»Ich glaube, dein Text hat ein paar Pferdefüße«, begann ich tastend, ohne zu wissen, worauf ich hinaus wollte. Die Richtung würde sich hoffentlich während des Redens zeigen. »Ich habe in der Hauptsache zwei Dinge an ihm auszusetzen. In diesem Aufsatz schreibst du erstaunlich offen über deine pubertären Probleme, die dich zur Kunst geführt haben, einer Kunst, in der sich diese Schwierigkeiten gespiegelt haben. Mir war das alles ein wenig zu offen, zu exhibitionistisch. Ich glaube nicht, dass sich jemand für diese intimen Sachen interessiert. Der Künstler sollte hinter seinem Werk verschwinden, denke ich. Und deine Offenheit mach dich verletzbar. Dieser Aufsatz ist etwas Ähnliches wie die Kunst, über die du in ihm schreibst. Er behandelt das gleiche Thema; du drehst dich um dich selbst. Ist es daher nicht möglich, er könnte ebenso langweilig und nicht von, lass mich sagen, allgemeingültigem Interesse sein? Verstehst du mich?«
Nun hielt Nix den Kopf gesenkt und nickte, aber ich glaubte nicht, dass ich ihn erreicht hatte. »Weiter …«, forderte er mich ungeduldig auf. Er klang interessiert und nicht so verärgert, wie ich erwartet hatte.
»Willst du dich nicht dazu äußern?«, fragte ich verwundert. Ich hatte mich auf einige wütende Gegenargumente gefasst gemacht.
»Vielleicht später«, winkte er ab, »zuerst einmal will ich deine gesamte Kritik hören.«
»Wie du willst«, fuhr ich mutiger geworden fort. »Kommen wir zu meinem zweiten Kritikpunkt. Du hast in deinem Aufsatz davon geschrieben, du hättest zwangsläufig schlechte Kunst machen müssen, weil du in ihr nur deine Neurosen und Wahnvorstellungen aufgearbeitet, sie als Psychiater-Couch benutzt hättest. Das wirkt auf mich viel zu einfach, zu absolut und … na ja, zu apodiktisch. Gut, ich denke, du hast recht anschaulich deinen Weg beschrieben, der dich zu deiner Kunst geführt hat und es war mit Sicherheit nicht der einfachste Weg, den du dir da herausgesucht hast. Bei anderen Malern kann es aber völlig anders sein. Du kannst doch mit deinem Text nicht auf einer Gültigkeit für jeden bestehen. Das gilt auch für deine neuen Gründe, zu malen.« Obwohl ich diesen Gedanken noch weiter ausspinnen wollte, der ein Seitenthema des Aufsatzes behandelte und eigentlich nur meine Unsicherheit bemänteln sollte, das ganze Werk in Angriff zu nehmen, unterbrach mich Nix diesmal. Anscheinend hatte ich einen für ihn wichtigen Punkt erwischt. Diesmal war er voller Widerspruch.
»Das ist genau das, was ich nicht glaube«, sagte er. »Im Gegenteil: Ich bin absolut davon überzeugt, dass ich mit meiner These in beinahe allen Fällen recht habe. Ich kann dir bei beliebigen Künstlern den Punkt in ihrer Entwicklung nennen, an dem ihre alten, psychologischen Gründe, Kunst zu machen, starben, neue in den Vordergrund gerieten und dadurch auch ihre Kunst besser wurde. Einige haben mehrere dieser Wendemarken in ihrer Entwicklung.«
Ich wedelte zweifelnd mit der Hand.
»Wenn du meinst. Aber warum beschäftigt dich dieser Gedanke überhaupt so? Im Grunde ist deine Aussage erschütternd lapidar. Mit zunehmendem Alter und Erfahrung wird auch die Kunst besser. Das ist es doch, was du sagst. Was ist das Besondere daran? Sollte es nicht grundsätzlich so sein? Ich meine, ich male jetzt bessere Bilder als vor fünf Jahren und ich hoffe doch, dass ich in fünf Jahren wiederum bessere male als jetzt.« Es fällt mir heute schwer, zu sagen, was mich wieder dazu verführte, ihn herauszufordern. Wahrscheinlich war es die Tatsache, dass er mit seinem Text zu mir kam, von dessen Bedeutung er überzeugt war, und von mir eine Kritik, in Wahrheit aber einen Kniefall erwartete. Nein, er hatte sich noch nicht geändert, wie er in seinem Aufsatz behauptet hatte. Er hielt sich noch immer für Jesus und suchte Jünger, auch einen Verräter. Ich gab allerdings einen verdammt schlechten Judas ab. Das hätte ich ihm gern gesagt, aber ich traute mich nicht.
Nix war mir jedoch zu meinem Erstaunen wegen meines Einwands nicht böse und es entwickelte sich danach zwischen uns eine angeregte und auch für mich anregende Diskussion mit vielen Ausflügen, Einwänden und Gedankensprüngen. Ich kann mich heute, nach so langer Zeit, unmöglich an alle erinnern. Ich kann nicht einmal mehr die wichtigsten wiedergeben. Ich will es kurz machen: Wir unterhielten uns einen ganzen langen Nachmittag, bis es draußen dunkel wurde und wir uns in dem engen Zimmer kaum mehr sehen konnten. Wir sprachen auch über meine Bilder, die ich im Atelier hängen hatte. Er kritisierte sie ernst und ohne Häme in einer für ihn erstaunlich positiven, gesunden Art, zu der ich ihn nicht fähig gehalten hatte. Er bewies dabei ein gutes Auge für kompositorische Schwächen und Farbfehler. Alles in allem haben wir uns an diesem Nachmittag, den wir gemeinsam in meinem Atelier verbrachten, trotz aller unterschiedlichen Meinungen ganz gut verstanden. Es entwickelte sich tatsächlich ein Band von Sympathie zwischen uns, von dem ich hoffte, es würde stark sein, unsere Differenzen überwinden können. Vielleicht würden wir uns nun häufiger treffen und sprechen, was mir wirklich Freude gemacht hätte.
Ich hatte mich jedoch getäuscht. Er versuchte in der folgenden Zeit nur noch einmal, mit mir in Kontakt zu treten und das auch nur, weil er etwas von mir wollte. Er hatte mich auch an diesem Nachmittag im Atelier nur für diese einmalige Gelegenheit gebraucht, gezielt einen Leser gesucht. Ich war wohl gerade der einzige, den er auf die Schnelle finden konnte. Obwohl ich mich ein wenig ausgenutzt fühlte, wusste ich nun durch seinen Aufsatz, dass diese Verhaltensweise exakt zu seinem schwierigen und egozentrischen Charakter passte. Der ungewöhnliche Text von Nix hatte mich zum Nachdenken, zum Nachempfinden gebracht. Ich war über die seltsam nüchternen und unpersönlich lakonischen Ausführungen des Malers über seine Jugendjahre nachhaltig erschüttert. Gerade die Form seines emotionslosen und knappen Berichts über seine Welt des Leidens und Erleidens, der Schuld und der Sühne, um die er wie ein Satellit kreiste, hatte mich bewegt, hatte mich so getroffen,; auch wenn ich aus Eigenschutz kleinlich an ihm herumkritisiert hatte. Nix hatte auf diese Weise einen inneren Abstand demonstrieren wollen, der ihm aber in keinem Moment gelingen konnte, da zwischen den Zeilen beständig der schmerzhafte Aufschrei des Kindes, das ja noch in ihm steckte, hervorbrach.
Es gibt Texte, Kunstwerke allgemein, die wie manche Menschen den Raum Abstand missachten, den jeder benötigt und um sich herum aufbaut: Sie sind aufdringlich, sie berühren und erzeugen eine Unruhe, einen Fluchtinstinkt. Während ich den Aufsatz von Nix las, vor allem seinen Beginn, in dem er über seine frühe Jugend, die Selbstgeißelungen und sein spezielles Verhältnis zu seinem Gott berichtet hatte, hatte ich beständig den unwillkürlichen Wunsch verspürt, zurückzuweichen, diese ungebührliche, intime Nähe zu einem Fremden, die mir in diesem Moment keinesfalls willkommen war und mich einfach überrumpelte, zu fliehen. Doch sie wirkte in den nächsten Tagen nach, ich konnte ihr nicht entkommen. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich über Nix nachdachte. Dadurch entstand, so schwer es mir auch fiel, langsam Verständnis für den schwierigen Menschen Jonas Nix, der mit Hilfe seiner Kunst zwischen den Mühlsteinen, die ihn in seiner Pubertät beinahe zerrieben hatten, hervorgekrochen war. Ich selbst hatte meine eigene Jugend bei weitem nicht so dramatisch erlebt und ein nächtlicher Griff unter die Bettdecke hatte bei mir eher Erleichterung als ein schlechtes Gewissen hinterlassen. Doch je länger ich über den fatalen Einfluss der Religion auf Nix nachdachte, um so deutlicher musste ich meinem ersten Eindruck von ihm, nämlich dem eines mittelalterlichen, anachronistischen Asketen, recht geben.
Eine Weile dachte ich ernsthaft daran, ihn zu malen und ihn auf diese, für mich natürlichste Weise zu bewältigen. Da ich Nix aber nur aus dem Gedächtnis und nach einem grob gerasterten Zeitungsbild entwarf und diese Tuscheentwürfe und Holzschnitte auch mit zu vielen Symbolen befrachtete, konnte nichts Echtes, Wahres und Gutes entstehen und ich gab es bald auf. Ich lege diesem Text trotzdem eines dieser doch sehr melodramatischen Skizzenblätter bei. Es ist, wie ich denke, das gelungenste von ihnen.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 20)“
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