Prolog
20 Jahre vorher
Der Tod holte auf.
Gegen Mittag verwandelte sich der eisige Regen übergangslos in ein dichtes Schneetreiben. Erbarmungslos trieb der Sturm nun dicke, feuchte Flocken fast waagerecht vor sich her. Er schleuderte sie mit aller Gewalt den drei Fliehenden entgegen. Sie konnten keine zehn Fuß weit sehen auf ihrer schmalen und rutschigen Felsenstufe mitten im Nichts der fast senkrecht aufragenden Nordflanke des menschenfeindlichen Berges Gynashort.
Es grenzte an ein Wunder, dass keiner von ihnen ausglitt und sie gemeinsam in die wolkenverhangene Tryas-Schlucht stürzten, von deren bodenlosem Abgrund sie oft nur eine Unachtsamkeit und ein Stolpern trennte.
Die schweigsame Sakket ging vorsichtig voran. Sie tastete sich mit der rechten Hand am glitschigen, nassen Felsen entlang, während sie die andere schützend vor ihr Gesicht hielt. Durch ein Seil mit ihr verbunden folgte drei Schritte dahinter Erson. Den Abschluss bildete Idris Henk Baldaar. Ihn hatte noch im Verbotenen Tal ein auf gut Glück abgeschossener Pfeil eines ihrer hartnäckigen Verfolger knapp unter dem rechten Schulterblatt getroffen und schwer verwundet. Erson hatte den Schaft zwar auf der Stelle direkt oberhalb der Wunde abgebrochen und diese dann notdürftig verbunden, aber es war nicht die Zeit geblieben, die mit Widerhaken versetzte Pfeilspitze mit dem Messer herauszuschneiden. Er hatte auch nicht die chirurgischen Kenntnisse, solch eine Operation sauber durchzuführen. Deshalb drang die Pfeilspitze mit jeder Bewegung tiefer in Idris’ Fleisch und dieser gutmütige Bär von einem Mann litt gewaltige Schmerzen. Er trug sie wortlos und mit stoischer Miene.
Allerdings wurde der Schritt von Idris mit jeder Stunde unsicherer. Seine Begleiter und er tasteten sich deshalb immer langsamer auf der manchmal nur einen Fuß schmalen, zudem bröckligen Felsenstufe zwischen Himmel und Hölle weiter, von der die Gejagten hofften, dass sie ein Weg hinauf aufs Gipfelplateau und nicht nur eine weitere Sackgasse war. Sie kamen langsamer voran, als ihnen lieb war. Schließlich konnte jederzeit wieder einer ihrer Verfolger in ihrem Rücken auftauchen; einer der blutrünstigen Barbaren des Nordens, die sich selbst so trefflich Tudasgarda, der „Tod aus dem Himmel“, nannten. Weil das Freundestrio sich heimlich in die Tabuzone ihres heiligen Berges Gynashort gewagt hatte und sie dabei von einem Späher ertappt worden waren, jagte ein Trupp der besten Männer der Tudasgarda hinter ihnen her. Diese Elitekrieger hießen bei ihrem Volk, das ein primitives Wendisch sprach, Kling’Arta, also „Himmelskrieger“. Sie verfolgten die drei Eindringlinge bereits seit vier Tagen erbarmungslos durch die Wälder und über die Felsen. Und sie kamen immer näher! Manchmal meinte Erson, er könne bereits ihren keuchenden Atem in seinem Nacken spüren. Er drehte immer häufiger seinen Kopf nach hinten, versuchte, mit seinen Blicken den dichten Nebel zu durchdringen, der sich nur wenige Schritte hinter ihm und Idris wieder wie ein grauer Vorhang über den Weg schob. Der Ausblick nach vorn war derselbe: Die Flüchtigen waren gefangen in einer Welt aus waberndem, eisigem Dampf und feuchtem Schneetreiben, aus der ihnen in jedem Moment der Tod entgegentreten konnte. So viele Arten zu sterben gab es auf dem Gynashort und nur eine, am Leben zu bleiben.
Es war nicht das erste Mal, dass der verlockende Bericht von Henne, dem Biberjäger, Sakket, Erson und Idris dazu verleitet hatte, sich heimlich und vorsichtig dem himmelhohen Massiv inmitten des unwegsamen Rauen Gebirges zu nähern und sich in die verbotenen Jagdgebiete der grimmigen Tudasgarda, die ihr Land rund um den Gynashort eifersüchtig bewachten, zu schleichen. Glaubte man Hennes Erzählungen, dann barg der mächtige Berg in seinem Inneren die verborgene alte Stadt Bridon und ihre unvorstellbaren Schätze. Nie war es ihnen jedoch gelungen, einen Aufstieg auf den Gipfel und den Weg zu der alten Königsburg zu finden. Wieder und wieder hatten sie unverrichteter Dinge und mit leeren Beuteln in ihre von Kanälen gemusterte Heimatstadt Garda heimkehren und sich dem Spott ihrer im warmen Nest der Lahmen Curie zurückgebliebenen Kumpane stellen müssen.
Diese ständigen Grenzverletzungen konnten auf die Dauer nicht gutgehen und dieses Mal waren die drei Schatzjäger von einer Gruppe Himmelskrieger ertappt worden – gerade als die Gefährten endlich von weitem einen vielversprechenden Pfad den Nordhang hinauf entdeckt hatten; ganz wie es ihnen vom alten Henne versprochen worden war. Seitdem hetzten sie nun schon auf der Flucht diesen Saumpfad empor und hatten längst das Ende ihrer Kräfte, aber nicht das Ende des Weges erreicht. Wenn sie nicht bald den Gipfel des Gynashorts und damit einen Ort betraten, den die Tudasgarda nach den Worten des Jägers angeblich nicht zu betreten wagten, da sich dort der von ihren grauenvollen Daimona bewachte Eingang zu der sagenhaften Stadt befand, dann würden über kurz die abgeschnittenen Köpfe der drei auf Pfähle gespießt den Tabor der Barbaren zieren und ihre Herzen bei einem ihrer grausigen Festmahle als Speise für die tapfersten der Krieger dienen.
