Nach Hans-Dieter Heuns Märchen Das melancholische Bibabirnentalerbutzengirl folgt nun ein weiterer Gastbeitrag; diesmal von einer jungen Autorin, die gerne anonym bleiben möchte und sich deshalb nach einer Figur aus meinen Geltsamer-Romanen Verena Salva getauft hat. Es ist eine intime, melancholische Annäherung an die eigene Kindheit und ihren längst verstorbenen Großvater. Danke für diesen Text, Verena, auch wenn es mich vor Lakritze, besonders in der gesalzenen Version, ziemlich gruselt!
Ich freue mich schon auf die nächste Geschichte und möchte noch einmal meine schreibenden Kollegen an mein Angebot erinnern, dass sie hier auf meinem Blog jederzeit einen Text veröffentlichen können.
Ausflug in die Vergangenheit
Eine Kurzgeschichte von Verena Salva
Immer wenn ich in besonders schlechter Stimmung bin oder sich meine Muse wieder einmal in den Untiefen meiner Seele versteckt hat, greife ich zu einer ganz besonderen Süßigkeit: den Lakritzschnecken. Gerade jetzt, wenn es durchgehend regnet, brauche ich diese Nascherei besonders oft. Mein Freund verschmäht diesen Süßkram. Er versteht nicht, warum ich gerade Lakritze so gerne mag. Erklären kann ich es nicht wirklich. Dennoch – und so lächerlich sich das anhört – fühle ich mich dieser Süßigkeit ganz besonders verbunden …
Es ist bereits dunkel draußen, wieder regnet es. Ich, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, sitze auf dem schweren Ledersofa meiner Großeltern. Die Wochenenden, die ich bei ihnen verbringen darf, gehören zu den glücklichsten Erinnerungen, die ich später an meine Kindheit haben werde. Vorsichtig lege ich meine Hand auf das Fell des belgischen Schäferhundes, der sich neben mir breit gemacht hat. Die große, gelbe Hündin hebt ruckartig den Kopf und sieht mich aus ihren klugen Augen misstrauisch an. Wie immer, versuche ich nicht zurückzuzucken. Nach einem kurzen Augenblick befindet sie meine Berührung als tolerierbar und legt ihren Kopf mit einem leisen Seufzen wieder zurück auf die Sofalehne.
Mein Großvater liegt auf dem Zweiersofa, das im rechten Winkel zur großen Couch ausgerichtet ist und sieht zwischen seinen Füßen hindurch gebannt auf den Fernseher. In meinen Augen hat er unglaublich große Füße und immer stecken sie in den scheußlichen Wollsocken, die meine Urgroßmutter so liebend gern strickt und zu jedem Anlass verschenkt.
Opili (so dürfen wir ihn nennen und eine Zeit lang dachte ich sogar, das sei sein Name) ist ein großer Fußballfan. Er sieht sich jedes Spiel an, das von seiner Lieblingsmannschaft Werder Bremen im Fernsehen übertragen wird. Gerade läuft wieder so ein Spiel und weil ich eben nichts Besseres zu tun habe und das Buch mit den Zwergen dieses Wochenende auch schon durchgelesen habe, schaue ich mit ihm in die Röhre.
Auf dem Bauch meines Großvaters liegt eine Tüte mit Lakritzschnecken. Er isst sie bei jedem Spiel. Ich verstehe nicht, warum er diese Süßigkeit überhaupt mag. Aber er hat viele dieser merkwürdigen Vorlieben: Er isst zum Beispiel zu jeder warmen Mahlzeit Essiggurken aus dem Glas, steht nachts oft auf und macht sich Marmeladenbrote und hat mindestens schon ein Dutzend Mal mit dem Rauchen aufgehört, seit wir uns kennen. Und ich kenne ihn ja nun schon mein ganzes Leben lang.
In genau diesem Moment, als wüsste er, dass ich ihn schon seit einer Weile beobachte, hält er mir die Tüte mit den Naschereien hin. Er sieht mich nicht an und er spricht auch nicht. Bei Fußballspielen darf nicht gesprochen werden, sagt er immer. Das stört seine Konzentration. Schnell beeile ich mich eine Lakritzschnecke aus der Tüte zu fischen. Dabei passe ich mich auf, dass sich meine rechte Hand, die immer noch auf dem Fell der Hündin liegt, nicht bewegt. Sie ist für mich nicht ganz berechenbar und auch, wenn sie nicht beißt, so kann es gut sein, dass sie knurrt, wenn ihr etwas nicht passt. Das will ich nicht, denn erstens erschrecke ich mich dabei immer und zweitens möchte ich meinen Großvater nicht stören. Dieser zieht die Tüte wieder zurück und holt sich unter leisem Rascheln ebenfalls eine Süßigkeit heraus, steckt sie sich ganz in den Mund und kaut darauf herum.
Auch, wenn ich nicht verstehe, warum er Lakritze so gerne mag und sie für mich einfach komisch schmeckt, esse ich sie dennoch. Vorsichtig nehme ich das Ende zwischen die Zähne und rolle die Schnecke auf.
Ich werfe einen hektischen Blick in den Wintergarten. Dort sitzt, bei düsterem Licht und die Lesebrille auf der Nasenspitze, meine Großmutter und liest einen ihrer Heimatromane. Später, wenn ich vierzehn Jahre alt bin, werde ich selbst einmal diese Romane lesen. In dieser Zeit wird kein Buch vor mir sicher sein. Doch auch, wenn ich jeden der Romane meiner Großmutter gelesen haben werde, werde ich nicht verstehen, was sie daran findet. Wahrscheinlich kann ich einfach nicht so gut mit der Protagonistin Erika mitfühlen, die sich einfach nicht zwischen dem Jungbauern Franz und Großstädter Viktor entscheiden kann.
Meine Großmutter sieht nicht auf, als ich zu ihr schaue. Sie hat nicht mitbekommen, dass mein Großvater mir heute zum wiederholten Male eine Lakritzschnecke gegeben hat. Das ist gut so, denn sie sieht es nicht gern, wenn ich diese Süßigkeit esse. Das sei nichts für Kinder, sagt sie immer, und überhaupt sei es ganz schlecht für die Zähne und ich könnte danach ja sowieso nicht schlafen. Das stimmt so nicht, das kann ich bezeugen. Immer, wenn sie mich erwischt, muss ich nämlich ins Bett und ich habe nie Probleme mit dem einschlafen.
Diesmal erwischt sie mich nicht, sie ist zu gefesselt von Erika und ihren Entscheidungsschwierigkeiten, und diesmal muss ich auch nicht ins Bett.
Glücklich kaue ich auf meiner Lakritzschnecke herum, meine rechte Hand liegt immer noch auf dem warmen Fell der Hündin. Und mit einem Mal stelle ich fest, dass ich diese Nascherei sogar ganz gerne mag. Sie gibt mir ein Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit und in über dreiundzwanzig Jahren, wenn ich an meinem Schreibtisch sitzen werde und mich an die Zeit zurück erinnere, werde ich feststellen, dass dies immer noch der Fall ist.
Verena Salva
(Alle Rechte bei der Autorin)