Ich schlich frierend auf einem dunklen und einsamen Seitenweg nach Hause und war nun froh, dass Christine gerade in Regensburg war, denn ich hätte sie im meinem Zustand zu Tode erschreckt. Die Winterjacke und mein Hemd konnte ich wegschmeißen; aber das war zu verkraften. Schlimmer wogen die Stigmata auf meiner Haut und mein angekratztes Selbstbild. Ich beschäftigte mich zwei Stunden damit, mich zu säubern, aber die Farbe aus den Spraydosen hielt gut. Meine Angreifer hatten für ihren Anschlag auf mich Qualitätsware eingekauft. Ich scheuerte mir mit einem rohen Waschschwamm die Haut wund und blieb unverändert rot und blau. Entmutigt stieg ich ins Bett und verschob weitere Säuberungsversuche auf den folgenden Tag.
Am nächsten Morgen waren meine Reinigungsunternehmungen kaum erfolgreicher. Die Farben wurden durch den Einsatz von Terpentin und Lösungsmitteln, die ja ich als Maler zur Genüge zuhause hatte, heller. Allerdings holte ich mir eine schrecklich juckende Allergie. Ich entschloss mich, so lange unsichtbar zu bleiben, bis mit der Zeit mein Aussatz von allein verschwinden würde. Das war sicher das Beste. Ich rief in dem Lokal an, in dem ich arbeitete und ließ mir eine Woche unbezahlten Urlaub geben. Ich ging kein einziges Mal auf die Straße. Es war eine harte Zeit. Ich hungerte, weil mein Kühlschrank leer war und die Nächte machte mir mein nässender Hautausschlag zu einer wahren Hölle.
Die beiden Kerle, die mich angegriffen hatten, waren mit Sicherheit im Freundes- und Bewundererkreis von Nix zu finden. Mein kritischer Artikel über ihn musste sie zu diesem Überfall veranlasst haben, der mich an SA-Methoden erinnerte. Wenn ich auch nicht glauben konnte, dass der Maler für diesen Anschlag verantwortlich zeichnete, so blieb doch die Frage, wie er zu solch einer Anhängerschaft gekommen war, deren Fanatismus mir schon vor Jahren bei der Schulausstellung, die ich anfangs erwähnte, unangenehm aufgefallen war. Was auch immer an seinem Wesen diese Gefolgsleute so bedingungslos auf seine Seite gezogen hatte: Ich war diesem Charakterzug von ihm noch nicht begegnet und konnte ihre Begeisterung und ihr Sendungsbewusstsein, das nicht vor Gewalt zurückschreckte, nicht nachvollziehen.
Wegen meines selbstgewählten Exillebens versäumte ich es denn auch, an Nix’ Vernissage teilzunehmen und als Augenzeuge seinen überwältigenden Triumph mitzuerleben. Ich hatte keine Einladung von ihm erhalten, wie ich es ursprünglich erwartet hatte. Aber es bei einer Veranstaltung dieser Art wäre es kein Problem gewesen, sich dennoch unauffällig einzuschleichen und mit einem Sektglas in der Hand unters Volk zu mischen. Weil ich also zuhause bleiben und leiden musste, bekam ich über die Ausstellung nur Informationen aus zweiter Hand und die waren erstaunlich genug: Ich hatte nie vermutet, wie allein ich mit meiner kritischen Einschätzung der Kunst von Nix stand. Obwohl sich die Süddeutsche mit einem kleinen positiven Artikel, der sich an der Pressemitteilung orientierte, begnügte, machte unsere Tageszeitung einen beachtlichen Rummel um die Ausstellung, die Feuilletonseite war voll der lobenden Kritik und zeigte dazu ein großformatiges Foto, das Nix und Dr. Arno Pauli zeigte, die sich vor einem nur verwaschen erkennbaren Objekt freundlich die Hände schüttelten. In dem breit aufgemachten Artikel stand in ehrfurchtsvollen Worten viel von gelungener Nachwuchsförderung und einem bedeutenden Talent, das – was ja heute selten sei –, allen etwas zu sagen habe. Nix packe eine Botschaft in seine Bilder, die in ihrer Dringlichkeit jeden angehen und berühren müsse. Er wurde mit André Masson und vor allem mit Francis Bacon in eine Reihe gestellt. Das waren freilich lächerliche Vergleiche, die nur die Dummheit des Chefkritikers unseres Provinzblattes manifestierten; Vergleiche, die ich allerdings in der folgenden Zeit noch häufig zu hören bekam. Einer schreibt vom anderen ab; so ist die Journaille eben.
Ich war bestürzt. Ausgerechnet unser konservatives, niveauloses Tagesblatt lobte diese nekrophilen Werke in den Himmel. Das erschien mir unglaublich. Wenn hier keine Bestechung im Spiel war, dann hatte der Kunstkritiker in den letzten Tagen ein kaum fassliches Damaskuserlebnis gehabt, das aus einem Saulus, bei dem die wahre Kunst mit der Klassischen Moderne endete, einen Paulus der jungen Wilden gemacht hatte.
