Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (10)

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Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2

Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (10. Teil)

Der Regno wollte etwas Grobes erwidern, eine Beleidi­gung, die dieses generöse und überraschende Friedens­angebot zunichte gemacht hätte, aber Galves beugte sich zu ihm und flüsterte ihm erneut etwas zu, das ihn zu Vernunft zu bringen schien. Yves nickte und sah zu­rück zu seinen Rittern, die zwar alle von dem Kampf erschöpft waren, sich aber auf sein Wort hin mit dem Adlerlied der Freien Lamargue auf den Lippen in den Tod gestürzt hät­ten. Am längsten verharrte sein Blick auf seinem ver­wundeten Sohn, dem die Männer aus zwei Treuwäch­terpiken und in Streifen gerissenen Hemden eine pro­visorische Trage gebastelt hatten. Raul lag still und ohne Bewusstsein da, aber er atmete ruhig und gleich­mäßig. Wie sich später herausstellte, war die Kugel aus Dagors kleiner Waffe an einer Rippe abgeprallt und nicht tief in den Brustkorb eingedrun­gen. Seine Verlet­zungen waren nicht lebensgefährlich, aber der Blutver­lust aus dieser und der durch den Streifschuss am Arm verursachten Wunde hatte end­lich sogar diesen Bären von einem Mann niedergerun­gen. Irta hielt weiterhin zärtlich seinen Kopf und tupf­te ihm mit dem Ärmel die Schweißperlen von der Stirn. Yves sah ihr eine Weile dabei zu, dann seufzte er und wandte sich wieder zu dem Namenlosen.

„Mir ist in der Hitze des Gefechts entgangen, wer Adalante hinterrücks ermordete, doch ich stehe für meine Männer ein und schwöre den Eid eines Regnos, dass es keiner von ihnen war. Ich habe Adalantes Ver­stand und ihre Weisheit immer geschätzt. Sie war uns eine teure Verbündete und wir sind heute hier angetre­ten, um sie zu beschützen. Wahrscheinlich ist sie längst gerächt und ihr feiger Mörder liegt hier zertre­ten wie eine Wanze zu unseren Füßen.“ Er machte eine nachdenkliche Pause. „Du hast recht, Dagor, der du dich nun der Unterwer­fer nennst. Wir haben an diesem Morgen keinen Grund mehr, uns weiterhin zu bekämp­fen. Ich werde mich mit meinen Rittern zurückziehen. Die Delegation und ich werden bis Sonnenuntergang die Mauern von Karuko­ra hinter uns gelassen haben und auf den Karawanen­wegen gen Norden ziehen. Was später geschieht, wird uns die Zukunft weisen. Möge mich Maraia, die Trä­nenreiche, im Schlafe ersticken, wenn ich nicht die Wahrheit sprach.“

Ich sehe auf vielen Lippen meiner Zuhörer ein bitteres Lächeln. Ja, große Reden können sie in allen Überle­benden Landen schwingen, unsere hohen Herren. Und schnell schwö­ren sie bei ihrer Göttin, die ja eigentlich nur eine einzi­ge ist und sich niemals um die menschli­chen Dinge und ihre Eide kümmert. Aber auf diese Weise konnten sich beide Parteien ehrenvoll aus dem Kampf zurückziehen, ohne das Gesicht zu verlieren. Id­richson Galves und Paşha Ul­tem gaben ihren Männern bereits Anweisungen, sich zurückzuziehen, als sich der graubärtige Regno und der frischgebackene Namenlo­se noch der gegenseiti­gen Wertschätzung versicherten –, obwohl sie freilich insgeheim dem anderen die Blau­en Pocken an den Hals wünschten. Vier Ritter nahmen Raul an den Enden der improvisierten Trage hoch und traten mit ihrer Last achtsam im Gleichschritt zum Tor des Serails hinaus. Irta wollte ihnen selbstverständlich folgen und hielt sie mit einem Ruf auf, aber Galves er­griff sie beim Vorbeige­hen.

„Was, Kind, glaubst du da zu tun?“, zischte er, wäh­rend er sie fest am Arm hielt. Meine Schwester starrte die Schwalbe von Avríl verwundert an, doch obwohl ihr plötzlich war, als würde sich eine eisige Hand um ihr Herz schließen, antwortete sie gefasst:

„Ich folge meinem geliebten Mann in seine Heimat. Lass mich los, Soldat.“ Die Angst einer plötzlichen Er­kenntnis funkelte feucht in ihren dunklen, großen Au­gen. Galves senkte verlegen den Kopf und hob mitlei­dig die Augen­brauen. Seine Stimme wurde dunkler und sanfter:
„Mädchen, du warst uns eine große Hilfe, aber du bist dem Namenlosen untertan und kein Teil unserer Ab­machung mit ihm. Du kannst Karukora nicht mit uns verlassen.“ Er zögerte, denn die nächsten Sätze fie­len ihm schwer. „Deine Hoffnungen trügen dich. Du wirst niemals die Gattin des Thronfolgers der La­margue werden können. Das war ein schöner Traum, doch nun musst du aus ihm erwachen. Der Regno wird eurer Verbindung niemals zustimmen, denn Raul ist Dora Kahlja von Drybnisfelt versprochen, die er im Winter, wenn er hoffentlich von seinen Wunden genesen ist, ehelichen wird.“

Irta duckte sich unter den Worten von Galves. Jeder seiner Sätze war wie ein Peitschenhieb gewesen, der mit voller Wucht auf sie niedersauste und ihr tiefe, un­heilbare Wunden in die Haut schnitt. Sicherlich tat das Mädchen Galves leid, denn er war kein Unmensch. Aber er war ausschließlich seinem Regno verpflichtet, dem Rauls natürlich nicht unbemerkt gebliebenes Ha­remsabenteuer ein Dorn im Auge war. Auch das Glück der Tochter eines seiner tüchtigsten Spione und endlich auch das des jungen Prinzen hatte sich diesem Kada­vergehorsam, der keine Ausnahme duldete, unterzu­ordnen. Raul hatte das Gespräch belauscht und öffne­te plötzlich auf der Trage seine Augen.

„Irta, meine süße Wüstenblume …“, flüsterte er, rich­tete sich etwas auf und hob schwach seine zitternde Rechte. Dies war der härteste Schlag, den Galves vor­her vermieden hatte. Irta konnte es in Rauls Augen le­sen: Er stimmte der Schwalbe zu. Aber nein, sie musste sich täuschen. Das konnte einfach nicht geschehen! Sie war sich doch seiner Liebe und seiner Schwüre so si­cher. Irta riss sich von Galves los und fiel vor dem ver­letzten Prinzen auf die Knie. Verlegen senkte Galves seinen Blick noch tiefer.

„Raul! Sage diesem Mann, dass das nicht wahr ist! Du hast mir versprochen, mich mit dir zu nehmen. Ich meine, wenn ich nicht deine Frau werden kann, dann … dann nimm mich trotzdem mit mir“, erniedrigte sie sich vor ihrem Geliebten, der sie nur stumm betrachte­te. Helles, mit Tränen vermischtes Blut tropfte von sei­ner Nase. „Ich werde dir und deiner Frau Kahlja die­nen und mich nicht be­klagen. Es genügt mir, in deiner Nähe zu sein. Bitte …“ Sie schluchzte auf. „Raul, du liebst mich, das weiß ich. Und ich liebe dich. Ohne dich kann ich nicht leben!“, sagte sie weinend. Es war ein letzter Versuch, aber da hatte sie schon die Hoffnung verloren. Sie schwankte und ihr wurde schwarz vor den Augen. Sie erblickte in die­ser Dunkelheit ihr weiteres, schreckliches Schicksal.

Und der junge Prinz? Er schloss einfach wieder seine Augen und täuschte lieber eine weitere Ohnmacht vor, als sich länger mit Irta auseinanderzusetzen. Diese Feigheit erschütterte meine Schwester mehr als alles, was sie in der Nacht erlebt hatte. Sie bemerkte kaum, dass Galves neben sie trat und ihr mit einer vorsichti­gen Berührung aufhalf. Eilig gab er den Trägern, die die Szene mit versteinerten Gesichtern betrachtet hat­ten, ein Zeichen, Raul endlich fortzubringen.

Inzwischen hatte sich der erste Hof des Serails fast geleert und nur noch Galves und Irta standen zwischen den Leichen, die der Kampf gefordert hatte. Sie wur­den vom Tor her von Paşha Ultem beobachtet, der nachdenklich die Lippen spitzte. Doch es gab noch zwei Augen, die verborgen im Dunkel eines Hauseingangs auf die beiden starrten. Sie gehörten dem feisten Ver­schnittenen Radik Emre, dessen unversöhnlicher Hass geduldig auf seine Gelegenheit wartete, die er nun nä­herkommen sah. Schließlich lös­te Galves den Arm von Irta und trat zurück, folgte zö­gernd den anderen durch das Tor, das Ultem schulterzuckend hinter sich schloss.

Irta hatte weder die Anwesenheit noch das Fortschlei­chen der Schwalbe bemerkt. Erschüttert blickte sie weiterhin in ihr Inneres und auf den Scherbenhaufen, der von ihrer Liebe und von ihrem Leben übriggeblie­ben war. Sie stand lange so, während die Sonne immer höher stieg und mit unbarmherziger Wucht ihre Hitze in den Hof schleuderte. Der süßliche Duft des vergosse­nen Bluts hatte sich mit dem scharfen Brandgeruch zu einer Übelkeit erregenden Melange vermischt. Doch meine arme Schwester nahm den Gestank überhaupt nicht wahr. Sie fühlte sich hohl, leer, ausgebrannt und hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu weinen oder ih­rer Verzweiflung mit einem Schrei Ausdruck zu verlei­hen. Irgendwann wandte sie dann doch ihren Blick von dem inneren Abgrund ab und stellte fest, dass sie wie die Totengöttin Helda, an die die verrückten Hinder­söhne glaubten, inmitten eines Leichenbergs stand; als sei dies der schaurige Hofstaat, mit dem sich die barba­rische Helda umgab. Die meisten der Leichen, die um sie herumlagen, hatte sie gekannt. Es waren aus­schließlich Eunuchen und Diener von Adalante; die an­deren Opfer der Schlacht hatten ihre Kamera­den mit sich genommen. Die unheimliche Stille, die wie eine er­stickende Decke über dem Serail lag, dröhnte in ihren Ohren. Doch Irta war noch zu keiner Regung fä­hig, stumpf sah sie in die im Tode verzerrten Gesichter; Trauer, Entsetzen und Grauen waren ihr noch fern. Wie eine Schlafwandlerin begann sie, ziellos über den Hof zu wandern. Sie achtete nicht auf die in der Hitze stockenden Blutlachen und ihre nackten Fußsohlen hinterließen kreuz und quer Spuren auf dem ockergelb glitzernden Porphyr des Bodens. Sie schien etwas zu suchen; auch wenn sie selbst nicht wusste, was das war.

Nachdem Irta nach einer Weile gedankenlos und mechanisch wie ein eiserner Golem die Stufen zum Haus der Gattinnen emporgeschlendert war und vor dem er­starrten Körper ihrer Hohen Herrin verharrte, schien sie jedoch gefunden zu haben, nach was sie instinktiv geforscht hatte. Aus einem Winkel ihrer Seele, jenem Ort, an den sie sich zu ihrem Schutz zurückgezogen hatte, tauchten Erinnerungen auf, ließen sie Worte for­men und die traditionellen Gesten machen. Sie betete das Totengebet an die Allerbarmerin, so wie ihr Vater Alis es ihr in ihrer frühen Jugend in Avríl beigebracht hatte, damit sie es sprach, wenn sie mit ihm und mir das Grab unserer Mutter besuchte. Irta schloss in ihre Gebete nicht nur Adalante, sondern auch die anderen Ermordeten und Gefallenen ein. Plötzlich flossen ihre Tränen wieder so reichlich, als wäre sie ein mit Meer­wasser gefülltes Gefäß. So hatte sie für jeden Toten ei­nen salzigen Tropfen übrig, den sie klagend der Göttin opferte.

Jad al-voi Ba’alcha!“, hörte Irta einen lästerlichen Fluch in ihrem Rücken. Ihr stockte der Atem und sie fuhr herum. Hatten denn die Schrecknisse dieses grau­envollen Morgens noch immer nicht geendet, waren die Gefahren noch nicht vorbei? Wer stand mit ihr in die­sem Leichenhaufen und lästerte der Allerbarmerin? Sie kannte den Mann, der hinter ihr stand: Es war Radik Emre, der oberste Eunuch, der sich herangeschlichen hatte und Irta mit vor Hass brennenden Augen ab­schätzte. Er spuckte vor ihr aus.

„Das ist nicht wahr. Sta’Ach! Ausgerechnet du Dirne hast dieses Massaker überlebt – von allen Eunuchen, Frauen und Dienerinnen des Serails bist nur noch du am Leben? Was für eine Ironie!“ Er lachte irre und schüttelte den fetten, nackten Schädel. Die erlebte Ge­walt und das viele Blut um die beiden herum schienen ihn vollkommen wahnsinnig gemacht zu haben. Irta hatte in diesen Augenblick keine Angst vor ihm; sie stand noch jenseits solcher Gefühle. Doch sie wich in­stinktiv zurück, denn Radik hob nun das blutige, klei­ne Messer, das er fest in der Rechten hielt und deutete auf sie. Irta erkannte die Zusammenhänge:

„Du warst das!“, rief sie aus. „Du hast die Hohe Her­rin Adalante ermordet. Mögen deine Vorfahren auf ewig in der Gehenna schmoren. Wenn das der Unter­werfer erfährt, wird er dich vierteilen lassen und deine Reste seinen Krokodilen zum Fraß vorwerfen.“

„Oh, mache dir keine Sorgen, du kleine, billige Hure des lamargischen Prinzleins, davon wird niemand je­mals erfahren und die M‘Gaviâ werden hungrig blei­ben. Das ist ein kleines Geheimnis zwischen uns bei­den. Und du wirst es doch nicht ausplaudern – oder?“ Er trat näher. „Nein, ganz sicher nicht!“ Erst jetzt konnte Irta den schrecklichen Gestank riechen, den er wie ei­nen Mantel mit sich führte. Offenbar hatte er sich vor­hin im Kampf eingekotet. Sie war in ihrem Le­ben noch nie einem Menschen begegnet, der ihr so wi­derwärtig war; dabei so feige – und so gefährlich! Ge­gen ihn war ein Ifrit ein Freund!

Radik griff nach ihr und langte dabei nach vorne stol­pernd ins Leere. Sein Messer verfehlte sein Ziel. Irta hatte sich geschickt seines Zugriffs entzogen und schon flüchtend den halben Hof überquert, bevor er sich über­rascht nach ihr umsehen konnte. Ihre besudelten Füße patschten auf den Fliesen und hinterließen eine deut­lich sichtbare Spur. Meine Schwester rannte in ihrer Panik zurück in den Wohntrakt der Dienerinnen. Ein böses Lächeln erschien auf Radiks Gesicht, während er ihr langsam folgte. Er konnte sich Zeit lassen und seine kleine Jagd genießen, denn dieser Weg, den Irta einge­schlagen hatte, war eine Sackgasse, das wusste er. Der Beschnittene dachte ja, es gebe nur einen einzigen Ein­gang in das Serail – und das war eben das eiserne Tor, das er für die Meuchelmörder geöffnet und bei dieser Gelegenheit den ahnungslosen Wächter, der ihn ihm ei­nen Freund sah, hinterrücks ermordet hatte.

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»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1

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