Dies ist der letzte Abschnitt von “Die Wahrheit über Jürgen”, den ich auf meinem Blog posten werde. Ende des Monats wird der – selbstverständlich vollständige – Roman als 2. Teil meines “Jahrmarkt in der Stadt”-Zyklus’ veröffentlicht und ist dann überall im Buchhandel als Softcover (270 Seiten) oder als E-Book erhältlich. Im Moment bin ich noch bei den letzten Korrekturen.
Ich habe in den letzten zwei Monaten kein einziges Buch verkauft, was mich ein wenig in eine Schaffenskrise gestürzt habe, aber vielleicht wird ja der Künstler-Roman, der dem Mainstream und der Belletristik zuzuordnen ist, den einen oder anderen Leser finden, der bisher um meine Genreliteratur einen weiten Bogen gemacht hat.
Die Auszüge aus dem Buch werde ich jedenfalls Ende November von meinem Blog löschen – wer das spannende Ende und die Auflösung der Geschichte erfahren möchte, muss sich den Band kaufen.

Vielleicht erhellt die originelle, wenngleich etwas schwer verständliche Laudatio von MBB, die sie in Abwesenheit des Künstlers vor dem nur langsam zur Ruhe kommenden Publikum hielt, etwas von Qualität und Sendung der Kunst von Jonas. MBB begann die Rede, die sie trotz des Manuskripts in ihrer Hand auswendig konnte und frei hielt, mit einem seltsamen Zitat:
»Der Mensch durstet nach dem Bösen, ihn dürstet danach, schuldig zu werden, aber er wagt – oder vermag – es nicht, dem Bösen seine Seele zu verschreiben, er schlägt krumme Wege ein, die Neurose, das Gelächter, usw … So sagt Georges Bataille in einer Geschichte.
Mögen Sie sie auch, diese kaum aussprechbare Abkürzung einer nichtssagenden Floskel, dieses usw., das es auch noch als usf. oder als, besonders schön auszusprechen: u. Ä. gibt. Was wäre ein Schüleraufsatz ohne dieses usw …? Man benutzt es immer dann, wenn man selbst nichts mehr weiß, wenn die Inspiration versagt und man erschöpft den Rest der Gedankenkette der Fantasie des Lesers überlässt. Jeder von uns setzt instinktiv und intuitiv für dieses usw. etwas ein, das ihn persönlich betrifft, es ist eine Art Rorschach-Test mit Buchstaben. Als ich den eben zitierten Satz zum ersten Mal bei Bataille las, ersetzte mein Unterbewusstes das usw. sofort mit dem Wörtchen Kunst. Der Satz las sich dann für mich so:
Der Mensch durstet nach dem Bösen, aber er vermag es nicht, ihm seine Seele zu verschreiben, deshalb schlägt er krumme Wege ein, die Neurose, das Gelächter, die Kunst. Und ich war anschließend von Batailles enttäuscht, weil er auf diesen – nämlich meinen – durchaus freudianischen Gedanken nicht weiter einging, sondern sich im Weiteren nur mit der Neurose und dem Gelächter beschäftigte. Später fand ich dann zu meiner Beruhigung heraus, dass für ihn die Neurose und die Kunst nahezu synonyme Begriffe sind. Neurose ist ihm die Sehnsucht nach der Angst, die Gott hat. Kunst ist also die Sehnsucht nach der Angst Gottes.
Keine Angst, ich habe nicht vor, mit Ihnen über die Schwierigkeiten der Hermeneutik zu reden. Ich bin hier, um Ihnen etwas über die Kunst von Jonas Nix zu erzählen. Und, zu Ihrer Beruhigung, ich bin selbst Künstlerin und werde mich daher kurz fassen. Worte sind wie Gardinen, die man vor Gemälde zieht. Wenn man durch sie hindurchsieht, bleibt das Wesentliche verborgen.
Deshalb komme ich aber an Batailles nicht vorbei, dessen Unbehagen am Dasein eine enge Geistesverwandschaft mit dem Nixschen Behagen an der Besudelung zeigt. Denn Batailles‘ Anliegen war neben dem selbstzerstörerischen Schenken, auf das ich später eingehe, immer in vorderster Front das Tabu und das bewusste Überschreiten und Brechen desselben, um sich durch diese heroische Tat zum Menschsein zu befreien. Klingt Ihnen das zu hochgestochen? Ich kann es auch anders formulieren: Es gibt von Batailles einen Text, in dem jemand seine tote Mutter schändet. Und es gibt von Jonas Nix ein Bild, das er mit seinem eigenen Blut gemalt hat.