„Halt!“, rief Erson und stemmte sich gegen den Fels. Er griff das Seil fester, das an seinem Gürtel befestigt war und ihn plötzlich nach hinten zog. Der verwundete Idris war an einer etwas breiteren Stelle erneut ins Stolpern geraten und nur seine Verbindung mit den anderen hatte verhindert, dass er in die Schlucht stürzte. So kippte er, von Ersons Kraftakt gezwungen, auf die andere Seite gegen einen großen Felsblock, rutschte langsam an ihm zu Boden. Er rang dort pfeifend um Atem, der als dichte Wolke über seiner vermummten, in sich zusammengekauerten Gestalt stand. Sakket kam besorgt zurück, wollte sich an Erson vorbei quetschen. Er versperrte ihr den Weg.
„Wir müssen weiter! Wir können nicht schon wieder pausieren“, drängte die gertenschlanke Frau. Erson sah sie mit einer seltsamen Miene an und schüttelte den Kopf. Auch wenn er es noch nicht wahrhaben wollte: Die Flucht war vorbei, hier und jetzt. Idris würde keine fünfzig Fuß mehr weiter gehen können. Wenn er sich überhaupt noch einmal erhob. Sakket erwiderte den Blick ihres Freundes, der ihr wie ein Bruder war. Sie kannte den dicken Erson schon seit den Tagen ihrer gemeinsamen Kindheit im düsteren Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Gene in Garda und verstand ihn auch ohne Worte. Die Zeit für eine verzweifelte Entscheidung war gekommen und nur Sakket hatte von den Gefährten die Entschlossenheit, sich ihr zu stellen. Sie war eine geborene Anführerin und die treibende Kraft der kleinen Gruppe. Sie drückte sich an Erson vorbei und beugte sich zu Idris hinab, sprach aufmunternd auf ihn ein.
Aber er reagierte nicht. Erst als Sakket einen Handschuh abstreifte und mit ihrer bloßen Hand die Wange des Verletzten berührte, bewegte er sich, hustete. Dann schien er sich zu fangen und kam wieder etwas zu sich. Trotzig schob er seine Kapuze vom kahlen Schädel und sah auf. Seine großen braunen Augen, die Sakket immer an den Blick eines treuen Hundes erinnerten – so überrascht und sanftmütig blickte ihr großer Freund in die Welt – ruhten sanft und fast mitleidig auf dem Mädchen, das er wie auch Erson heimlich liebte. Er hatte nie viel von diesen Schatzsuchen gehalten und nur ihr zuliebe an ihnen teilgenommen, weil er Sakket beschützen und in ihrer Nähe sein wollte.
„Es geht nicht mehr“, stellte Idris nüchtern fest. „Hier ist mein Pfad zu Ende.“
Seine Stimme klang entschlossen. Auch Erson trat nun heran, schob einen Arm hinter die Schulter von Idris und richtete ihn ein wenig auf, weil er ihm das Atmen erleichtern wollte. Dabei hob er den Mantel seines Freundes leicht an und spähte nach dem Verband über dessen Wunde. Er klebte vollgesogen von feuchtem, frischem Blut, das das starke Herz seines Freundes großzügig aus der schweren Verletzung am Rücken pumpte. Es war ein Wunder, dass Idris es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Bei dieser großen Wunde und dem Blutverlust hätte er eigentlich schon seit einem Tag tot sein müssen.
„Komm, mein Freund“, sprach Erson wider besseren Wissens ihm und wohl auch sich selbst Mut zu, „es ist nicht mehr weit, denke ich, vielleicht noch einen Furlong. Ich werde dich tragen.“ Idris musterte überrascht den kleinen, untersetzten Mann, mit dem er so viele Abenteuer erlebt hatte. Dann lachte er schallend.
„Vergiss es. Du kannst doch nicht einmal einen vollen Bierkrug stemmen!“ Idris’ Lachen ging in ein gequältes Husten über und sein Gesicht verzerrte sich unter den Schmerzen. „Nein, hört: Ihr müsst mich zurücklassen. Vielleicht kann ich unsere Verfolger ein wenig aufhalten und euch etwas mehr Zeit verschaffen. Dann hätte das alles einen Sinn.“
Er tastete nach seiner Pistole, die er in einer Tasche an seinem Gürtel trug. Die kleine, schmale Waffe verschwand fast in seiner an Bärentatzen erinnernden Hand, die seltsamerweise sechs Finger hatte. Er richtete sich unterstützt von seinen Gefährten weiter auf, lehnte nun halb gegen den Felsen. Er spuckte Blut aus.
„Idris Henk Baldaar!“, rief Sakket vorwurfsvoll den ganzen Namen ihres Freundes. So sprach sie ihn nur an, wenn sie wütend auf ihn war. „Das machen wir auf keinen Fall! Wir schaffen es alle gemeinsam!“
„Weißt du nicht mehr? Wir drei oder keiner“, wurde sie von Erson unterstützt. Idris schüttelte müde seine Glatze und deutete mit einem ironischen Blick zurück.
