Der Prolog der großen Brautschau-Saga
Mánis Fall
Weil Fabia zu lange geschwiegen hatte, übernahm automatisch die künstliche Intelligenz ihres Kanals für sie und ließ den Avatar aus dem Aphorismenspeicher des echten Philosophen diesen endlosen Satz zitieren, damit keine Pause entstand und sich die Follower langweilten. Obwohl die KI dabei vollkommen zufällig vorging, erschien Fabia das Gesagte doch erstaunlich passend.
»Ich bin in eine Welt geworfen, die ich mir nicht ausgesucht habe«, nahm sie den Ball auf, den ihr der Franzose über den Abstand von vielen Jahrhunderten hinweg zugeworfen hatte, »und ich habe lange in dieser Welt gelebt, als wäre sie eine Selbstverständlichkeit, als gäbe es nur diese eine. Doch nun wird sie mir genommen – oder besser gesagt, kaputtgemacht. Das größte Verbrechen ist es nicht, jemanden etwas zu nehmen, sondern es ihm kaputt wiederzugeben. Und dabei bin ich …« Sie zögerte.
Während Fabia nach den richtigen Worten suchte, mit denen sie ihre verworrenen Gedanken deutlicher formulieren konnte, sah sie, wie die Anzahl ihrer Zuschauer rapide kleiner wurde und dann plötzlich auf 0 fiel. Sie verstummte erstaunt mitten im Satz. Das war ihr noch nie passiert. Selbst wenn sie angetrunken den größten Mist von sich gab, hielten ihr ein paar dort draußen in der weiten Welt standhaft die Treue. Sie fühlte sich ein wenig beleidigt.
»AUSKUNFT!«, wandte sie sich deshalb direkt an die zentrale Informationsplattform und Suchmaschine des internationalen Computerdienstes I-Net. Erneut musste sie einige Zeit warten und der kreisenden, anachronistischen Platine zusehen, bis eine Verbindung zustande kam. Aber das hatte sie bei der Aufregung, die im Moment herrschte, erwartet. I-Net schuftete gerade sicherlich am äußersten Rand seiner Leistungsfähigkeit und alle LAN-Kabel, Router, Server und Knotenrechner auf der Erde liefen heiß. Endlich erschien eine plastische, aber vollkommen geschlechtslose, in eine schlicht, weiße Mönchskutte gehüllte Gestalt auf der Bildschirmfolie von Fabias Augreyes, die wie eine Kontaktlinse auf ihrer Iris klebte. Die Figur sollte zuverlässig und ehrlich wirken, hatte aber auf die Studentin, die der Augenwischerei der heutzutage beliebig gestaltbaren äußeren Form bei Mensch und Maschine misstraute, eher die gegenteilige Wirkung. AUSKUNFT trug einen faltenlosen und entrückten, fast gelangweilt zu nennenden, dabei allen menschlichen Regungen vollkommen gleichgültig gegenüberstehenden Gesichtsausdruck zur Schau. Fabia kannte diese Miene von den unzähligen kleinen steinernen Engeln und Heiligen, die über den drei großen Portalen der mehrmals niedergebrannten und erst kürzlich rekonstruierten Notre-Dame-Kathedrale in der Innenstadt standen und hochmütig und sophisticated auf die wenigen eintretenden Gläubigen herabsahen. Auch die Kleidung des Avatars war der jener Skulpturen aus der Hochgotik ganz ähnlich. Der Studentin wäre es lieber gewesen, wenn AUSKUNFT wie die Wasserspeier auf dem Dach der nach dem antiken Vorbild wieder aufgebauten Kirche ausgesehen hätte. Die spöttischen Fratzen der Gargoyles hätten viel eher zu der KI gepasst, von der Verschwörungstheoretiker munkelten, sie wäre die wahre Macht hinter allen Erd- und Kolonie-Regierungen. Nun, das wusste Fabia besser:
I-Net und seine Personifizierungen, EDY, AUSKUNFT, GOTTSCHALK, ASK ME und wie sie alle hießen, waren nur Facetten einer zwar gewaltigen und höchst entwickelten Rechnerintelligenz. I-Net selbst führte jedoch keine eigenbestimmte, unabhängige Existenz. Sie tanzte wie alle KI nach der Pfeife ihrer Programmierer und Admins. Sartre hätte I-Net wahrscheinlich eine Existenz im Sinne seiner Philosophie zugestanden und die Wissenschaftler stritten sich seit Jahrzehnten, ob der Quanten-Großrechner zwischen seinen elektronischen Schaltkreisen und neuronal-biologischen Netzstrukturen eine Persönlichkeit und ein Ich-Bewusstsein besaß oder diese nur perfekt simulierte. Der gute alte Turingtest funktionierte bei der modernen KI längst nicht mehr. Aber damit war aber noch kein abschließendes Urteil gefällt, ob der gigantische Rechnerverbund auch intelligent war. Für Fabia lag der Fall einfach: I-Net war bloß ein Werkzeug wie ein Hammer oder ein Schraubenschlüssel, hochkomplex zwar, aber eben doch nur ein Werkzeug, das allerdings gleichzeitig Milliarden von Dingen und Anfragen erledigen konnte und Millionen öffentlicher und privater goLEMs, Industrieanlagen und Haushalte steuerte. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn die vor unter der spanischen Atlantikküste bis weit ins Meer hinein errichtete, unterseeische Rechneranlage ausfiel, weil ein Stück vom Mond auf sie und die 4-Milliarden-Einwohner-Megapole Marelona herabstürzte.