Wir loben uns, in einer tabulosen Gesellschaft zu leben, die all die kleinlichen Vorurteile unserer Väter überwunden glaubt. Keine abwegige sexuelle Leidenschaft kann uns noch schockieren, wir sind in der Psychologie unseres Jahrhunderts geschult, haben für alles Verständnis. Keine menschliche Regung ist uns fern. Sind wir also, wie ich formulierte, zum Menschsein befreit? Manche glauben es, aber ich will es stark bezweifeln. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: Wir leben in einer gefesselten, in einer neurotischen, engstirnig bürgerlichen Gesellschaft. Mit unserer freien Sexualität ist es nicht weit her, wir haben sie nur hygienisch und steril gemacht. Wir alle haben den Sex im Hirn, aber das ist der Ort, wo er am wenigsten hinpasst und auch am wenigsten befriedigt wird.
Und daraus lässt sich nur der Schluss ziehen, dass die Tabus der Gesellschaft noch lange nicht gebrochen sind, diese spießige Gesellschaft noch immer die Kraft hat, sie aufrecht zu halten und ihre Verletzung unter Strafe zu stellen. Das Böse ist dabei das kräftigste Tabu. Ich spreche nicht von einem mythischen oder religiös definierten Bösen als Widerpart des guten, aber ängstlichen Gottes, sondern von der gesellschaftlichen Vereinbarung böse, zu der es uns laut Batailles als egoistische Einzelwesen alle hinzieht. Und was ist böse? Es ist vor allem der Tod; er ist der Schaden der Gesellschaft und wir alle haben ihn zur Seite gedrängt, um ihn zu vergessen. Wir würden das Sterben unter Strafe stellen, wenn es einen Sinn hätte. Und gleichzeitig und das ist die Perversion dieses Tabus, sehnen wir uns alle nach dem Tod, denn er ist ein Teil von uns, den wir nur mit Hilfe einer Neurose, eines Gelächters oder eben der Kunst verdrängen können. Er schlummert in jedem von uns, wird jeden Tag ein wenig wacher. Jeden Tag werden wir ihm ein wenig ähnlicher. Da hilft kein Makeup.
Und trotz unseres Ekels vor der Sterblichkeit und der Verwesung gibt es uns einen masochistischen Schauer, erkennen wir uns wieder, wenn wir verstohlen in den Fernseher sehen und uns die Leichen der Kriege, Verbrechen und Unglücke in handliches Format gepackt häppchenweise und farbenfroh vorgeführt werden. Aber nie darüber reden, diese Sehnsucht verschließen wir in uns: Das ist die Neurose, die uns fesselt. Solange wir nicht mit dem Tod umgehen können, werden wir keine Menschen sein. Jonas Nix hat die Überwindung dieser Neurose zu seiner Kunst gemacht. Geben wir zu, seine Bilder und Collagen schockieren uns, es fällt unendlich schwer, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber es ist unsere eigene Einstellung zum Tod, die uns schockiert, die wir nicht sehen wollen, die uns hindert, frei zu werden. Hegel sagt, der Tod sei das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, sei das, was die größte Kraft erfordere. Nix nimmt seinen Kampf mit diesem Schrecken auf, er packt unter Aufbietung seiner Lebenskraft den Tod an den Hörnern und er läd uns alle ein, bei diesem Spektakel zuzusehen. Er macht uns mit seinem Stierkampf ein Geschenk, schenkt uns einen Teil seines Daseins, auch wenn er sich selbst dabei zerstört. Nur wer das Höchste versucht, gewinnt die Freiheit des Menschseins.
Auch das Leben ist ein Geschenk, so trivial es klingen mag. Das Furchtbarste ist nicht, jemandem ein Geschenk wegzunehmen, sondern es ihm kaputt wiederzugeben. Wir alle haben das Geschenk Leben von dieser grausamen, gleichgültigen Gesellschaft kaputt zurückbekommen. Und einmal in dieser mageren Frist zwischen Geburt und Tod, mit der wir so verschwenderisch umgehen, sollte jeder darüber nachdenken, was dies für ihn bedeutet.
Nehmen Sie das Angebot an. Benutzen Sie die Bilder zum Nachdenken, zum Nachfühlen, zum Erleben usw …
Ich danke Ihnen für den kurzen Moment der Aufmerksamkeit.«
[…]
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 37)“
[…] [Zum 37. Teil …] […]