„Diese Entscheidung müssen wir nicht mehr treffen“, sagte er. Gleichzeitig war ein triumphierendes Heulen zu hören. Sakket und Erson zuckten zusammen und wirbelten herum. Durch ein mutwilliges Spiel des Sturms rissen für einen kurzen Moment die dicken Schneewolken auf, zerfaserten über dem schwindelerregenden Abgrund. Tatsächlich verirrte sich ein verlorener Sonnenstrahl hinab auf das schmale Felsband. Die Sicht hinunter wurde plötzlich besser und man konnte ein langes Stück des Weges zurückblicken, den die drei geflohen waren. Erst jetzt bemerkten sie, wie hoch sie schon waren; ihr Pfad hatte sie schon viele Furlong über den Talgrund hinauf geführt. Und auf diesem engen Weg rannten ihnen auch weiterhin ihre Verfolger hinterher! Sie waren noch immer ihrer Beute auf der Spur.
Nur wenige hundert Fuß hinter und zwei Serpentinen unter ihnen kamen fünf, nein, sechs Krieger der Tudasgarda eilig näher. Wie Schweißhunde hetzten sie den Pfad entlang, missachteten dabei die Gefahren des schmalen Felsenabsatzes. Endlich hatten sie ihre Jagdbeute entdeckt und es war ihr vielstimmiger, zufriedener Ruf, der zu den dreien herauf klang. Die Himmelskrieger beschleunigten noch ihr Tempo und kamen in halsbrecherischer Geschwindigkeit heran, gerieten dann jedoch an der Bergflanke aus dem Blickfeld der wie zu Eis erstarrten Gejagten, weil der Pfad einen Bogen in einen kleinen Tobel machte, den ein Wasserfall an dieser Stelle in den Fels gegraben hatte. Erson wusste noch, dass dort viel lockeres Geröll und Splitt über den Weg gerutscht war und die Stelle zusammen mit dem von oben herabstürzenden Wasser nur schwer begehbar machte; vor allem, wenn man wie die Tudasgarda kein festes Schuhwerk, sondern nur zusammengebundene Lederstreifen an den Füßen trug. Aber bald würden die furchterregenden Krieger wieder aus dem Einschnitt im Felsen auftauchen und dann gerieten Sakket, Erson und Idris in die Reichweite ihrer todbringenden Pfeile und den Bolzen ihrer Armbrüste. Den Gefährten blieben nur noch wenige Augenblicke.
Idris fingerte an dem feuchten Knoten, mit dem das Sicherungsseil an seinem Gürtel befestigt war, das ihn mit den anderen verband. Seinen klammen Fingern gelang es nicht, ihn zu lösen.
„Bei Inets brennendem Schwanz! Vielleicht wollt ihr mir mal helfen?“, fluchte er. „Was wartet ihr noch? Ich bin der einzige, der eine Waffe besitzt, auch wenn sie nur ein Spielzeug ist. Verdammt!“
Erson wurde rot. Dass die drei ihre Jagdflinte verloren hatten, war seine Schuld gewesen. Er hatte ungeschickt nach ihr gegriffen. Dabei war sie ihm aus den feuchten Fingern geglitten und unwiederbringlich in eine tiefe Felsspalte gerutscht.
„Niemals“, antwortete er trotzig, aber da hatte Sakket schon kurzentschlossen ihr Messer gezogen und schnitt einfach das Führungsseil durch, an dem Idris verzweifelt zerrte.
„Was …?“ Ohne auf seinen Protest zu achten, packte sie Erson am Oberarm, zog ihn zurück, weg von seinem Freund. Ihr Griff war kraftvoll und zwingend. Sie nickte Idris aufmunternd zu, der sich nun hinter dem niedrigen Felsen eine Deckung suchte und mit seiner Pistole in die Nebelschwaden zielte, die sich wieder über den Weg gelegt hatten.
„Nein!“ Erson riss sich trotzig von Sakkets Umklammerung los und drehte sich erneut zu Idris. Er wollte nicht wahrhaben, dass die drei ihr Blatt bereits ausgereizt hatten. Er würde seinen Freund hier am Ende der Welt nicht einfach im Stich lassen und den Kling’Arta der Tudasgarda opfern. Das konnte nicht sein, das passte nicht in sein Weltbild. Es musste einfach noch einen Ausweg geben. Bisher war da immer einer gewesen: Das eine Schlupfloch, das er zuverlässig lange vor den beiden anderen entdeckte und durch das sie sich immer wieder aus einer Gefahr hatten retten können. Erson hatte es noch jedes Mal entdeckt. Auch heute würde ihm etwas einfallen …
Ein schwarzer Schatten zischte so knapp an Ersons Kopf vorbei, dass er das dunkle Brummen einer wütenden Libelle zu vernehmen meinte. Das Geschoss schlug direkt hinter ihm in die mürbe Felswand. Ein paar Holzsplitter von dem Bolzen und kleinere Steinbröckchen spritzten Erson von der Seite ins Gesicht und rissen seine Wange blutig. Abgelenkt hob Erson die Hand zum plötzlichen Schmerz und sah überrascht zurück. Gleichzeitig ertönte Idris erster Schuss und wurde grollend wie ein ferner Donner von den Felswänden zurückgeworfen, laut in den Ohren klirrend. Wie die Friedensglocke von Kalar hörte er sich an. Freilich verfehlte Idris auf diese Entfernung sein Ziel um einige Fuß, jenen ersten und vorwitzigsten der Tudasgarda-Krieger, der jetzt auf dem Pfad nur eine einzige Kehre unter ihnen erneut aus dem Bergschatten aufgetaucht war und mit seiner Armbrust auf die Flüchtigen angelegt hatte. Dennoch erreichte der Schuss von Idris, dass sich der trotz der bitteren Kälte halbnackte Mann eilig hinter den Felsvorsprung zurückzog.
