»Da siehst du, wo er unter anderem sein Geld gelassen hat. Schau nur hin, Resa! Die Stereoanlage von Bang & Olufsen hat er sich für das Preisgeld des regionalen Kunstpreises gekauft, nicht so wichtig. Aber die Platten …, weißt du, wie viele das sind?« Theresa stand stumm und staunend, wie erstarrt. Sie war anscheinend wirklich zum ersten Mal in diesem Zimmer. Der Anblick hatte sie vollkommen überrascht. »Der Herr Künstler mag keine CDs, es mussten unbedingt Schallplatten sein. Ich habe mir die Mühe gemacht, sie überschlagsmäßig zu zählen«, fuhr Pauli fort. »In einer Reihe sind es etwa zweitausend Alben und er hat fünf Regalreihen übereinander. Er bewahrt hier übrigens nur klassische Musik auf. Die vier-, oder fünftausend Alben mit moderner Musik im Wohnzimmer, die du sicher kennst und in dem er ja auch eine Stereoanlage hat, wollen wir mal unter den Tisch fallen lassen. Er hat die Sammlung hier alphabetisch sortiert, es ist nicht zu fassen. Dort oben links beginnt er mit Tomaso Albinoni und der Familie Bach, hier unten schließt es mit Vivaldi, Wagner und Ziehrer. Er besitzt allein siebzehn verschiedene Interpretationen von Rachmaninoffs zweitem Klavierkonzert. Siebzehn! Und zehnmal hat er das Deutsche Requiem. Wenn er hintereinander alle Platten hören wollte, wäre er zwei ganze Jahre beschäftigt. Hast du eine Vorstellung, wieviel Geld da an der Wand hängt, weißt du das, Resa? Mit den Platten im Wohnzimmer zusammen hängt da ein Mittelklassewagen!«
Theresa schwieg. Bleich und krank starrte sie auf die endlosen Reihen von Plattenhüllen und es schien, als würde sie sich von diesem Anblick nie mehr losreißen. Ich konnte in diesem Augenblick nachvollziehen, was in ihr vorging: Etwas zerbrach, ein weiteres Kettenglied, das sie mit ihrem Freund verbunden hatte. Viele waren wahrscheinlich nicht mehr übrig. Pauli hatte ihr eine klinische Facette ihres Freundes gezeigt, die für sie absolut neu und dabei erschreckend war. Nix hatte diese krankhafte Sammelwut vor ihr geheimgehalten, sie fühlte sich von ihm betrogen und allein gelassen und fragte sich bestimmt, was sie noch alles nicht von ihm wusste. Sie tat mir leid, aber ich wusste nicht, wie ich sie trösten konnte. Pauli, der ebenfalls bemerkte, was Theresa empfand, riss sie mit beiden Händen an den Schultern herum. Er war noch nicht fertig mit ihr.
»Das hast du nicht gewusst, nicht wahr, wie mein sauberer Neffe sein Geld verschwendet hat?«, sagte er und rüttelte sie, damit sie aus ihrem Tagtraum erwachte. »Ich hatte bis heute auch keine Vorstellung von diesem Abgrund. Aber das ist noch nicht alles. Schau dich um. Hast du eine Ahnung, was eine Wohnung in dieser Lage und Größe monatlich kostet? Ich selbst könnte sie mir nicht leisten. Jürgen wohnt hier seit über einem Jahr und wirtschaftet sie völlig herab. Er hat noch nie daran gedacht, auch nur eine müde Mark als Miete zu bezahlen.«
»Nix hat mir erzählt, er könne hier mietfrei wohnen«, warf ich ein, wollte ihn von Therea ablenken, die er längst waidwund geschossen hatte. Pauli widmete mir einen müden ‚Was, du bist auch noch hier‘-Seitenblick.
»Das war eine Lüge. Er hat einen Mietvertrag mit der Follia-Immobiliengesellschaft wie jeder andere auch. Niemand hat Geld zu verschenken, auch mein Vater nicht. Ich habe eine Aufstellung der Kosten bei mir, sie belaufen sich, abgerundet versteht sich, auf 45.000 Mark. Heute habe ich es endlich geschafft, Jürgen abzupassen und ihm diese Rechnung vorzulegen. Es ist ein verwandtschaftlicher Gefallen von mir, seine Bilder in Zahlung zu nehmen. Ein anderer hätte ihn längst verklagt.«
»Nix ist gerade in München, oder?« fragte ich nach, bemüht, ihn zu einem anderen Thema zu ziehen. Ich hatte Erfolg: Pauli ließ Theresa endlich los und wandte sich zu mir. Ich sah besorgt, wie sie etwas zurück gegen das Regal mit den Schallplatten schwankte und sich unsicher an den Kopf fasste.
