Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (9. Teil)
„Einen Schritt weiter und ich schieße!“, brüllte er verzweifelt. Jeder erstarrte für einen Moment erschrocken und das gab seinen Männern die Gelegenheit, sich auf den unvermeidlichen Kampf vorzubereiten. Dann rückten die Lamarger näher, in ihrer vordersten Front gingen Galves und der Regno, der mit seiner gewaltigen Axt, seiner mit Panzerplatten verstärkten, rotgefärbten Lederrüstung und dem kastenförmigen Helm, aus dem sich zwei Büffelhörner erhoben, wie einer der unüberwindlichen Golem-Ungeheuer der Vorzeit wirkte. Galves grinste schief.
„Ich bezweifle, dass du dazu den Mut hast, Jüngelchen“, rief er. Die roten Flammenaugen von Dagor musterten flackernd die Nähertretenden.
„Vielleicht hast du recht, lamargischer Spion, doch du kannst dir nicht sicher sein“, zischte er. Der Namenlose wirkte weiterhin so kalt und gefühllos wie ein Fisch, doch Galves hatte die Wut, die in ihm kochte, unterschätzt. Dagor bewegte den Lauf seiner Waffe herum und feuerte. Adalante schloss ergeben die Augen, doch die Kugel hatte nicht ihr gegolten. Sie traf Raul – mitten in die Brust. Der „Bär“ fiel und wankte nicht, sondern stürzte sich sofort mit einem wütenden Aufschrei auf Dagor. Es sah aus, als hätte er nur einen lästigen Mückenstich und keine lebensgefährliche Wunder erlitten. Dagor gab noch einen zweiten Schuss ab – es war allerdings nur ein harmloser Treffer am Arm und kratzte kaum die Haut von Raul auf -, und riss noch seinen Säbel aus dem Gürtel, dann prallten die Kontrahenten mit klirrenden Waffen aufeinander. Dies war das Signal für die Kämpfer auf beiden Seiten:
Der Streit Mann gegen Mann begann und er wurde so erbarmungslos und ohne Gnade geführt, dass er erst enden würde, wenn eine der beiden Seiten vernichtet war. Die Lamarger waren in der Überzahl und es sah nicht gut für den neuen Namenlosen und seine Gefolgsleute aus. Seine Bogenschützen sandten zwar ihren mit Gänsefedern geschmückten Tod in die Reihen ihrer Gegner, doch viele der Pfeile prallten harmlos an deren Rüstungen und Schilden ab. Nur wenige der Schützen bekamen noch die Gelegenheit, einen zweiten Pfeil aufzulegen, denn schon war der Regno heran und mähte sie mit gewaltigen Schwüngen seiner Axt nieder, als wäre sie die Sense eines Bauern, der das Gras seiner Wiese schneidet.
Idrichson Galves pfiff ein paar Kämpfer an seine Seite und orientierte sich. Er war nicht um die Sicherheit seines Regnos besorgt, denn der konnte sehr gut auf sich allein aufpassen und hatte seine kampferprobte Garde an der Seite. Mehr Sorgen machte er sich um Raul, der mit Dagor einen erbitterten Kampf ausfocht und nun doch durch seine Schusswunde sichtbar beeinträchtigt wurde. Der junge Prinz wurde immer langsamer und seine Bewegungen unsicherer. Wie es seine Art war, wenn er nachdachte, hob Galves eine Augenbraue. Er entschied sich gegen Raul, denn selbst in diesem Zustand war er seinem Gegner noch überlegen. Die Aufgabe der „Schwalbe von Avríl“ war es, Adalante zu beschützen, denn ihre Not war am größten und nur ihre Autorität konnte die Palastrevolution vielleicht noch aufhalten. Umringt von den unbewaffneten Nebenfrauen und Dienerinnen, die mit ihren bloßen, gebundenen Händen gegen die von Radik angeführte Mordbande kämpften, wehrte sich die Unglückliche verzweifelt, hatte aber nicht die geringste Chance. Der Kreis um sie schloss sich immer enger. Und Galves hatte zu lange überlegt, wen er unterstützen wollte. Er und seine Männer kamen zu spät. Gerade als sie sich die Stufen emporgekämpft hatten, traf die hohe Frau ein hinterhältig geführter Dolchstich von hinten in den Hals. Es war in dem Tumult nicht zu erkennen, wer ihn geführt hatte, aber nachdem die Bluttat begangen war, stolperten sofort alle betroffen zurück. Der letzte gurgelnde Schrei von Adalante, bevor sie niedersank, unterbrach für einen kurzen Moment das Kampf-geschehen und alle Augen richteten sich auf die Untat.