Der große Mann wandte sich halb zu Erson, brüllte ihn an, ohne die Felskante aus den Augen zu lassen, hinter der der tätowierte Krieger Schutz gesucht hatte:
„Der Bolzen könnte jetzt auch in deinem Auge stecken. Und dann würde dir auch deine legendäre Gesundheit nicht mehr helfen. Hau endlich ab; du kannst hier nichts mehr tun! Ich habe ein volles Magazin im Lauf und eines im Gürtel stecken und solange ich schießen kann, wird sich keiner trauen, seine Nase vorzustrecken!“ Wie zur Demonstration drückte er ein weiteres Mal ab und schoss ein flüchtiges Loch in die sich weiter verdichtenden wirbelnden Schneewolken.
„Aber sie werden dich töten!“
„Versteh endlich, Erson. Ich bin doch schon lange tot. Seit mich dieser beschissene Pfeil erwischt hat. Inet sei verdammt! Warum machst du es mir so schwer? Nimm mein Opfer an.“ Dann sah er doch noch flüchtig zu Erson und in seinem dunklen Welpenblick lagen Zärtlichkeit und Abschied.
„Du hast mich vor dem Stadtbüttel von Garda gerettet, weißt du noch? Und aus dem Straflager in Segdaheim befreit. Jetzt revanchiere ich mich, mein Freund.“ Seine Stimme brach und er wischte sich über die Augen.
„Blöder Schnee“, murmelte er und konzentrierte sich wieder auf die Flanke, hinter der sich ihre Feinde vor seinem Sperrfeuer verbargen. Er hatte alles gesagt. Sakket trat hinter Erson und legte ihre Hand auf die Schultern des verzweifelten kleinen Mannes, der zum ersten Mal in seinem Leben um seine nächsten Worte rang und keine fand.
„Es hat keinen Sinn“, sagte sie nüchtern. „Lass uns endlich gehen.“ Kurz noch zögerte Erson, dann drehte er sich mit einem Schulterzucken um und stapfte wie beleidigt den schmalen Pfad ein paar Fuß weiter hinauf, bis das Seil zwischen ihm und Sakket gespannt war.
„Lebewohl, mein Geliebter. Die Mutter der Leidenden sei auf all deinen Wegen mit dir. Ihre Tränen sind meine Tränen, ihr Schmerz wühlt in meiner Brust …“, flüsterte Sakket den Anfang des Maraia-Gebets und folgte Erson. Sie ließ sich widerstandslos von ihm weiterziehen. Idris sah ihnen hinterher, bis sie im Nebel verschwanden. Er murmelte etwas, aber niemand hörte seine Worte.
Verbissen und so eilig, wie es ihnen bei dem kaum erkennbaren Pfad möglich war, stolperten Sakket und Erson weiter. Das Opfer von Idris durfte nicht vergebens sein. Bald verbreiterte sich die Felskante und damit auch der Pfad. Er war jetzt zwar leichter begehbar, aber die Fliehenden kamen trotzdem langsamer vorwärts. Denn der Weg führte nun erheblich steiler nach oben und auch das Schneetreiben wurde noch dichter. Doch stumm und stur setzten sie einen Schritt vor den nächsten, vom Grauen in ihren Rücken vorwärts getrieben. Allein auf ihren Weg konzentriert stapften sie weiter, nur selten blieb einer der beiden kurz um Atem ringend stehen. Keiner hatte dem anderen etwas mitzuteilen. Aber beide lauschten sie immer wieder angestrengt nach hinten. Sie nahmen es erleichtert zur Kenntnis, wenn erneut ein oder zwei Schüsse zu hören waren. Einmal meinte Erson sogar, Idris triumphierend rufen zu hören.
Endlich, sie waren sicher schon eine Stunde auf diese Weise an der kahlen Flanke weiter den Berg empor gewandert, brach Sakket in Ersons Rücken das Schweigen:
„Nimmt dieser Kothaufen von einem Berg denn nie ein Ende? Ich habe das Gefühl, wir sind auf diesem verdammten Pfad schon dreimal um ihn herumgestolpert …“ Erson blieb keuchend stehen und wartete kurz, bis Sakket ihn eingeholt hatte. Dann ging er weiter und erklärte:
„Der Gynashort ist nach der Wendspitze die höchste Erhebung zwischen Seeland und der Provinz“, spielte er den Reiseführer. Es tat ihm gut, lenkte ihn und vielleicht auch Sakket etwas ab. „Höher ist nur noch das Babelmassiv jenseits des Alten Südwalls. In Hennes Karte steht, dass der Gynashort nach dem alten wendländischen Längenmaß exakt 3296 Meter hoch ist. Wenn ich mich nicht täusche, sind das etwa 17 Furlong, also zwei Meilen …“
„Exakt sind das, auf drei Stellen gerundet, 16,384 Furlong oder 2,048 Meilen“, unterbrach ihn Sakket und schaffte es fast, Erson zum Lächeln zu bringen. Jedes Kind, das der Orden der leidenden Gene in seinem Waisenhaus in Garda aufgezogen hatte, brachte etwas Besonders mit sich, das es für die Adepten und Magister interessant machte. Bei Idris waren das die zusätzlichen Daumen, die auf dem Rist seiner Hände saßen, bei Erson selbst seine verblüffend schnelle Selbstheilung nach Verletzungen. Er war auch noch nie krank gewesen. Und Sakket? Nun, sie konnte erstaunlich gut mit Zahlen umgehen. Die Geschwindigkeit, mit der sie rechnete oder mathematische Zusammenhänge begriff, war einzigartig.
