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Nutzlose Menschen – Roman (Teil EINUNDZWANZIG)

SECHSTES KAPITEL
Eine dunkle Begebenheit

Beate beendete hustend ihre Lesung, die fast eine Stunde gedauert hatte. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.

»Das sollte für den Moment reichen; es war nicht einmal die Hälfte des Textes und die Geschichte hat noch gar nicht richtig angefangen“, sagte sie mit nun rauer, vom Lesen angestrengter Stimme und räusperte sich. »Als Gute-Nacht-Lektüre war es zwar ganz nett, aber doch sehr altmodisch und eklektisch«, rezensierte die Autorin ihren Möchtegern-Kollegen, sich mit ihrem Getränk die Lippen befeuchtend. »Von diesem Klammer – so, wie ich ihn mir vorgestellt habe – hätte ich etwas Bösartigeres erwartet. Ich hatte während des Lesens immer wieder das Gefühl, ich würde die Novelle schon kennen. Ging es dir nicht auch so?«

Gitta antwortete nicht. Sie war in einem Tagtraum gefangen und hatte auch dem Vortrag ihrer Freundin seit geraumer Zeit nicht mehr richtig zugehört, stattdessen mehr der Melodie des Vorgelesenen anstelle des Inhaltes gelauscht. Bei ihren seltenen sonntäglichen Kirchbesuchen ging es ihr ganz ähnlich; während sie das überladene barocke Interieur der Dorfkirche, die schwarzen Ölschinken und das Wolkenejakulat aus Gips, zwischen denen irgendwelche Putten seltsame Dinge unternahmen, begutachtete, da wurden ihr die salbungsvollen und langweiligen Predigten plötzlich zu Klang, ja, zur Musik und damit erträglich, fast ein Genuss. Sie bemerkte plötzlich, dass Beate schwieg, hob rasch den Kopf und sah ihr verwirrt in die Augen; diese nickte, als hätte sie eine zustimmende Antwort erhalten:

»Es lag vielleicht an dem konventionellen, angestaubten Stil, den Klammer pflegt. Das ist nicht echt, nicht zeitgemäß. Heutzutage kann man doch so nicht mehr schreiben. Wie nannte er es selbst: Eine veraltete Novelle? Da hatte er recht. Ich glaube nicht, dass er mit einer Geschichte wie dieser bei einem Verlag einen Blumentopf gewinnen kann, obwohl historische Romane gerade der große Renner sind, glaube ich. Allerdings kenne ich mich da auch nicht so genau aus, diese Art von Literatur lese ich für gewöhnlich nicht.« Beate zuckte mit den Achseln und blätterte zerstreut in dem Ordner nach hinten. »Mich würde allerdings doch interessieren, wie er seinen Knoten auflöst. Dich auch?«

»Lass doch, ich habe für heute genug von diesem Mann – wäre es nicht besser, wenn wir jetzt endlich zum Üben kämen?«, wehrte Gitta, die wieder zur Realität zurückgefunden hatte, ab. Ihre Freundin ignorierte den Einwurf, denn sie stieß überrascht hinter dem literarischen Text auf ein Dutzend Briefe verschiedener namhafter Verlage, in denen sich alle mehr oder weniger freundlich und ausführlich bei Klammer für die Übersendung der ersten zwei Kapitel seines Romans Familienbande bedankten und aus den unterschiedlichsten Gründen von einer Annahme des Manuskripts Abstand nahmen, jedoch in der Regel Interesse an anderem Material zeigten. Beate las ein paar der Briefe an, dann sagte sie:

»Wie ich gedacht habe: Kein Verlag – und er hat sogar meinen angeschrieben – interessiert sich ernsthaft für dieses altmodische Zeug, diesen, ich zitiere: unglücklichen Zwitter aus historischem Roman und Hedwig Courts-Mahler, wie es in dem Brief von Fischer steht. Die hier, ein Schweizer Verlag, drücken sich am Vornehmsten aus: In Bezugnahme auf Ihr Schreiben vom 14. Mai d. J. sende ich Ihnen zu unserer Entlastung Ihr Manuskript zurück. Ich muss Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, dass ich Ihre glänzend geschriebene Novelle, die aber leider sehr viele historische Ungenauigkeiten enthält, zwar mit Aufmerksamkeit gelesen und auch unterhaltsam gefunden habe, diese aber weder in unser Programm passt, noch ein breiteres Publikum, das eine Veröffentlichung von unserer Seite lohnte, finden würde. Leider, und niemand bedauert das mehr als ich, muss der Verlag in der momentanen Rezession, deren Ende noch nicht absehbar ist, in erster Linie ökonomisch denken und einen bestehenden Autorenstamm pflegen. Weit davon entfernt, mich Ihnen, Herr Dr. Klammer, aus erhöhter Warte mit billigen Ratschlägen aufdrängen zu wollen, wäre es vielleicht aber doch von Ihrer Seite einer Überlegung wert, wenn Sie Ihr zweifelsohne vorhandenes Talent dazu nutzen könnten, zeitgemäßere, »moderne« Literatur, möglicherweise aus Ihrem sicherlich interessanten Erlebensumfeld, zu versuchen. Wie dem auch sei, würde ich mich freuen … Und so weiter. Dieser letzte Satz war ja ein Meisterwerk vorsichtigen Formulierens, den Lektor würde ich gerne einmal kennenlernen.«

Gitta zuckte mit den Schultern. Ihr erschien Beate in diesem Moment, während sie neugierig in Klammers Korrespondenz blätterte, nicht wie ihre langjährige Freundin, sondern wie eine etwas seltsame Unbekannte. Die Autorin, die Beate im Alltag und versteckte und die Gitta eigentlich nicht kannte, hatte ihre Freundin wie ein böser Geist übernommen.

»Und was haben wir denn da!« Beate streckte triumphierend ein einzelnes Blatt in die Höhe, das fest zwischen den Briefen gesteckt hatte. Gitta sah auf und sie erschrak. Ihre Ahnungen kehrten zurück. Es war ein handgeschriebener Text und sie wusste sofort, worum es sich handelte. Sie versuchte, das Papier zu erhaschen, doch Beate hob es flink in die Höhe. Sie lächelte wie früher in der Schule, wenn sie Gitta einen Streich spielte. »Das ist noch einmal eine Seite aus Klammers mysteriösem Essay, leider ist es nicht der direkte Anschluss an das Blatt, das wir vorhin entdeckt haben; es ist Seite Sieben.« sagte sie zufrieden und begann sofort laut vorzulesen:

»Dritte Versuchung: Sexualität. Zusammen mit der Gier nach Reichtum und der nach Ruhm ist sie die gewichtigste Triebfeder für das Verhalten von ehrgeizigen Männern mit seiner charakterlichen Ausbildung; sie ist zwar am schwierigsten steuer- und ausnutzbar, aber nach meiner Meinung (die hier erheblich vom Weltbild meines der Psychoanalyse fernen Vorbildes, für das Geld allein die Welt bewegt, abweicht) ist die Gier nach Promiskuität, nach sexueller Ausschweifung und damit nicht zuletzt wieder nach Ausüben oder Erleiden von Macht die vielleicht bedeutendste Motivation dieser Dreieinigkeit der Versuchungen, deren, ohne erneut Freud bemühen zu wollen, ‘heiliger Geist’ sie ist. Er wird ihr ebenso erliegen wie den anderen beiden.

‘Glückliche Ehen sind sich alle gleich,’ heißt es, ‘die unglücklichen aber alle auf ihre Weise unglücklich.’ Von der Wahrheit nur des zweiten Teiles dieses Aperçus ausgehend – denn ich kenne keine glücklichen Ehen, an denen ich die Richtigkeit des ersten prüfen könnte – habe ich tatsächlich trotz der Unterschiede der Krisen und Scheidungsgründe der gescheiterten Lebensgemeinschaften in meinem Umfeld verallgemeinern können, dass aller Grund doch immer in der Untreue eines Partners, in aller Regel des Mannes, zu finden ist. (Ich habe nie begreifen können, warum bei so vielen Männern das Geschlechtsorgan den Verstand in solch absoluter Weise dominiert, um wegen ein paar Bewegungen des Unterleibst funktionierende Beziehungen zu riskieren) Jedermann weiß – trotz all des neumodischen Geredes – dass eine Partnerschaft in unserer bürgerlichen Gesellschaft meist durch den sogenannten Seitensprung zerstört wird, selbst wenn sie noch über Jahre weiter existieren sollte. Dabei will ich bemerken, dass m. E. Fremdgehen eben kein Symptom für die Krankheit einer Ehe ist, sondern im Gegenteil ihre Inkubation kennzeichnet; denn überspitzt ausgedrückt juckt es die Männer dann am meisten am Schwanz, wenn es ihnen in ihrer Beziehung am besten geht. Ich bin nicht Psychologe genug, diese Tatsache zu ergründen, aber Beobachter genug, sie zu konstatieren.

Obwohl also Sapher seine Ehe als glücklich bezeichnet und seiner Frau für den Moment auch treu ist …« Beate zögerte, runzelte Stirn und schwieg. Sie senkte das Blatt und sah zu Gitta, die an ihren Lippen hing und bitter nickte. Diesmal war Beate nicht schnell genug und ihre Freundin hatte das Blatt in der Hand, bevor sie reagieren konnte.

»Warum liest du nicht weiter?«, fragte Gitta und es war ein Vorwurf in ihrer Stimme zu hören, als mache sie Beate und nicht Klammer für den Text verantwortlich. Sie sah auf das Blatt und suchte fiebernd nach der Stelle, an der sich ihre Freundin unterbrochen hatte.

»… auch treu ist«, las sie, »wird er einer nicht einmal massiven Versuchung dann nachgeben, wenn sie ihm unter der Bedingung dargereicht wird, dass er nicht mit Konsequenzen oder Reue rechnen muss. Er ist seiner Frau, auch wenn er es nicht zugeben würde, aus Furcht und mangels Mut und Gelegenheit treu, selbst wenn er sich einzureden versucht, er würde sie nicht betrügen, weil er sie liebe. In Wahrheit hat er Liebe nur zu sich selbst . Seine Ehe kann unter dieser Belastung auch nicht glücklich sein. Sollte es so etwas wie Eheglück überhaupt geben und ich zweifle es aus den erwähnten Gründen an, so ist es anders als Saphers Beziehung zu seiner Frau, die auf der Gewöhnung beruht. Ich nehme an, dass Gitta Mammensohn-Sapher, die trotz ihrer weiblichen Nachgiebigkeit und Kompromissbereitschaft wesentlich erwachsener als ihr Mann ist und nüchtern schließen kann, sich dessen bewusst ist oder es ihr zumindest in der nächsten Zeit wird; es nur einen Anstoß braucht, dass sie endlich die Konsequenzen zieht.« Gittas Stimme wurde brüchig, aber sie las unbeirrt weiter. Beate, die ihre Qual mitleidig beobachtete, war versucht, sie zu unterbrechen, aber als sie eine Bewegung machte, traf sie ein strafender Blick, der ihr deutlich machte, dass es besser war, sich ruhig zu verhalten.

»Ich werde meine Behauptungen nun beweisen: Ich verstricke Sapher in ein Netz der Versuchungen, in das er sich vermeintlich ohne Reue verwickeln wird. Wahrscheinlich wird er dabei nicht einmal an seine Frau denken, da ich ihm für sie ein billiges Alibi liefern werde: Für sie wird es so aussehen, als sei er einen Abend mit mir aus, tatsächlich aber werde ich ihn geradewegs in die Arme einer anderen führen, die für ihn die Erfüllung seiner sexuellen Phantasien ist. Er wird mit offenen Augen in die Falle tappen und noch stolz auf sich sein. Wohlgemerkt will ich hier noch einmal darauf hinweisen: Ich bin nur der Katalysator, wie Goethe in den Wahlverwandtschaften bringe ich die Elemente zusammen, ihre Reaktionen aber sind von mir unabhängig.

