Ich entschloss mich, mit Nix selbst zu reden und ihm von dem Vorfall in seiner Wohnung zu berichten. Ich fand, das sei ich ihm und vor allem seiner Freundin schuldig. Gerade zu ihr und zu ihrer Lage empfand ich ein wütendes Mitleid. Also rief ich von der nächsten Telefonzelle, der ich begegnete, die MBB an, von der ich ja wusste, dass sie zur Vernissage nach München fahren würde. Ich wollte sie fragen, ob sie mich mitnehmen könnte. Zu meinem Glück war sie inzwischen aus ihrem Studio heimgekehrt und es machte sich bezahlt, dass sie eine ziemlich intime Vorliebe für mich hatte. Sie erbot sich sogar, am Abend extra einen Umweg zu machen und mich von daheim abzuholen. Allerdings müsse ich ertragen, dass sie auch die Winther-Brüder, die eine Einladung von Nix hatten, mitnehmen würde; sie habe es den beiden in einem leichtsinnigen Moment, den sie inzwischen bereue, versprochen. Diese Tatsache war für mich fast der Grund, mit der Bahn in die Landeshauptstadt zu fahren, aber die Leere in meinem strapazierten Geldbeutel trug den Sieg über die durch die Brüder zu erwartenden Nervenschäden davon. Ich biss in den sauren Apfel, eine knappe Stunde mit ihnen auf der Autobahn verbringen zu müssen und dabei ihrem Geschwätz schutzlos ausgeliefert zu sein.
Es ging bereits auf fünf Uhr, als ich endlich wieder zu Hause war. Ich hatte keinen Hunger; mir war im Gegenteil übel und schwindlig. Obwohl ich weder verschwitzt noch schmutzig war, fühlte ich mich unsauber und hatte das paranoide Gefühl, der Geruch von Nix Bildern würde noch an mir haften. Er hing trotz meines langen Fußweges noch immer aufdringlich in meiner Nase. Ich duschte daher intensiv und wechselte meine Kleidung. Dann erst lud ich meinen inneren Müll bei Christine ab, die geduldig auf ein paar Erklärungen für mein absonderliches Verhalten wartete. Es war Zeit, mich mit ihr auszusprechen. Ich hatte das klärende Gespräch schon allzu lange hinausgezögert. Ich erzählte Christine endlich von Theresa und berichtete ihr dann von den seltsamen Ereignissen des Tages, versuchte sie und wohl auch mich selbst von ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen. Dass sie eben erheblich merkwürdiger aussahen, als sie es in Wirklichkeit waren, dass alles eine Gaukelei war wie dieser geschlachtete, geplatzte Kadaver, der mich und Theresa auf den ersten Blick so erschreckt, sich dann aber mitsamt den Schmeißfliegen auf dem Gedärm als eine geradezu geniale Attrappe aus Wachs, Draht, Farbe und Pappe herausgestellt hatte. Es war eine Arbeit, die Nix Wochen, wenn nicht Monate beschäftigt haben musste.
Dennoch blieb mir ein bohrendes Unbehagen, denn die verschmierten, geronnenen Blutspuren an den Wänden und Fenstern des Ateliers, die merkwürdige archaische Formen und obzöne Wörter nachbildeten, waren meiner Meinung nach echt gewesen. Hatte Pauli nicht erzählt, Nix hätte verbundene Hände? War der Maler nach dem Streit mit Emilio Parma wieder in einen Selbstgeißelungswahn verfallen, hatte er sich mit seiner Rasierklinge die Handflächen zerschnitten und dann sein Atelier auf diese grausige Weise geschmückt? Die Diagnose meiner Freundin war kurz und vernichtend: Sie hielt Nix für geisteskrank oder zumindest für schwer verhaltensgestört. Er stelle eine Gefahr für sich und andere dar; eine Bedrohung, die man auf dem schnellsten Wege in eine geschlossene Anstalt zu schaffen habe. Ich wollte es bei weitem nicht so krass sehen, war aber durch die groteske Schallplattensammlung und das viele Blut unsicher geworden. War Nix noch ein um Wahrheit und Erkenntnis ringender Künstler, der auf seiner Suche außergewöhnliche, radikale Wege einschlug? Oder war er tatsächlich schlicht verrückt geworden – hatten ihn seine tägliche Beschäftigung mit den Nachtseiten der menschlichen Existenz, sein intimer Umgang mit Tod, Blut und Verwesung und der Druck von Öffentlichkeit und reicher Verwandtschaft um den Verstand gebracht? Hatten ihn seine Mühlräder zermalmt? Ich weiß das heute noch nicht endgültig zu beantworten. Ungeduldig fieberte ich auf mein Treffen mit ihm hin.