»Ich entschuldige die Verzögerung und bin nun bereit. Stelle deine Frage, Bürgerin … Fabia Winterfeld,« sagte AUSKUNFT in ihrer sonoren, aber gleichmütigen Stimme, die jeder der achtunddreißig Milliarden Menschen auf der Erde kannte. Die asketische Mönchsgestalt sah der Studentin dabei direkt in die Augen, als hätte sie allein seine Aufmerksamkeit. Die Farbe ihrer Iris schillerte wie Bernstein.
»Warum habe ich auf meinem Kanal plötzlich keine Zuschauer mehr?«
»Aufgrund Paragraph 4, Abschnitt 2 der Notstandsverordnung der Second-Moon-Corporation, die die Regierungsgeschäfte übernommen hat und im weiteren von mir 2MC genannt wird, ist mit sofortiger Wirkung jegliche private Nutzung des I-Netzes verboten und deaktiviert. Dies gilt für Blogs ebenso wie auch für sämtliche Meinungs- und Nachrichtenkanäle. Allein dringende familiäre Kontakte sind in eng begrenztem zeitlichem Rahmen erlaubt, unterliegen aber den Zensurbestimmungen nach Paragraph 4, Abschnitt 7 der Verordnung und müssen einzeln angemeldet werden. Bitte habe für diese Maßnahme der 2MC Verständnis, Bürgerin Winterfeld«, erklärte AUSKUNFT so gelassen, als würde sie nur den Wetterbericht vortragen. Dass in dieser prekären Lage der Notstand ausgerufen wurde, verwunderte Fabia nicht. Aber weshalb in Dreiteufelsnamen regierte mit einem Mal die 2MC? Ihr blieb die Luft weg und sie verstand plötzlich, warum Professor Rosenthal es so eilig hatte, sie zu sehen. Die schlimmsten Befürchtungen des alten Verschwörungstheoretikers waren in Erfüllung gegangen.
»Hast du noch weitere Fragen? Auch der Informationskanal unterliegt wegen der Notstandsverordnung und der momentanen Situation gewissen Einschränkungen und muss sich auf die nötigsten Grundfunktionen begrenzen. Ich empfehle dir nun dringend, Bürgerin, augenblicklich die für dein Stadtviertel vorgesehenen Schutzräume aufzusuchen.«
»Und ob ich noch Fragen habe!«, rief Fabia eilig, bevor AUSKUNFT die Verbindung einseitig trennte. »Seit wann gilt diese Notstandsverordnung? Und was ist mit dem Eurasischen Parlament geschehen?« Sie konnte es nicht fassen. Erlebte ihr Land gerade einen Putsch? Der 2MC-Trust war der mächtigste Wirtschaftsverband der Welt. Er unterhielt I-Net, besaß das Patent auf die gorgeous Living Electronical Machines-Serie – die sogenannten goLEMs -, hielt das Transportmonopol, rüstete die Roboterarmeen aus, organisierte die Ernährung der noch immer dramatisch anwachsenden Erdbevölkerung und diktierte über seine Lobbyisten die Weltpolitik nach seinem Gutdünken. Aber das Konsortium, das doch im Moment alle seine Kräfte dafür bündelte, der Erde einen zweiten Mond zu schenken, hatte noch nie so offen eingegriffen oder gar die Regierungsgewalt eines Landes übernommen.