Nur Raul und Dagor fochten weiter, denn sie waren so in ihren Zwist verbissen, dass sie alles andere um sich herum vergessen hatten. Dass sich Dagor, der inzwischen ebenfalls verletzt war und aus einer Vielzahl kleinerer, aber nicht weiter gefährlicher Wunden blutete, die ihm der Säbel von Raul zugefügt hatte, noch gegen seinen Feind behauptete, lag nur an seiner Flinkheit und Geschicklichkeit, mit der es ihm immer wieder in letzter Sekunde gelang, unter die ausladenden Hiebe des „Bären“ zu tauchen oder sich durch einen überraschenden Sprung zur Seite aus dessen Reichweite zu bringen. Raul hatte sich längst den Turban vom Kopf gerissen und benutzte ihn um die Hand gewickelt als einen provisorischen Schild, den er gegen die Wunde in seiner Brust presste, durch die er trotz des kleinen Kalibers der Pistolenkugel viel Blut verlor. Sein Gesicht war bläulich angelaufen, er keuchte und japste wie ein Ertrinkender nach Luft. Der Schweiß lief ihm in breiten Bächen über das Gesicht und biss in seinen Augen, was sein Blickfeld einschränkte. Er stand inzwischen unsicher und manche seiner Angriffe glichen denen eines Betrunkenen. Dennoch stand außer Zweifel, wer den Kampf am Ende gewinnen würde, denn auch Dagor ermüdeten seine waghalsigen Sprünge, mit denen er sich immer wieder im letzten Moment vor Rauls Klinge rettete.
„Für die Lamargue!“, rief endlich Galves aus und beendete damit den kurzen Waffenstillstand. Mit seinen Männern mähte er zornig die sich nur halbherzig wehrenden Soldaten nieder, die selbst von dem Mord an Adalante schockiert waren. Das Antlitz zu einer grinsenden Maske verzogen, teilte Galves den Tod großzügig nach rechts und links aus, um zu dem käsebleichen Eunuchen Radik durchzudringen, der mit dem Rücken an der Wand stand. Der Regno kümmerte sich mit seinen Elitesoldaten inzwischen um die letzten versprengten Reste von Dagors Treuwächtern. Der Kampf war entschieden und es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis der letzte Widerstand gebrochen war. Dagors Palastrevolution schien fehlgeschlagen. Doch da änderte sich plötzlich die Lage vollkommen: Ein großer Trupp Soldaten erreichte unter der Führung des abtrünnigen Oberst Paşha Ultem über die Brücke das eiserne Tor und nun waren es die plötzlich die Lamarger, die in Bedrängnis gerieten, als diese ihnen überraschend in den Rücken fielen. Das Schlachtenglück wechselte. Ultem allein war schon ein gewaltiger Gegner, der es mit zehn Männern gleichzeitig aufnehmen konnte, und seine erfahrenen Wüstenkrieger, die sich in vielen Feldzügen gegen die westlichen Barbarenstämme bewährt hatten, waren den gepanzerten und relativ unbeweglichen Rittern aus der Lamargue überlegen. Dieser Wildheit hatten sie wenig entgegenzusetzen. Der Oberst, der heute neben Vezir Ómer der mächtigste General des „Unterwerfers“ ist, hatte in dieser Blutnacht die Gelegenheit ergriffen, trotz seiner niedrigen Herkunft Karriere zu machen und einige Ränge in der Militärhierarchie zu überspringen.