Kurz nach sieben Uhr holte mich dann die MBB wie versprochen ab. Sie tat mir den Gefallen und ließ mich vorne bei ihr sitzen. Die Winther-Brüder – die es ja nur im Doppelpack gibt – hatten es sich bereits auf dem Rücksitz bequem gemacht. Obwohl sie zwei Jahre auseinander sind, gleichen sie sich von Natur aus wie eineiige Zwillinge. Da diese Ähnlichkeit aus irgendeinem dunklen Grund den beiden Unzertrennlichen nicht gefällt, hatten sie sich mal wieder in dem Versuch lächerlich gemacht, sie zu verbergen. Der jüngere, nämlich Hans-Albert, hatte sich bemüht, seinen spärlichen Haarwuchs durch eine kurzgelockte Dauerwelle zu beschönigen und sein Bruder Jochen-Maria trug einen dunklen, ebenso unecht wirkenden Schnauzbart. Beide dufteten frisch gewaschen und waren unauffällig, aber doch sichtbar geschminkt, was ihnen eine reichlich dekadente, transsexuelle Aura verlieh. Doch an diesen Anblick war man gewöhnt, er erzeugte nicht jenes kaum beherrschbare Gefühl in mir, jeden Moment in schallendes und kränkendes Gelächter ausbrechen zu müssen. Nein, der Grund war die Kleidung der beiden, die sie sich für diesen Abend gewählt hatten: Sie hielten sie sicher für exzentrisch und extravagant, einer aufsehenerregenden Vernissage in München angemessen. Aber sie war grauenvoll kindisch und komisch. An Jochen-Maria fiel fiel mir zuerst ein zylindrisches, samtrotes Ungetüm von Kopfbedeckung auf, das er, wohl um seinen ebenfalls schütteren Haarwuchs zu verbergen, im Auto nicht abgenommen hatte. Er war deshalb gezwungen – halb auf seinem Bruder liegend –, den Kopf unbequem zur Seite gekippt, die ganze Fahrt über geduldig in dieser Stellung auszuharren. Er trug eine Art von römischer Tracht, nämlich Toga und Tunika in einer herrlichen Farbkombination, in speichelgrün und eitergelb, wie er in aller Ausführlichkeit erläuterte. Das sollte seine spöttische Hommage an Jonas Nix sein. Er hatte auch stilechte Sandalen an und fror erbärmlich, auch wenn er das nicht zugab. Man konnte die Gänsehaut sehen, die seine Beine und Arme empor kroch. Hans-Albert war wärmer, aber nicht weniger erheiternd bekleidet. Er trug einen schwarz-rot-goldenen Pullover, der selbstgestrickt aussah und dazu einen, man höre und staune, karierten, knöchellangen Rock, der das Feminine seiner Gestalt unterstrich und von ihm selbst als mitteleuropäischer Herbstkilt bezeichnet wurde. Natürlich hatte er Stiefel mit hohen Pfennigabsätzen an. Die Brüder Winther wohnten zusammen in einem Haus in der Bleiche, in dem sich auch ihre gemeinsame Galerie befand. Sie bezeichneten sich beide als Maler. Obwohl der Ältere sich auf Akte und der Jüngere auf Landschaften spezialisiert hatte, waren ihre durch Verwendung von Naturmaterialien schmutzig-erdbraunen Bilder einander zum Verwechseln ähnlich. Beider Arbeiten waren durchaus geschmackvoll und dekorativ, waren aber, da sie ihren Stil seit Jahren selbst kopierten, doch mehr als Kunsthandwerk einzuschätzen. Dies jedoch im besten Sinne des Wortes. Selbstverständlich waren sie da völlig anderer Meinung und verkünden überall, wo sie auftauchen, überzeugt und unüberhörbar ihre seltsame Kunsttheorie. Jedes Gespräch bogen sie innerhalb kürzester Zeit daraufhin um. Ihre Meinung war, wenn man sie zum ersten Mal hörte, zwar abwegig, aber durchaus noch interessant, auch beim zweiten Mal ließ sich noch gut über sie reden. Inzwischen hatte ich ihr Thema aber sicherlich schon zwanzig Mal gehört und eine gepflegte Langeweile machte sich im Auto breit, als die beiden prompt – wir waren noch nicht einmal aus der Stadt heraus – wieder damit begannen, mir und der MBB auseinanderzusetzen, was man unter Vererdung, Verschlammung und tektonischer Leidenschaft der Verwerfung in ihrer Kunst zu verstehen habe. Zudem waren sie wie immer einer Meinung und bestätigten sich einander in ihr. Da MBB sich stumm mit dem Lenkrad beschäftigte, war ich mit den beiden Schwätzern allein gelassen, deren rein physische und vor allem rhetorische Überlegenheit es mir verwehrte, auf ein anderes Thema abzuweichen. Leider war es auch nicht möglich, die beiden als eine Art von lästiger, aber unvermeidbarer Störung zu betrachteten, die man stumm von den eigenen Gedanken abgelenkt ertragen kann, da sie sehr wohl darauf achteten, dass ihr jeweiliger Gesprächspartner ihren Gedankenflügen folgen konnte und sich zu ihnen äußerte.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 35)“
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