bis zum Gesäß reichte. Vor der Kälte der heranziehenden Nacht, die bereits an die Innenseite der zerbrochenen Fensterscheiben Eisblumen malte, würde es mich nicht schützen können. Ich war zu schwach, um mich aus meiner Ecke fortzubewegen. Die Blutergüsse schmerzten. Wahrscheinlich hatte ich ein paar Rippenbrüche davongetragen und einen verstauchten Knöchel.

Aber während du dies liest, weißt du ja schon, dass ich es überstanden habe. Und ich will dir erzählen, wie das geschah:

Nach eine Weile spürte ich die Kälte nicht mehr und ich wurde schläfrig. Ich wusste, würde ich einschlafen, dann war es das. Ich würde nie mehr erwachen. Es war mir gleichgültig; ich sehnte dieses Ende herbei. Allerdings störte mich plötzlich in meinem Selbstmitleid das immer lauter werdende Jammern einer Person, die offenbar noch näher am Ende ihres irdischen Weges stand als ich.  Was für eine Unverschämtheit! Wie egoistisch kann man denn sein? Nicht einmal an diesem Ort am Ende der Welt lässt man mich ungestört sterben! Ich wurde wütend und mit der Wut kehrten meine Lebenskräfte zurück.

„Mehr Würde!“, rief ich. „Ich möchte in Ruhe sterben.“ Falls ich gehofft hatte, damit das anschwellende Geheul zum Schweigen zu bringen, sah ich mich getäuscht. Die Stimme wurde womöglich noch lauter. Sie schmerzte wie eine Disonanz in meinen Ohren. Ich konnte sie nicht länger ignorieren. Ich atmete die eisige Luft tief ein und richtete meinen Oberkörper auf. Es ging besser, als ich befürchtet hatte und auch die Schmerzen hielten sich in ertragbaren Grenzen. Ich sah mich um. Ans Sterben dachte ich nicht mehr, nur noch daran, die Ruhesörung zu beenden. Merkwürdig. Ich hatte bis jetzt geglaubt, ich würde allein in dem Raum liegen. Ware denn noch jemand außer mir in der verwüsteten und ausgeplünderten Krankenstation? Die Ärzte und Pfleger waren längst geflohen, ebenso, wer von den Kranken noch laufen konnte. Die anderen waren schon längst tot – außer mir und offenbar noch einem weiteren Unglücklichen. Und falls es kein Mensch war, dessen Schreie erklangen, was war es dann? Eine Ausgeburt der Hölle, ein Dämon? Die arme Seele eines an Schwindsucht verblichenen Patienten, die keine Ruhe fand und dazu verflucht war, in den Gängen zu spuken? Das Jammern ging in ein Greinen über und dann schrie ein Säugling. Zumindest hörte es sich so an. Ich konnte es nicht fassen. Dieser langgezogene, erbärmliche Schrei durchbohrte mich wie ein Blitz, brannte in mir und schmerzte mehr als meine gebrochene Rippe. Er beförderte mich zuverlässiger zurück ins Leben und in die Welt, als es ein Medikament oder ein Arzt vermocht hätten.

[Fortsetzung folgt …]

Kommentar verfassen

Related Post

Entdecke mehr von Nikolaus Klammer

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen