Das alles ging bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr ganz gut. Ich könnte den Tag angeben, an dem diese Sammlung von Gründen, aus denen ich Bilder malte, starb. Ich war auf der Fachoberschule im Bereich Gestaltung und verrückt, eingenommen und überheblich genug, mich mit meinen dilettantischen Fähigkeiten vor die Öffentlichkeit zu trauen; das heißt, ich hatte erfahren, dass ein paar der wenigen renommierten und älteren Maler unserer Stadt einen Kunstsalon in einer großen, leeren Fabrikhalle planten und eine Ecke des Raumes jungen Talenten zur Verfügung stellen wollten. Das hielt ich für meine Chance. Ich setzte mich mit den Künstlern in Verbindung und machte mit ihnen ein Treffen bei mir aus, damit sie meine Bilder begutachten konnten. Ich hatte mir nichtim Traum vorstellen können, jemand – noch dazu ein Kollege – könne die Weltbedeutung meiner Kunst verkennen oder gar ablehnen und war deshalb auf das, was kam, völlig unvorbereitet. Die Kritik der Etablierten war natürlich vernichtend und braucht hier nicht weiter ausgebreitet werden. Sie gipfelte in dem mit angeekelt herabgezogenen Mundwinkeln gemachten Urteil, meine Werke seien Kitsch wie die Ölschinken in den Kaufhäusern, die trinkende Mönche oder der schönen Zigeunerinnen zeigten. Meine Arbeiten wären lächerliche Gartenzwerg-Kunst und auf keinen Fall entsprächen sie dem Niveau des Kunstsalons. Sicher war die Art, mit der sie mich spöttisch abkanzelten, gemein und unfair, von Selbstüberhebung gekennzeichnet, aber sie hatten aber deswegen leider nicht weniger recht. Ich benötigte allerdings beinahe ein Jahr, bis ich das einsehen und akzeptieren konnte. Die klatschende Ohrfeige hatte jedenfalls gesessen; diese Niederlage war die schlimmste meines Lebens. Ich durchlebte eine extreme Krise, in der ich nicht nur völlig in der Schule versagte, sondern auch kein einziges Bild mehr malte. Der große Künstler in mir war so am Boden zerstört, dass er sogar in leichtsinnigen Momenten mit dem Gedanken an Selbstmord spielte – mit dem er, ich will ehrlich sein, selbstverständlich mehr kokettierte, als ihn ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Näher war mir da schon die Vorstellung, ein Blutbad unter den arroganten älteren Kollegen anzurichten.
Meine erste Reaktion auf diese Ablehnung war, trotzig und beleidigt auf der Qualität meiner Bilder und Collagen zu beharren; vor allem auf der handwerklichen, die ich damals für unangreifbar hielt und die sicher das Prädikat “frühreif” verdiente. Gierig versuchte ich, mein Selbstbewusstsein wieder in die Höhe zu bringen, indem ich mein kleines Publikum mit lästiger Aufdringlichkeit um Lob anging, ja, es von ihm unwirsch forderte. Doch plötzlich waren fast alle, nachdem sie von meinem Unglück gehört hatten, merkwürdig unsicher und vorsichtig abwägend, wenn ich mich um eine Kritik bei ihnen aufdrängte. Heute denke ich, ich überforderte sie schlicht, da sie alle die ganze Angelegenheit weit weniger ernst nahmen als ich. Sie konnten nicht begreifen, warum ich mir die Ablehnung so zu Herzen nahm, da sie nicht ahnten, wie wichtig mir meine Kunst inzwischen geworden war. Sie war das Spiegelbild geworden, in dem ich mich sah. Deshalb nahm ich die vernichtende Kritik an meinen Bildern als eine Kritik an mir selbst, da ich mich ja in ihnen abbildete. Das war der Grund, aus dem ich verletzt war: Künstler, von denen ich etwas hielt und mit denen ich mich hatte solidarisieren wollen, hatten mich nicht als gleichberechtigt anerkannt, mir dadurch meine Lebensgrundlage entzogen, die ich mir in den Jahren meiner Pubertät mühsam aufgebaut hatte. Deshalb konnte ich zuerst nicht einsehen, wie recht sie hatten. Aber es ist doch bemerkenswert, dass ich es von diesem Tag an nicht mehr fertigbrachte, schöpferisch tätig zu sein. Ich verbrachte oft Stunden mit einem Malblock und der Kohle in der Hand, kritzelte vielleicht ein paar Linien, aber meist war mein Inneres so blank und leer wie das Papier vor mir. Ich war ein Opfer des horror vacui geworden, vor dem sich jeder Künstler fürchtet. Ganz langsam wurde mir aber bewusst: Meine Unfähigkeit, mich schöpferisch auszudrücken, war darin begründet, dass meine alten Gründe, aus denen ich malte, jetzt nicht mehr galten. Meine egomanischen Bildaussagen stellten für andere nichts weiter als eine langweilige, überflüssige Onanie da , mit der sich niemand befassen wollte. Meine Kunst war nichts, was Belang für andere oder gar für die Öffentlichkeit Bedeutung hatte. Mein sorgsam gehüteter Glaube an mich selbst und an das, was ich meine Kunst nannte, war gestorben.
Ich hätte freilich nach diesem Erlebnis wie viele in diesem Alter aufhören können, mich kreativ auszudrücken, oder zumindest nur noch für mich allein weitermalen können, aber beides konnte mich nicht mehr befriedigen. Dieser Zug war längst abgefahren. Viel zu sehr hatte ich mich in den letzten Jahren darauf versteift, ein Künstler zu sein, um nun plötzlich diesen Charakter wie einen überflüssigen Schal zur Seite legen zu können, weil sich das Wetter verändert hat. Nein, ich wollte weiterhin Bilder malen und auch ein Publikum für sie, denn ich war zu der Auffassung gelangt, dass ein Kunstwerk erst dann vollendet ist, wenn es zu Augen einer irgendwie gearteten Öffentlichkeit gekommen ist. Ich benötigte also eine neue und bessere Begründung, Kunst zu schaffen, als es mein neurotischer Versuch war, anzugeben und mich selbst zu heilen, einen differenzierteren Grund, den ich im folgenden Abschnitt auseinander legen will.
Trotz des eine Fortsetzung verheißenden letzten Satzes endete das Manuskript von Nix an dieser Stelle. Aber da er mir seine augenblickliche Kunsttheorie bereits bei unserem Interview vor einigen Wochen eingehend erläutert hatte, konnte ich mir in etwa denken, wie er weiterschreiben wollte. Ich legte also das letzte Blatt betroffen und unangenehm berührt zur Seite. Nix schwieg abwartend und ich war ihm dafür dankbar. Mir wäre im ersten Moment unmöglich gewesen, etwas zu dieser monomanen Selbstentblößung zu sagen, zu diesem Outing, um ein neumodisches Wort zu benutzen. Das Gelesene nahm mir den Atem. Ich benötigte Zeit, um ein wenig Linie in eine Kritik, die er nun sicherlich von mir erwartete, zu bringen. Ich wollte ihn nicht mit irgendeinem Gestammel beleidigen. Nicht wagend, ihm jetzt in die Augen zu sehen, beschäftigte ich mich intensiv mit einem Kronkorken, den ich vom Boden aufhob. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Text! Nix war wirklich immer wieder für Überraschungen gut. Nach einer ganzen Weile räusperte er sich und nahm seine Blätter zurück, faltete sie sorgfältig zusammen.
»Also«, fragte er endlich, »was sagst du?«
Ich blickte leichtsinnig auf und direkt in seinen durchdringenden, unangenehmen Blick. Ich konnte ihn nicht lange ertragen und widmete ich wieder beflissen dem Stück Metall in meiner Hand.
»Das ist sehr schwer …«, begann ich, noch immer Zeit schindend. »Dein Text endet etwas abrupt, findest du nicht?«
»Gott, was bist du clever. Natürlich hast du nur die Hälfte gelesen. Aber ich musste hier absichtlich einen Schnitt machen, weil mein Aufsatz schon jetzt länger ist, als man mir Platz einräumte. Kurz zusammengefasst: Ich lege im zweiten Teil dar, wie ich genau durch diese Erkenntnis, eben, dass mich psychologische und pathologische Gründe zum Malen bewogen hatten und ich deshalb auch zwangsläufig schlechte Bilder machte, aus dieser Art des Schaffens herausfand, zu einem Malenwollen aus Vernunftgründen kam. Dazu sammle ich dann die Begründungen, zu malen, beziehungsweise, es zu lassen, stelle sie in einer Art von Dialektik gegenüber, wäge sie ab und hebe sie in einer Synthese, nämlich den Gründen, aus denen ich persönlich male, auf. Es kann in der Zukunft durchaus möglich sein, dass mir diese Gründe nicht mehr ausreichen, ich erneut vor dem Problem stehe, ob es für mich überhaupt Sinn macht, zu malen. Aber das geschieht dann auf einer höheren Ebene und es kann nur fruchtbar für die Qualität meiner Kunst sein. Ich habe diesen zweiten Teil meines Aufsatzes längst geschrieben, doch ich muss ihn noch einmal überarbeiten. Ich denke, der erste Abschnitt ist auch interessant und kann für sich allein stehen«, erläuterte er weitschweifig. Ich hörte ihm kaum zu, denn es fiel mir schwer, seinen seltsamen Gedankengängen zu folgen.
Plötzlich konnte ich allerdings verstehen, warum er damals in der Fachoberschule so wütend auf meine Kritik an seiner Collage reagiert hatte: Sie stellte nach seinen alten Bildern einen frühen Versuch dar, etwas Neues zu schaffen und ich hatte mich leichtfertig darüber lustig gemacht. Eine Pause entstand. Nun war ich an der Reihe, so schwer es mir auch fiel.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 19)“
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