»Das Parlament der Eurasischen Republik und seine geschäftsführenden Minister haben heute Morgen um 07:00 Uhr abgedankt und die Regierungsgeschäfte vertrauensvoll in die Hände des Aufsichtsrates der 2MC gelegt, der aufgrund der Weltlage den sofortigen Notstand ausgerufen und die Armeen in Bereitschaft gesetzt hat. Seit 07:05 Uhr kommt es südöstlich des Schwarzen Meeres zu ersten Kampfhandlungen mit der Indopazifischen Union. Die Raumflotte ist gestartet und auf dem Weg zum Mars. Bürgerin Winterfeld, suche nun auf der Stelle die Schutzräume auf. Nur dort bist du sicher. AUSKUNFT – Ende.«
Der Mönchsavatar von I-Net verschwand und Fabias Augreyes zeigten erneut den Fluchtweg aus ihrer Wohnung an. Sie schluckte und hatte das Gefühl, das Zimmer würde um sie kreisen. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie nach den Horrormeldungen von eben noch von irgendeiner Nachricht schockiert werden konnte, aber dass zusätzlich zu dem in sechzehn Stunden herabstürzenden Mondbrocken auch noch der befürchtete Krieg mit den östlichen Nachbarn der Republik ausgebrochen war, ließ ihren Verstand wie einen Boxer nach einem unfairen Tiefschlag taumeln. Aber dann bemerkte sie, dass sie wirklich schwankte! Sie begriff: Ein Erdbeben erschütterte die Stadt und ließ den Wohnturm in seinen Grundfesten wanken. Der Küchenschrank öffnete sich. Teller und Tassen polterten heraus und zerschellten klirrend auf dem Boden. Der inaktive Omicron rollte unter dem Tisch hervor. Fabia war der Naturgewalt hilflos ausgeliefert. Sie suchte vergeblich Halt und stürzte schwer auf ihre Knie. Sie schrie schmerzerfüllt auf. Gleichzeitig fielen der Strom und auch der Augreye-Kontakt zu I-Net aus.
Dann war das Beben so schnell vorbei, wie es gekommen war. Es hatte nur zwei, drei Sekunden gedauert und sich doch wie eine Ewigkeit angefühlt. Die Klimaanlage sprang surrend an, Fabias Augreyes funktionierten wieder und der Thermix entschied sich, eine Portion Gulasch auszuspucken, die mangels Teller unter der Nahrungsmittelausgabe des verflixten Geräts wie Katzenfutter auf den Boden klatschte und merkwürdigerweise einen ähnlich fauligen und fischigen Geruch verbreitete.
»Omicron … Status«, keuchte Fabia und holte auf diese Weise ihren kleinen goLEM aus dem Ruhemodus, in den sie ihn vorhin selbst verbannt hatte. Er erwachte, fiepte wie beleidigt und rollte sich einmal um sich selbst, damit sein Antennenhaupt wieder nach oben zeigte.
»Alle Systemprozesse laufen fehlerlos. Ich warte auf deine Befehle, Citoyen«, schnarrte er prompt mit seiner blechernen, hohlen Stimme. Sie wurde von einem sündhaft teuren Sprachmodul in seinem Kugelbauch gebildet, das Fabia erst hatte erwerben müssen, da die Omicron-Reihe serienmäßig nicht mit einer Sprachausgabe ausgestattet war. Die Studentin, die mehr um sich selbst als um die Funktionen ihres privaten goLEMs besorgt war, musste trotzdem über die anachronistische Anrede schmunzeln, die Samuel Rosenthal dem Kleinen wie einem Papagei beigebracht hatte. Citoyen, der im Gegensatz zum Bourgeois politisch interessierte und im Geist der Aufklärung aktive Bürger – das wusste Faibia aus dem Geschichtsunterricht -, war die respektvolle Anrede, mit der sich die französischen Revolutionäre vor achthundert Jahren angesprochen hatten. Sie diente nun auch als Erkennungszeichen und Losung für den Geheimbund des Professors. Citoyen, wie passend war das für eine Einwohnerin der 3-Milliarden-Seelen-Megapole Paris, deren Wohngebiete das halbe ehemalige Frankreich überdeckten!
Was vorher geschah:
Meister Siebenhardts Geheimnis
Buch Eins der “Brautschau”-Trilogie
Überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Und wer nicht genug kriegen kann:
Die Vorgeschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Band Eins und Zwei sind überall im Buchhandel als gebundene Ausgabe oder als E-Book erhältlich.
Eine Antwort auf „Mánis Fall (Kapitel 1.3)“
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