Der Regno sammelte seine Männer hinter sich, während er weiterhin mit seiner gewaltigen Axt Halbkreise zog, die keiner der Wüstenkrieger zu betreten wagte. Auch Ultem hielt respektvollen Abstand; er hatte Zeit. Er konnte abwarten, bis der Arm von Yves III. erlahmte. Raul und Dagor bekamen von alldem nichts mit. Sie kämpften in der Nähe von Irta, die verzweifelt ihre Hände rang, verbissen weiter, schlugen erbittert und ohne Gnade aufeinander ein. Sie waren ein erschreckender Anblick. Wie zwei der grausamen heidnischen Gottheiten der Kling’Arta standen sie voller Hass einander gegenüber und keiner wollte vor dem anderen zurückweichen. Es sah inzwischen so aus, als würden sie nicht Wasser, sondern Blut schwitzen. Da stolperte Raul über den Rand des großen Bassins hinter sich und vernachlässigte für einen Augenblick seine Deckung. Dagor juchzte siegessicher auf und sein Stich zielte nach der ungeschützten Flanke seines Gegners, die er nicht verfehlen konnte.
Das war der Moment, auf den Irta gewartet hatte, denn er machte auch Dagor angreifbar. Sie sprang nach vorn, hob die Hand zum Schlag und krallte ihre spitzen Nägel in die Wange des jungen Mannes, riss ihm dabei die goldene Halbmaske vom Gesicht. Dagor kreischte auf und versuchte die Furie von sich zu stoßen, stolperte dabei seinerseits über den Beckenrand und fiel hinein. Sein Säbel klatschte weiter hinten ins Wasser. Irta war sofort bei Raul und stützte ihn, denn sie hatte erkannt, wie erschöpft er war und wie knapp er davor war, zusammenzubrechen. Sie schwankte unter seinem Gewicht und wäre beinahe mit ihm gemeinsam zu dem prustenden und Wasser schlagenden Dagor gefallen, der wie jeder echte Wüstensohn nicht schwimmen konnte und für den schon der kaum hüfthohe Wasserspiegel des Bassins gefährlich werden konnte. Doch da war schon Idrichson Galves heran und gemeinsam mit ihm zog sie ihren schwer verwundeten Geliebten hinter den von seiner Axt gezogenen Bannkreis des Regnos. Die beiden legten Raul in Yves breitem Rücken vorsichtig auf den Boden. Irta bettete Rauls bleichen Kopf in ihren Schoß und strich ihm leise singend über den kahlen Schädel. Sorgenvoll untersuchte Galves die Verletzungen des jungen Prinzen und versorgte mit raschen Handgriffen notdürftig die stark blutende Brustwunde, in der noch immer die Pistolenkugel steckte. Währenddessen stellte sich die Garde schützend im Kreis auf.
Durch die Ereignisse war es zu einem unausgesprochenen Waffenstillstand zwischen den Parteien gekommen. Während die Sonne im Osten über der Toten Wüste aufging und ihre ersten Strahlen, die genau wie dieses Lagerfeuer glühten, schräg in den Hof sandte, kümmerten sich die Kontrahenten um ihre verwundeten oder im Kampf gefallenen Kameraden. Paşha Ultem half Dagor aus dem Wasser und reichte ihm seine Maske, die der neue Namenlose so eilig und fast schamvoll über sein kindliches, an der Wange blutendes Gesicht zog, als läge in ihr das Geheimnis seiner Macht verborgen. Es schien zu funktionieren: Allein durch das Anlegen dieses Herrschaftssymbols sah es so aus, als würde er einen halben Fuß wachsen. Im Licht des jungen Morgens sah er sich wie ein Sieger auf dem Schlachtfeld um. Nur wenige der Lamarger, aber fast alle seiner Treuwächter und die meisten der Eunuchen und Dienerinnen von Adalante waren gefallen oder lagen schwer verwundet in ihren letzten Zügen. Auch Najadhe lag erschlagen in ihrem Blut. Dagor registrierte dieses Massaker mit rotflammendem Blick. Dann aber fiel sein Blick auf den Leichnam seiner Mutter, deren heimtückische Ermordung er während seines Kampfs mit Raul überhaupt nicht bemerkt hatte. Er musste sich an der Schulter seines unerschütterlichen Verbündeten Ultem festhalten, sonst hätten seine Beine nachgegeben und er wäre wieder zurück in das Bassin gefallen.