Gespannt wartete ich auf die Sendung des Kritikers unseres Lokalfunks Radio Power-One, auf dessen fundierte und geradlinige Kommentare ich große Stücke hielt. Ich hatte den gut fünfzigjährigen Mischka Lob als einen bissig-resignierten und dabei überaus charmanten Mann kennengelernt, der seine Meinungen exakt und ehrlich von sich gab. Seine Rundfunkauftritte waren nur ein halb ehrenamtlicher Nebenberuf, den er mit Freude und Sachkenntnis ausfüllte. Womit er in Wirklichkeit seine Brötchen verdiente, habe ich nie so genau verstanden, er war selbständig und hatte etwas mit verwirrenden Exportgeschäften zu tun, bei denen er allerdings einen guten Schnitt zu machen schien. Man sah ihn häufig in der Stadt in der Begleitung von etwas halbseiden wirkenden Ausländern in schlecht geschnittenen Anzügen. Ich muss zugeben, ich bewunderte am meisten die Großzügigkeit, mit der er sein Geld unter seinen Bekannten verteilte. Nur aus diesem Grund war auch seine latente und widerwärtige Päderastie zu ertragen; er hatte ständig ein paar hübsche, kunstsinnige und kaum der Pubertät entwachsene Jünglinge um sich, die er aushielt; in allen Ehren, versteht sich. Er hatte sich bei seinen kleinen Vergnügungen vollständig unter Kontrolle.
Doch auch Lobs von zwei unsäglichen Hip-Hop-Titeln zerrissener Kommentar über die Vernissage von Nix – sein Musikgeschmack war unterirdisch -, war eine unverhohlen bewundernde Eloge auf einen großen Künstler, wie er in den Jahren seiner Tätigkeit als Kunstbeobachter in dieser Stadt noch keinem begegnet sei. Entgegen seiner gewohnten Sachlichkeit verlor er sich in Superlativen, die aus Nix einen Halbgott der modernen Kunst machten. Es war nicht zu glauben: Erkannte denn niemand außer mir, dass sich Nix zwar zweifellos auf dem richtigen Weg befand, ein bedeutender Maler zu werden, er aber noch völlig unfertig war? Eine Larve gewissermaßen? Nix’ eigenen Ideen wurden von, ich muss es zugeben, geschickt gesetzten Fremdzitaten zugedeckt und seine großbürgerliche Lebensführung behinderte ihn daran, sich zu entwickeln. Konnte ich mich in meiner Einschätzung derart täuschen oder waren die anderen plötzlich von Blindheit geschlagen, von seinem handwerklichen Können geblendet? Oder war hier Bestechung im Spiel?
Zumindest glaubte ich nach diesen beiden Kritiken verstehen zu können, warum die Werke des Malers zu wütenden Stellungnahmen herausforderten und starke Gefühle, ja, Aggressionen in den Menschen weckten, die sie nicht einmal davor zurückschrecken ließen, gegen vermeintliche Gegner mit Gewalt vorzugehen. Den Beweis dafür hatte ich, wenn ich mein entzündetes und aufgeschwollenes Gesicht im Spiegel betrachtete.
Doch es sollte noch schlimmer für mich kommen: Nachdem die wichtigsten Kritiken veröffentlicht waren und nur die meine in der negativen Waagschale lag, rief mich Werner an, um mich zu einem persönlichen Gespräch in die Redaktion zu bestellen. Da ich aus den bekannten Gründen ablehnen musste, in den nächsten Tagen aus dem Haus zu gehen, entschloss er sich – wie er es formulierte -, schweren Herzens, mir dann eben jetzt am Telefon mitzuteilen, dass sich die Zeitschrift vorläufig von mir und meiner Mitarbeit trennen müsse.
»Oh, Georg, du musst es mir glauben«, führte er aus, »ich habe um dich und damit um die Meinungsvielfalt meines Blattes gekämpft, beide sind mir ein unbedingtes Anliegen. Übrigens hat mir auch der betont kämpferische Stil deines Artikels gefallen, obwohl ich keineswegs mit deinen Schlussfolgerungen übereinstimme. Aber, du weißt ja, wie das ist … Ich habe mehrere barsche Rügen von Seiten der Anzeigenkunden wegen meiner eklatanten Fehleinschätzung des Zeitgeistes erhalten – allen voran vom PR-Chef von Follia. Der hat mich gekreuzigt. Deshalb sehe ich mich bedauerlicherweise gezwungen, einen Schnitt zu machen.«
Das saß.
»Diese Trennung ist selbstverständlich keine endgültige. Wir sind viel zu gute Freunde dazu. Du hast immer noch eine toller Schreibe, Georg. Du kannst mir auch weiterhin, selbstverständlich vollkommen unverbindlich, deine Artikel und Kritiken zusenden, die ich, wenn sie dem Niveau meiner Zeitschrift entsprechen, mit Vergnügen unter einem neuen Pseudonym veröffentlichen würde. Überlege dir das mal in Ruhe. Und ruf mich nicht an. Ich melde mich.«
Da ich vergeblich um die wenige Fassung rang, die mir noch geblieben war, wusste ich nichts zu entgegnen. Unser Telefongespräch endete mit einem verwirrten Stottern von uns beiden, das in ein peinliches Schweigen mündete; bis dann endlich Werner den Mut fand, die Verbindung zu unterbrechen. Ich hatte keinerlei Handhabe gegen seine Entscheidung, im Gegenteil: Da ich nur ein freier Mitarbeiter war, musste ich Werner dankbar sein, dass er mir seinen Entschluss, mit dem ich immer hatte rechnen müssen, persönlich mitgeteilt hatte. Trotzdem war mir, als würde mir abrupt der Boden unter den Füßen weggezogen. Damit versiegte nicht nur eine wichtige Erwerbsquelle. Es war die Ablehnung, die mich zutieft verletzte. Da mein seelischer Zustand im Moment mehr als labil war, hatte ich einen schweren Anfall von Verfolgungswahn. Ich fühlte ich mich als das unschuldige Opfer einer Verschwörung, die Nix oder sein Onkel, der Kulturreferent, angezettelt hatten, um mich zu vernichten.
In der abgeschlossenen Einsamkeit meiner Wohnung suhlte ich mich in der scheußlichsten Depression, die ich je hatte.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 10)“
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