„Also gut“, fuhr er fort, „nehmen wir an, dass wir den Gynashort bereits zwölf Furlong hoch erklommen hatten, als wir diesen Felsenpfad fanden – also schon ein gutes Stück über der Baumgrenze waren – dann sollten wir es nicht mehr weit bis zum Gipfelplateau haben, vielleicht noch zwei Stunden oder drei, auf jeden Fall sind wir lange vor Sonnenuntergang …“
Ein entsetztes Kreischen unterbrach Ersons gelehrten Vortrag. Obwohl es nach nichts Menschlichem klang, war es doch der verzweifelte Todesschrei eines in den Abgrund Stürzenden. Spitz und schrill drang er aus der Tiefe der Schlucht zu ihnen empor. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Schrei dort unten im bodenlosen Nichts verklang, nur langsam leiser werdend. Beide lauschten. Aber es war nichts weiter zu hören, kein Rufen, keine Schüsse. Nur das Heulen des Windes drang an ihre Ohren. Der Berg hatte sich seine majestätische Ruhe zurückerobert. Was auch immer weit unter ihnen geschehen war, welches Drama sich abgespielt hatte: Jetzt war es vorbei.
„Ob die Tudasgarda noch hinter uns her sind? Meinst du, er hat sie alle aufhalten können?“, fragte Erson und vermied es, den Namen seines Freundes auszusprechen. Sakket schüttelte den Kopf.
„Wir müssen weiter“, presste sie zwischen ihren dünnen Lippen hervor und übernahm wieder die Führung. Hatte der Wind den Schnee bislang so nass und schwer aus den Wolken getrieben, dass er sofort auf dem Boden und auf der dadurch wie ein Bleigewicht lastenden Kleidung der Flüchtenden schmolz, so verwandelten die sich Flocken jetzt in kleine und harte Kristalle. Sie bildeten eine gefährlich rutschige Eisschicht auf dem Pfad. Sie knirschte wie mit ihren Zähnen zornig unter den Sohlen der festen Schuhe. Nur langsam tappend kamen die beiden voran. In der eisigen Höhe, deren Luft einem dünnen Messer gleich durch ihre Nasen in die Lungen stach, wurde es ihnen immer schwerer, Atem zu finden. Die Felleisen mit den Vorräten und dem Zelt drückten mit jedem Schritt heftiger auf ihre gebeugten Schultern. Für den dicken und kurzatmigen Erson wurde es bald zur Qual. Funken tanzten vor seinen Augen und er schwankte beim Gehen. Doch Sakket zog ihn einfach weiter.
Ersons Gedanken gingen zurück an den Tag, an dem er und seine Gefährten zum ersten Mal von der goldenen Stadt im Herzen des Gynashorts gehört hatten. Das war in der Lahmen Curie gewesen, der etwas verrufenen Spelunke am großen Binnenhafen von Garda. Sie war eine schmierige und verräucherte Bruchbude, die wacklig auf ihren Stelzenfüßen über dem stinkenden Tryas-Kanal balancierte, der den gesammelten Unrat und die Abfälle der Stadt zum Fluss schwemmte, oft auch einen Selbstmörder oder einen Leichnam, aus dessen Rücken noch der Griff eines Messers ragte. Garda war eine arme, von Verbrechen und Streitigkeiten gequälte Stadt ohne Recht und Ordnung. In ihr kämpften drei mächtige Kaufmannshäuser und eine Diebesgilde um die Vorherrschaft und die Diebe waren unter ihnen noch die ehrlichsten und den Gesetzen am treuesten. Der Stadtbüttel war bis in die Knochen korrupt und der Stadtrat eine Mördergrube, in der die Vertreter der Kaufleute eine handfeste Politik betrieben und regelmäßig mit Knüppeln übereinander herfielen.
In der Lahmen Curie gab es allerdings den besten Bisamratten-Braten nördlich des Rauen Gebirges und das dunkle Bier war billig und süffig. Das allein hätte schon genügt, das Gasthaus zum beliebtesten Treffpunkt der Seefahrer, Kaufleute und Gauner zu machen. Oft waren auch alle drei Professionen in einer einzigen zwielichtigen Person vereint, die im Schatten einer der Nischen des Lokals ihren undurchsichtigen Geschäften nachging. Die günstige Lage des Gasthauses gegenüber des größten Bordells von Seeland machte die Lahme Curie allerdings zu einer wahren Goldgrube, in der die humpelnde Wirtin wie eine Spinnenkönigin ihre Netze webte.
Auch die miteinander wie Geschwister verbundenen drei jungen Menschen, die sich nach ihren elenden Hungerjahren im Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Gene ewige Treue und Freundschaft geschworen hatten und sich im Hafen mit mehr oder weniger legalen Handlangerarbeiten über Wasser hielten, waren Stammgäste bei der Lahmen Curie und lauschten jeden Abend mit roten Ohren begierig den Erzählungen, die die weitgereisten Gäste am Kaminfeuer vor einer interessierten Runde zum Besten gaben.