Dieser eine Tod, den er hatte vermeiden und mit dem er seine Seele nicht hatte belasten wollen, beendete die blutige Palastrevolte und der Junge, der in seiner Ungeduld ein Massaker verursacht hatte, um sich so schnell wie möglich auf den Falkenthron setzen zu können, der gleichgültig Menschen wie Zinnsoldaten zerbrochen hatte, erkannte, dass er ein anderer, ein besserer Herrscher sein wollte. Er blinzelte in den fahlen, ausgewaschenen Sonnenball, der sich über den Dächern des Elfenbein-Palastes erhob und den weißen Marmor an den Wänden wie die Lichter im großen Allerbarmerin-Tempel zum Leuchten brachte. Tränen rannen unter seiner Halbmaske herab und formten Bäche auf seinen blutverschmierten Wangen.
Dann atmete er langsam ein und richtete sich wieder auf. Er wandte sich an Yves, der inzwischen mit überkreuzten Unterarmen auf den Griff seiner Axt lehnte und ihn unter seinen buschigen Augenbrauen heraus mit scharf funkelnden, kleinen Augen musterte. Auch wenn ein Fortführen der Schlacht wegen der drückenden Übermacht von Paşha Ultems Soldatenabteilung selbstmörderisch war, war der Regno gewillt, sie auf der Stelle wieder aufleben zu lassen, wenn der Namenlose nur eine einzige falsche Bewegung machte. Würde sich herausstellen, dass sein Sohn den Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren, erlag, war es seine einzige Option, in den heranstürmenden Fluten seiner Gegner zu ertrinken und möglichst viele von ihnen mit sich zu nehmen. Sollten die Skalden an den Fürstenhöfen und Baronien seines Landes ein Heldengedicht davon singen; denn des Infanten beraubt, würde die lange Geschichte des seit der Kokardenrevolution regierenden Herrscherhauses der Lamargue an diesem Tag enden. Der Namenlose schien diese Möglichkeit aus der versteinerten und finsteren Miene von Yves herauslesen zu können, denn er hob eilig und beschwichtigend die Hand.
„Die Nacht brachte den Krieg“, begann Dagor mit zögernder, leicht zittriger Stimme; doch er wurde sich mit jedem Wort seiner Sache sicherer, „aber der leuchtende Morgen der Allerbarmerin soll uns nun den Frieden bringen. Denn ihr schaudert beim Anblick des Blutes, das vergossen wurde. Der unnötige und gemeine Tod von Adalante, meiner Mutter, hat meine Augen geöffnet. Regno Yves! Lass uns diesen Kampf beenden, der die heiligsten Hallen dieses Palastes entweiht hat. Lautet so nicht ein Sprichwort in deiner Heimat? Der Zorn ist nur eine kurze Raserei, die man aber lange bedauern wird.“Yves antwortete nicht, aber er begann, sich nachdenklich mit einer Hand über seinen mächtigen, zu zwei grauen Zöpfen geflochtenen Bart zu streichen. Galves stellte sich neben ihn und flüsterte ihm eilig ein paar beruhigende Worte in sein Ohr.
„Die Nacht des Krieges ist nun vorbei und der Morgen hat Karukora seinen neuen Herrscher geschenkt“, fuhr Dagor fort. „Der ‚Unterwerfer‘ ist großzügig. Er gewährt euch treuen und tapferen Kriegern freies und sicheres Geleit aus dem Palast. Yves, kehre zurück in deine kalte, ferne Heimat jenseits des Großen Walls. Lass uns ohne Rachegelüste und Zorn auseinandergehen und den Rest sollen dann nach der Trauerzeit unsere Diplomaten erledigen. Ich bin zu jeder angemessenen Sühnezahlung bereit, um dich für den Tod deiner tapferen Ritter zu entschädigen. Vergeben seien euch von meiner Seite eure Intrigen, meinen Thron mit Hilfe der Falken der Rache zu untergraben. Dieser erste Tag meiner Herrschaft soll kein Tag der Kleinlichkeit sein, sondern ein Tag der Freude für die Stadt und die Wüste, über die immer ein Namenloser wacht. So soll die Ära des Unterwerfers beginnen. Respektiert nun bitte meine Trauer um meiner Mutter und zieht euch zurück.“
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»Der Weg, der in den Tag führt«
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2 Antworten auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (9)“
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