»Ja, natürlich, schon seit gestern. Er überwacht die Aufbauten für die Eröffnung seiner Vernissage bei Nasolt & Habek. Wo soll er denn sonst sein? Ich hatte heute Morgen in Schwabing zu tun und dadurch die Möglichkeit …«
»Wie sah er aus?«, unterbrach ich ihn. Pauli zog eine Braue in die Höhe, denn er war daran gewöhnt, dass man ihn respektvoll aussprechen ließ. Aber er antwortete friedlich:
»Wenn Sie mich schon fragen: Ganz schrecklich. Er war unrasiert, übernächtigt, er roch nach Schweiß und war sehr gereizt und unfreundlich. Er scheuchte die Beleuchter wie eine Hammelherde herum. Ja, die Herren Künstler …« Er seufzte wissend. »Stellen Sie sich vor, er hatte an beiden Händen einen dreckigen Verband, als hätte er sie sich an einer Herdplatte verbrannt.« Ich war nicht so sehr mit Paulis Geschwätz beschäftigt, um nicht auch gleichzeitig auf Theresa zu achten. Bei der Erwähnung des Verbandes bekam ihr Gesicht die Farbe einer Käsekuchenfüllung. Sie ruderte hilflos und abwehrend mit einer Hand, dann verließ sie die Kraft. Ich trat rechtzeitig einen Schritt auf sie zu und fing die Fallende auf. Merkwürdig schlaff und weich hielt ich sie in meinen Armen. Sie war zwar bei Bewusstsein und betrachtete mich mit einem starren, erstaunten Blick, dennoch konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten, sie atmete flach und hektisch. Ich strich ihr sanft über das Haar, um sie zu beruhigen. Ihre Stirn glühte. Pauli verstummte und betrachtete uns beide wie eine anstößige Skulptur.
»Das wird dieser Gestank hier sein!«, stellte er beinahe mitleidig fest. »Weshalb muss dieser Idiot von einem Neffen auch ausgerechnet echte Knochen aus dem Schlachthof für seine Collagen benutzen?« Theresa stöhnte mitleiderregend und verdrehte die Augen, das war keine Replik auf Paulis Bemerkung, sondern ein Zeichen, dass es ihr noch schlechter ging. Ich nahm sie in die Höhe. Theresa war erstaunlich leicht. Ich trug sie hinaus in den Gang, hinüber zu Nix’ Atelier, das ich als den lichtesten und freundlichsten Raum der Wohnung in Erinnerung hatte. Ich stieß die Tür auf. Es fehlte nicht viel und ich hätte vor Überraschung meine Last fallen gelassen. Ich keuchte entsetzt auf. Es war grauenvoll:
Alle Wände und Fenster waren rot beschmiert, wie von blutigen Händen besudelt. Und in der Mitte des Raumes lag auf dem Parkett ein ausgeweidetes Kalb; die grünliche, verwesende Eingeweide war bedeckt von Fliegen und Maden. Es roch schrecklich nach Leim und Urin. Theresa schrie und wurde ohnmächtig.
Pauli und ich brachten Theresa sofort in seinem Wagen zu ihren entsetzten Eltern, die die Erschöpfte, die nun ein fiebriger Schüttelfrost quälte, sofort zu Bett brachten. Sie hielten sie auf Anraten des Hausarztes dort über eine Woche fest, was sich nachträglich als das Beste herausstellte, was sie hätten tun können. Pauli ließ mich vor der Vorstadtwohnung ihrer Eltern stehen. Er dachte überhaupt nicht daran, mich wieder in die Innenstadt mitzunehmen. Er stieg grußlos in seinen Wagen und fuhr einfach davon.
Ich schimpfte ein wenig. Dann machte ich mich ergeben auf den langen, trübsinnigen Heimweg. Nicht zuletzt durch die Stimmung des grauen, kühlen Herbsttages fand ich immer deutlicher zu der Ahnung, dass etwas Unangenehmes, Gefährliches in der Luft lag. Ich hatte die Vorzeichen einer herannahenden Katastrophe erlebt, die nun wie eine drohende Gewitterfront in der Atmosphäre hing. Ich kann nicht sagen, woher diese Empfindung kam, aber sie verstärkte sich während meines tristen Fußmarsches durch die leere Vorstadt. Und es war nicht nur die Kälte in der Luft, die mich frösteln ließ. Ich wusste, das letzte Kapitel stand unmittelbar bevor.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 34)“
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