Die großartigste Geschichte war jene gewesen, die der alte Jäger Henne mit leuchtenden Augen von der legendären Stadt Bridon zu erzählen wusste. Dreitausend Jahre nach dem Fall der Vorgänger, jener legendären Vorzeit, als mit den Feuersternen, die vom Himmel fielen, der Großen Welle nach dem Sturz des bleichen Máni und dem buchstäblichen Zerbersten der Erde das diesige Morgenerwachen der Geschichte stattfand und die ersten ungenauen Erinnerungen der heutigen Welt begannen, hatte sich der Sage nach über Bridon in einem gewaltigen, jede Beschreibung spottenden Erdbeben innerhalb von Augenblicken der Gynashort emporgefaltet und die Stadt schlicht unter sich begraben – mitsamt ihren überraschten Bewohnern, all den Wundern ihrer Techné und ihren gewaltigen Schätzen. Denn es steht geschrieben, dass in jener Stadt der diamantengeschmückte Palast der Könige vom Vorher, der goldene Hort der Vorgänger bewahrt würde. Dies geschah während der entsetzlichen Reichskriege zwischen den Herrschern Máeriqas, Turini Sud und dem weisen König Launin, Kriegen, die das Aussehen der Welt bis heute prägten und zugleich das letzte Aufblitzen des Abendrots über der Welt der Vorgänger bedeuteten. Bridon war der Mittelpunkt von Máeriqas’ Reich gewesen – Máeriqas, der der Unglückselige genannt wurde. Er wurde mit seinem Land, seiner Königsburg und seinen Untertanen von den Gesteinsmassen des Rauen Gebirges verschüttet. Das war beinahe dreitausend Jahre her oder auch viertausend; niemand wusste das so genau. Doch noch immer hatte der Berg seine Geheimnisse nicht preisgegeben.
Seit der Erzählung von Henne suchten Sakket, Idris und Erson nach einem Eingang in den Gynashort, einen Weg ins mythische Bridon. Fünf Jahre ihres Lebens hatten die drei inzwischen für ihre Suche verschwendet. Und wohin hatte sie das alles geführt? Idris war wohl tot und Sakket und Erson längst dabei, ihm auf seinem Weg zu folgen. Sie weigerten sich nur, es wahr zu haben.
Sakket blieb plötzlich stehen. Erson bemerkte es zu spät und rumpelte in ihren Rücken. „Schau“, sagte sie und deutete auf den Boden, „wir sind tatsächlich nicht die ersten hier oben.“
Neben dem Pfad hatte jemand ein paar Steine zu einem Hügel aufgeschichtet. Oben auf der Spitze der künstlichen Pyramide steckte ein kurzer Stab, an dem Bänder mit Fluchsprüchen, Tierknochen und Sträuße von kleinen länglichen Gegenständen im Wind tanzten. Letztere sahen Erson ein wenig nach zusammengebundenen, vertrockneten Chilischoten aus. Er sah genauer hin und erschauderte. Das waren mumifizierte menschliche Finger! Die Warnung der Tudasgarda war eindeutig: Bis hierher und nicht weiter!
Während der Pfad hinter ihnen auch auf natürliche Weise entstanden sein konnte, waren an dieser Stelle endlich Stufen in den Felsen gehämmert. Unter der Schneedecke konnte man sie kaum ausmachen, aber direkt vor den beiden Schatzsuchern endete der Felsenweg. Es begann eine von Menschen geschaffene Treppe, die die ansonsten unüberwindliche Felsenklippe empor kletterte und die an einigen ausgesetzten Stellen sogar rostige eiserne Ketten als Geländer aufwies. Erson folgte dem weiteren Aufstieg mit dem Blick. Die bequemen Stufen waren etwa einen halben Fuß hoch und vier Fuß breit. Sie führten steil empor; nach jeweils vierzig von ihnen kam ein Absatz und sie änderten die Richtung. Das ging so weiter, bis die gewaltige steinerne Treppe sich weiter oben vor seinem Blick in den Wolken verbarg. Erson bückte sich und wischte eine Stufe vom Schnee frei. Sie war erstaunlich sauber und glatt gearbeitet, wirkte wie poliert. Erson konnte sich nicht vorstellen, dass die barbarischen Himmelskrieger zu solch einer feinen Arbeit in der Lage waren, noch dazu in diesen Höhen, in denen bereits die Luft dünn war. Das sah ihm tatsächlich nach einer Arbeit von erfahrenen Steinmetzen aus, so unglaublich dies in dieser Höhe sein mochte.
„Meinst du, das haben die Vorgänger geschaffen?“, fragte Sakket ehrfürchtig.
„Wohl nicht, die Treppe wurde sicher erst nach dem Untergang der Alten Reiche in den Fels gemeißelt; lange, nachdem der Gynashort entstanden ist.“ Erson zögerte. „Es kann freilich auch sein, dass unsere Geschichtsschreibung irrt und Bridon später in den Berg hinein gebaut wurde. Es ist wie die Geschichte mit dem Ei und der Henne. Was war zuerst?“
Sakket lachte befreit auf und klopfte ihrem Gefährten anerkennend auf die Schulter: „Auf jeden Fall ist hier oben etwas. Bisher habe ich die ganze Geschichte von dem Weg auf den Berg nicht geglaubt. Mich hätte es auch nicht gewundert, wenn der Pfad plötzlich vor einem Abgrund zu Ende gewesen wäre. Aber das hier sieht mir doch ganz nach einer Einladung aus.“
„Die haben aber nicht die Tudasgarda ausgesprochen“, erwiderte Erson und erntete einen der Pergamentstreifen von dem grausigen Speer neben der ersten Stufe. Er vermied dabei sorgfältig eine Berührung der eklen Mumienfinger, die wie lebendig mit den Böen spielten. „’aSaqe dAlegk – w’DanQo sol TudAsqo eLegk’“, entzifferte er mühsam die unleserliche und verwische Schrift auf dem Papier. „Das ist altwendisch und wenn ich es richtig übersetze, soll das heißen: ‘Gehst du weiter, dann frisst deine Eingeweide ein silberner Tod’.“
„Charmant. Was ist das: Ein silberner Tod?“, erkundigte sich Sakket. Erson zuckte mit den Schultern.
