Nikolaus Klammer Literatur,Roman,Stillblüten Stillblüten – 4. E-Mail – Teil 1

Stillblüten – 4. E-Mail – Teil 1

Es ist Zeit, die Handlungsschraube fester anzuziehen und Hinweise auszustreuen, die Leserschaft aber weiterhin im Unklaren zu lassen, ob wir auf einen Thriller, einen Liebesroman oder eine Gespenstergeschichte zusteuern.

Henry James, nicht unbedingt ein Garant für Hochspannung, hat noch vor 1900 beispielhaft mit seiner Erzählung „The Turning Of The Screw“ demonstriert, wie man das macht und der Leserschaft die gewünschte Suspense bietet. James hat mich durchaus beim Schreiben von Stillblüten inspiriert, allerdings nicht mit seiner paradigmatischen Gespenstergeschichte, sondern mit den „Aspern-Schriften“ und noch mehr mit der meisterhaften kleinen Geschichte „Private Life“, die einen ähnlichen Schauplatz hat und mit der irritierenden und zugleich faszinierenden Frage spielt, ob es Menschen gibt, die zu existieren aufhören, wenn sie allein sind.

4. E-Mail – Die Ankunft im Dorf (Teil 1)

»Da haben Sie aber Glück gehabt, Frau Rainer«, sagte Andrin. Zumindest vermute ich, dass er diese Worte gesagt hatte. Er spricht ein grausames Schwyzerdütsch. Es hört sich so an, als würde er beim Reden den Erstickungstod erleiden. Das meiste von seiner Ansprache musste ich mir zusammenreimen und erahnen. »Kurz nachdem Sie den Pass passiert hatten, wurde er für die nächsten achtundvierzig Stunden gesperrt.«

Es schneite heftig, als ich mit großer Verspätung endlich in dem lausigen, düsteren Bergdorf ankam. Die Nacht war längst hereingebrochen. War todmüde und ausgelaugt von der schwierigen Fahrt. Und das alles mit meinem schmerzenden Knie! Die endlosen, engen Serpentinen auf den letzten zehn Kilometern hatte ich im Schritttempo zurücklegen müssen. Ich möchte dir jetzt nicht weiter von der grauenvollen Anfahrt erzählen, in der ich mehrmals knapp davor war, in den Straßengraben oder in einen Abgrund den Berghang hinab zu schlittern. Es ist ja alles gut gegangen. Aber ich wäre am Liebsten weinend über meinem Lenkrad zusammengebrochen. Fast hätte ich an einer Ausweichstelle der engen Straße irgendwo zwischen Himmel und Hölle übernachtet, weil ich mir für ein paar Augenblicke nicht mehr vorstellen konnte, auch nur einen einzigen Meter auf dem spiegelglatten Grund weiterzufahren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als der Scheinwerfer des SUVs nach einer letzten Haarnadelkurve im dichten Schneetreiben das Ortsschild von Stillblüten erfasste und ich auf dem kleinen Platz vor dem Gemeindehaus den Motor ausstellen konnte. An dieser Stelle führt übrigens auch die Straße nicht mehr weiter. Hinter Stillblüten ist offenbar die Welt zu Ende. Eine steile Felswand bildet den hinteren Abschluss des kleinen Hochplateaus, auf dem sich die wenigen Häuser des Dorfs festhalten und teilweise seit Jahrhunderten den Naturgewalten trotzen. Ich war gespannt darauf, welches der aus schweren Granitsteinen errichteten Gebäude mein Chalet war, in dem ich die nächsten Monate verbringen werde. Doch mich erwartete noch eine Überraschung. Der Abend hatte noch ein Abenteuer für mich in petto.

In den wenigsten der niedrigen Häuser brannte übrigens ein Licht hinter den kleinen Fenstern. Wie viele Menschen leben in diesem Dorf? Einhundert? Ich parkte unter der einzigen Straßenlaterne des erbärmlichen Weilers neben der Denkmalbüste eines sehr bärtigen Mannes. Hier lag überall alter Schnee auf den Dächern und war am Rand des Platzes zu säuberlichsten Häufen aufgeschichtet. Die einzige Straßenlampe konnte sich kaum gegen den dichten Schneefall durchsetzen. Nur ein funzliger Schein fiel auf meine nähere Umgebung. Ich konnte nicht entziffern, wer auf die Denkmalssäule gehievt worden war. Ein berühmter Sohn von Stillblüten? Gibt es einen? Nichts rührte sich. Hatten sich hier alle kollektiv in den Abgrund gestürzt? Ich hupte. Zuerst geschah nichts. Ich starrte angestrengt aus der Frontscheibe des SUV und versuchte, eine Bewegung auszumachen. Doch außer dem Flockentanz des Schneetreibens rührte sich nichts. Da die Heizung meines Wagens weiterhin mit fauchendem Schnauben angenehm warme Luft gegen das Glas blies, hatten die dicken Flocken keine Chance, sich länger als für ein Lidzucken auf der Scheibe zu halten. Sie blühten auf und verwandelten sich in glitzernde Edelsteine, aus denen plötzlich Quecksilberstreifen wurden, die wie Tränen über das Glas liefen. Dadurch war mein Sichtfeld ziemlich eingeschränkt. Doch ich konnte sehen, wie im Erdgeschoss des Gebäudes vor mir ein paar Lichter angingen. Endlich. Offenbar schien hier am Arsch der Welt der Strom noch zu funktionieren. Ein Netz hatte mein Smartphone nicht. Die Roaminggebühren in der Schweiz sind eh so hoch, dass ich es nicht benutzen will.

Ich hupte erneut. Meine Geduld war erschöpft. Wo war dieser Andrin? Als ich ihn am Nachmittag unten aus dem Tal anrief, war ich zwar nicht durchgekommen. Aber die SMS, in der ich ihn über meine verspätete Ankunft informierte, hatte er doch wohl erhalten! Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als mich zu überwinden und durch den gut knöcheltiefen Schnee auf dem Platz zum Haus hinüber zu stapfen. Gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte, geschah etwas: Endlich öffnete sich eine Tür. Eine Gestalt trat ins Freie und kam dann schwankend näher. Zumindest sah es so aus. Zuckte zusammen, denn was dort auf mich zukam, war ein Außerirdischer. Er trug eine Art von Raumanzug und hatte einen ausladenden, leuchtend roten Pilzkopf, unter dem riesige, schwarze Augenkreise starrten. Entsetzt drehte ich am Zündschlüssel, um den Motor zu starten und panisch zurückzusetzen, da wurde das Monster direkt vom Licht meiner Scheinwerfer erfasst. Ich war auf eine groteske Sinnestäuschung hereingefallen!

Selbstverständlich war dies kein Marsmännchen, das mich entführen wollte, sondern eine Person in weiter Schutzkleidung, die gegen den Schneefall einen großen Regenschirm in der Hand hielt. Sie kam heran und klopfte gegen die Seitenscheibe. Als ich sie herunter ließ, trommelte mein Herzschlag fast noch lauter als das Klopfen. Die Gestalt beugte sich zu mir herab und schob ihren Kopf halb herein. Sie trug eine eng anliegende Maske, die über Nase und Mund wie eine Schweineschnauze geformt war. Darüber eine verblendete Skibrille und über dem Haar eine blaue Zellophanmütze. Es sah so aus, als hatte sich die Erscheinung eine Obsttüte vom Migros über den Kopf gestülpt.

»Frau Rainer, wie ich vermute«, zitierte die Gestalt den Entdecker Stanley, als er im afrikanischen Busch auf Livingstone stieß. Denke aber, dass es nicht Absicht war. Sieh mal an, in der Horrorkluft aus einer miesen Pandemie-Dystopie steckte eine Frau. Sie sprach ein kratziges Hochdeutsch. »Wir hatten Sie schon früher erwartet. Aber nun sind Sie ja glücklich angekommen. Willkommen in Stillblüten.«

Ich nickte nur, weil mich die Situation überforderte und noch immer ängstigte. War hier Ebola ausgebrochen? Schneeflocken und Kälte drangen in das Auto und vertrieben die mollige Wärme, die bisher in ihm geherrscht hatte. Mich fröstelte und das nicht nur wegen des geöffneten Fensters. Am Liebsten hätte ich auf der Stelle die Scheibe wieder hochgelassen und wäre zurückgefahren.

»Ich bin Dr. Verena Wanner. Aber nennen sie mich Vera. Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug. Ich kann mir gut vorstellen, wie ich auf Sie wirken muss, Frau Rainer. Aber in diesen Zeiten sind wir leider gezwungen, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu beachten. Bisher hat der Covidvirus einen Bogen um Stillblüten gemacht und wir wollen doch, dass es so bleibt, oder?« Hätte sich Vera nicht als Ärztin vorgestellt, hätte ihr salbungsvoller und leicht überheblicher Tonfall ihre Profession verraten.

»Sicher …«

»Deshalb möchte ich sie zuallererst bitten, noch eine Viertelstunde im Automobil zu bleiben und einen Corona-Schnelltest zu machen.« Sie reichte mir ein Test-Kit durch das Fenster, das ich überrumpelt annahm. »Wenn Sie Ihren Kofferraum öffnen möchten, kann ich in der Zwischenzeit schon einmal Ihr Gepäck reinbringen lassen. Sie wissen, wie solch ein Schnelltest funktioniert?«

»Ja, natürlich. Aber ist das wirklich nötig? Ich meine, ich habe erst heute Morgen im Hotel in Zürich …«, setze ich zu einer hilflosen Lüge an. »Und ich bin tatsächlich auch schon zweimal geimpft.«

»Ich muss leider darauf bestehen. So sind die Bestimmungen hier. Ohne einen aktuellen, negativen Schnelltest kann ich Sie leider nicht hereinbitten – Impfung hin oder her. Sie verstehen das sicher, oder? Wenn Sie Ihren Impfpass dabeihaben, auf dem die Impfungen bestätigt sind, können wir vielleicht auf einen PCR-Test verzichten. Eigentlich wollte ich Sie nämlich morgen im ›Aegäschtä‹-Nest besuchen kommen, um einen mit ihnen durchzuführen.«

»Im … wo?«

»Im ›Aegäschtä‹-Nest«, lachte Vera. »So bezeichnen wir in Stillblüten Ihre Unterkunft. Das heißt ›Elsternnest‹. Sie werden morgen im Hellen schon sehen, warum sie hier so genannt wird. Es tut mir wirklich leid, dass wir Ihnen so viele Umstände machen müssen.«

»Aber …«

Die Ärztin zog ihren Kopf zurück. Ich sah ein, dass eine weitere Diskussion sinnlos war. Also schloss ich wieder mein Seitenfenster und machte im Licht der Innenbeleuchtung den doofen Test. Bohrte mit dem Stäbchen ausgiebig in der Nase, löste dann die Popel in einer Flüssigkeit und träufelte diese Lösung dann auf den Teststreifen. Starrte anschließend auf den Lakmus-Streifen im Ergebnisfensterchen, in dem sich meine Probe langsam vorwärts bewegte und sich, wie erwartet, nur der rechte Kontrollstreifen über dem eingestanzten ›C‹ rot färbte. Natürlich bin ich negativ! Verdammt! Schließlich habe ich mich schon seit Monaten nicht mehr aus dem Haus gewagt und meine wenigen sozialen Kontakte nur noch über die Medien am Leben gehalten. Die einzige Person aus Fleisch und Blut, die in meiner Nähe war, bist du. Du bist schon seit Januar geimpft und ich seit den letzten Wochen ebenfalls. Ich weiß nicht, welche Beziehungen Welkenbaum spielen ließ, aber ich bekam zu Hause überraschend Besuch von einem Impfteam, als wäre ich ein Promi. Kam mir zwar wie ein Impfdrängler vor, habe aber nichts gesagt. Ich habe erleichtert meine beiden Portionen Biontech genossen, obwohl ich längst noch nicht dran war. Hatte nicht einmal besondere Beschwerden danach.

Endlich war dann auch diese schier endlose Viertelstunde vorbei. Sie erscheint mir im Nachhinein wie der Griesbreirand ums Schlaraffenland, durch den man sich zuerst hindurchfressen muss, um ins Paradies zu gelangen. Hasse übrigens Griesbrei – und Schnelltests. Nachdem die Ärztin mithilfe einer kleinen Taschenlampe eingehend meinen Teststreifen begutachtet hatte, durfte ich endlich aussteigen. Ich nahm meine restlichen Sachen aus dem Auto mit, denn ich hatte nicht vor, es noch einmal zu öffnen. Merkwürdig! Für ein paar Stunden war es meine Heimat gewesen, aber mit jedem Schritt, mit dem ich mich durch den Schnee von ihm entfernte, wurde es mir fremder – ja, es erschien mir fast absurd, dass ich eben noch in dem wuchtigen schwarzen Wagen gesessen war. Es fühlte sich einfach endgültig an, als ich es, ohne es abzusperren, hinter mir schloss. In den nächsten Tagen, wenn der Pass wieder frei war, würde jemand den SUV hinunter ins Tal fahren. Es blieb allerdings auch das Gefühl, als hätte ich mir damit meinen letzten Fluchtweg verbaut. Nun bin ich bis voraussichtlich bis Mitte oder Ende Juni Teil dieser seltsamen Dorfgemeinschaft. Auf Gedeih und Verderb!

4. E-Mail: Die Ankunft im Dorf (Teil 2)

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