„Ich habe keine Ahnung. Eine Waffe vielleicht? Oder eine Krankheit? ‘TudAsq eLegk’, ein Tod aus Silber. Jedenfalls wird er auch auf den anderen Spruchbändern erwähnt. Wer den Gipfel betritt, ist ihm ausgeliefert. Offenbar hatte der alte Henne Recht. Der Gipfel ist ein Tabu der Tudasgarda. Dieser Speer stellt eine Art letzte Warnung dar. Etwas verbirgt sich dort oben vor den Augen der Welt. Es muss den Himmelskriegern verdammt wichtig sein, dass niemand zur Spitze des Gynashorts vordringt. Wenn ich denke, wie hartnäckig sie uns verfolgen …“ Er verstummte abrupt, denn ihm war Idris eingefallen. Auch das Mädchen schien an ihn zu denken und eine Weile standen die beiden stumm beieinander, in ihren Gedanken verloren. Obwohl beide nicht besonders abergläubisch waren, wollte keiner den ersten Schritt tun.
„Dann schauen wir mal, was wir finden“, sagte Erson schließlich und ließ das Papier mit dem Fluch los. Es flatterte wie ein aufgeregtes Insekt im Wind davon. Er band sich von dem Seil los, das sie beim Treppensteigen nur behindert hätte. Sakket rollte es sorgfältig zusammen und steckte es zurück in ihr Felleisen.
„Welche Farbe mein Tod hat, ist mir egal. Der in meinem Rücken ist jedenfalls blutrot. Wenn der vor mir silbern ist, dann ist das zumindest ein Hoffnungsstreifen“, erklärte sie dabei. Sich in einen grimmigen Humor zu flüchten, war Sakkets Art, mit gefährlichen Situationen umzugehen. Erson wusste das und lächelte deshalb pflichtschuldig, auch wenn ihm alles andere als zum Spaßen zumute war.
Anfänglich war es schwierig, die überfrorene, schlüpfrige Treppe zu begehen, aber nach den ersten einhundert Fuß hatten sich die beiden an das stupide Aufwärtssteigen gewöhnt und fielen in einen gleichmäßigen, kräfteschonenden Rhythmus. Der Aufstieg wurde auch leichter, weil der Wind weiter oben stärker blies und der Schnee sich nur an ungünstigen Stellen auf den ausgesetzten Stufen hielt. Sie gewannen schnell an Höhe, aber insgesamt war es wesentlich anstrengender, die steilen Treppenstufen zu erklimmen, als vorher dem nur gemäßigt aufwärts führenden Pfad zu folgen. Auf jedem der quadratischen, erstaunlicherweise mit feinen flaschengrünen Fliesen ausgelegten Absätze – jeden zierte ein weiterer der unappetitlichen Speere, an denen neben den warnenden Spruchbändern Dinge hingen, die keiner der beiden genauer untersuchen wollte – verschnauften sie für ein paar Minuten, um dann den nächsten Abschnitt der Treppe in Angriff zu nehmen. Sie schien sich endlos nach oben fortzusetzen, buchstäblich eine Treppe in den Himmel hinein. Erson fiel unsinnigerweise ein altes Lied ein, das er nicht aus dem Kopf bekam und beim Stufensteigen vor sich hinsummte.
An einem Absatz, der durch eine überhängende Felskante einigermaßen vor Wind und Schnee geschützt war, rasteten die beiden Schatzsucher etwas länger. Sie kauerten sich eng beieinander in eine Ecke, zitternd in ihre Mäntel vergraben. Erson kramte aus seinem Rucksack, den er neben sich abgelegt hatte, hartes Zweibrot und gepökelte Lammfleisch-Streifen hervor. Beides verband sich im Mund zu einem salzigen Brei, mit dem man Ziegel hätte verfugen können. Aber es war die erste Mahlzeit des Tages und sie schlangen sie mit Hilfe ihres Wasservorrates gierig hinunter. Erson fühlte Sakkets prüfenden Blick auf sich ruhen.
„Was?“
„Ach, es ist nichts weiter“, erwiderte sie und musterte neugierig sein feistes Gesicht, das ihn auf Menschen, die ihn nicht kannten, harmlos und naiv wirken ließ. Das Mädchen wusste, wie sehr dieser erste Eindruck täuschte. „Ich bin nur jedes Mal von neuem verblüfft, wie schnell deine Wunden abheilen. Vorhin war deine linke Wange noch von dem Bolzenschuss des Tudasgarda aufgerissen und blutig. Und jetzt kann ich gerade noch ein wenig Schorf entdecken. Das ist schon etwas ganz Besonderes.“
„Das dachten die Brüder im Waisenhaus auch. Sie haben mit Genuss an mir herumexperimentiert. Besonders der Adept Seyferd hatte seinen Spaß. Ich weiß nicht, wie oft er mich mit kochendem Wasser verbrüht oder an einer Kerze verbrannt hat, um anschließend neugierig den ‘Heilungsprozess’ zu untersuchen, wie er das nannte …“, erinnerte sich Erson grimmig, während er mit einer Hand über seine fast verheilte Wange strich, deren tiefe Fleischwunde er längst vergessen hatte. Er wischte dabei den letzten Schorf weg. Die Haut darunter war makellos. Ja, seine Wunden heilten schnell. Deshalb war er auch für die Bruderschaft so interessant gewesen.
„Wie könnte ich ihn vergessen“, nickte Sakket düster. „Er war oft in der Nacht im Schlaflager der Jungen unterwegs und suchte sich seine Opfer. Wir Mädchen hörten ihr Weinen durch die Zimmerdecke. Sicherlich hat ihn sich inzwischen Inet geschnappt.“
Erson wusste, dass dem so war, dass Seyferd schon lange im eisigen Feuer der Hölle schmorte, aber er behielt sein Wissen für sich. Was zwischen ihm und dem Adepten in jener Nacht vor bald zehn Jahren geschehen war und wie dieser dabei eines intimen Körperteils und anschließend seines Lebens verlustig ging, bevor Erson mit Sakket und Idris in der Verwirrung des von ihm gelegten Feuers aus der Folterkammer in die zweifelhafte Freiheit der Kanäle von Garda floh, hatte er allerdings noch nie jemandem erzählt; selbst der Frau nicht, die er liebte. Manchmal träumte er noch davon. Es gab Wunden, die konnte sein Körper nicht heilen; sie bluteten in seinem Inneren noch nach Jahren.
„Wie spät mag es sein?“, wechselte Sakket zu Ersons Erleichterung das ihm unbequeme Thema und streckte prüfend ihre Nase in den Wind. Aber hier, inmitten des dichten Nebels der grauen Schneewolken, die der Sturm weiterhin hartnäckig gegen die Bergflanke trieb, war nicht einmal zu erahnen, in welcher Richtung die Sonne stand. Die beiden hatten bei all den Serpentinen und Drehungen ihres Weges vollkommen die Orientierung verloren und Sakket hätte es nicht verwundert, wenn ihr Erson erklärt hätte, dass sie die Erde längst verlassen und in Ariels lichtem Himmelsreich umherstolperten.
Auch Erson schnupperte in den Wind. Seine zuverlässige goldene Zwiebel, die er einem reichen betrunkenen Geldsack aus Bedendorf gestohlen hatte, über den er einmal zufällig im Schlamm des Straßengrabens vor der Lahmen Curie gestolpert war, war längst stehengeblieben, weil er bereits vor Tagen vergessen hatte, sie aufzuziehen. Er musste raten.
„Ich denke, es ist inzwischen später Nachmittag. Wüsste ich nicht genau, dass der Gynashort nicht der Berg der Götter ist, würde ich denken, wir klopfen gleich an die Pforten von Arielsgarda.“ Offenbar hing er ähnlichen Gedanken nach wie seine Freundin.
In diesem Augenblick hörten sie es beide: Deutlich ertönten eilige, aber feste Schritte, die unter ihnen die Treppe emporstiegen. Auch das gleichmäßige, wenngleich angestrengte Keuchen von mehreren Männern klang kurz zu den Rastenden herauf. Dann war wieder Ruhe. Beide starrten sich betroffen an.
„Das kann nicht schon …“, begann Sakket panisch. Erson legte ihr sofort einen Finger auf die Lippen. Er rutschte zur Seite und spähte vorsichtig über den Rand des gefliesten Absatzes in die Tiefe. Ein ganzes Stück unter ihnen, einige Treppenkehren und drei-, vierhundert Fuß tiefer, erkannte er die Schemen der grausamen Krieger der Tudasgarda, die unverdrossen die Stufen zu ihnen emporstiegen. Dass die beiden ihre Verfolger gehört hatten, lag wahrscheinlich an einer Laune des Windes, der nun von unten stramm in die Höhe blies. Nur dieser Glücksfall hatte sie davor bewahrt, bei ihrer Rast von den brutalen, bis an die Zähne bewaffneten Himmelskriegern überfallen zu werden. Erson begann zu zählen, dann scheuchte er Sakket auf.
„Schnell, wir müssen weiter“, drängte er und half ihr in die Höhe. Sie warfen ihre Felleisen über und hetzten die nächste Treppe empor. „Es sind nur noch drei Verfolger übrig“, sagte Erson, „Idris hat ganze Arbeit geleistet.“
„Das sind immer noch zu viele. Wir könnten uns nicht einmal eines Einzigen von ihnen erwehren. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell wieder an uns herankommen!“
„Wir können es nicht ändern. Deshalb sollten wir auf der Gipfelebene sein, bevor sie uns einholen. Und hoffen, dass der alte Henne Recht hatte und die Tudasgarda es nicht wagen, auf den Gynashort zu klettern.“ Er sah nach oben, aber ein Ende der Treppe war immer noch nicht zu erkennen. Eine steil emporragende Felsklippe, um die sich die Stufen in einer langgezogenen Wendel aufwärts drehten, verdeckte nun die Sicht.
„Der Weg nach oben ist unsere einzige Chance“, ergänzte er. Gleichzeitig ertönte von unten ein dreistimmiges Triumphgeschrei. Ihre Verfolger hatten sie ebenfalls entdeckt und vervielfachten ihre Bemühungen, ihre Opfer einzuholen, bevor diese den Gipfel erreichten. Doch die langsam schmaler werdende Treppe um die letzte, mächtige Klippe machte es niemandem leicht: Verfolgte und Verfolger rutschten bei fast jedem Schritt aus, rappelten sich wieder auf und kämpften sich weiter empor, Stufe für Stufe, Absatz für Absatz, hinauf in das immer dichter werdende Grau des Himmels, in dem nadelfeiner Schneegeriesel die größeren Flocken ersetzt hatte und wie erkaltete Asche in ihre Augen wirbelte. Die beiden konnten kaum mehr nach vorn sehen. Obwohl Sakket und Erson verzweifelt ihre letzten Reserven mobilisierten, kamen ihnen die Krieger immer näher. Das war ein grausames Rennen, das die beiden nicht gewinnen konnten.
600 Seiten, illustriert
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