Gitta Mammensohn-Sapher will ich allerdings die Chance geben …« Gitta zerknüllte das Papier und warf es zur Seite.

»Schwein!«, rief sie. »Dieses Schwein!«, und wiederholte diese Beschimpfung so lange, bis sich die zuerst sprachlose Beate gesammelt hatte und tonlos fragte:

»Was willst du jetzt tun?«

»Ich hatte recht, nicht wahr? Er will meine Ehe ruinieren. Stelle dir das mal vor! Er nimmt Benjamin an die Hand und führt ihn an das Bett irgendeiner Hure. Katalysator! Dass ich nicht lache. So etwas nennt man Zuhälter, nicht wahr? Ich hatte doch recht, nicht wahr?«, stammelte Gitta und wusste selbst nicht, was sie sagte. Dann barg sie das Gesicht in den Händen und versuchte zu weinen. Es misslang ihr. Beate wechselte den Platz und setzte sich, die Schmerzen im Rücken ignorierend, neben Gitta auf die Couch, legte hilflos einen Arm um sie. Dabei bemerkte auch sie, wie weit der Abstand zu ihrer besten Freundin im Laufe der Jahre geworden, wie fern und fremd sie sich inzwischen waren.

Sie konnte zwar die Reaktion Gittas verstehen, aber dieser bösartige Mann hatte nach Beates Meinung trotz aller Polemik die Wahrheit geschrieben. Auf Gittas Ehe, die sie in Monotonie erstarrt glaubte und die ihre Freundin zu erdrücken drohte, gab sie ebenfalls wenig, zumal sie Benjamin längst in Verdacht hatte, sich anderswo umzusehen. Auch ihre Erfahrungen mit gescheiterten Ehen und Beziehungen in ihrem Bekanntenkreis zeigten ihr, dass bei dem endgültigen Bruch zwar die unterschiedlichsten Gründe genannt wurden, aber es, zwar nicht in der von Klammer behaupteten Ausschließlichkeit, aber doch meist das Fremdgehen eines Partners war, das tatsächlich dahinter steckte. Doch genau diese Gedanken konnte sie unmöglich aussprechen, denn solche Wahrheiten wollte Gitta nicht hören.

»Gib mir mal ein Taschentuch«, sagte ihre Freundin plötzlich und Beate griff gehorsam in ihre Rocktasche. Gitta schnäuzte sich und wischte ein paar nicht vorhandene Tränen aus den Augenwinkeln.

»Willst du mit?«, fragte sie überraschend. Sie war sichtlich um Fassung bemüht, die sie aber noch nicht völlig wiedergewonnen hatte. Beate beugte sich vor und sah ihr überrascht ins Gesicht, doch Gitta vermied einen Blickkontakt und bot ihr nur ihr Profil.

»Was meinst du?« Gitta stand auf und holte das in der Wut zerknüllte Papier Klammers, das sie vorsichtig entfaltete und sorgfältig am Schenkel glättete.

»Das brauche ich als Beweis. Ich weiß, wohin Benjamin und dieser … dieser … hingegangen sind. Sie sind im Brandwirt beim Essen, wenn sie mich nicht angelogen haben. Das Lokal ist in der Unterstadt, ich hole die Autoschlüssel. Ich bin gespannt, was Klammer sagt, wenn ich ihm das hier ins Gesicht schlage!«, sagte sie und zeigte drohend die zerknitterte Seite.

»Du willst doch nicht etwa …« Beate starrte ihre Freundin an, die ihr nun fremder denn je erschien. Wo waren die Unsicherheit, die Schüchternheit, ihr ängstliches Zögern geblieben? Sie entdeckte eine kämpferische, ja, gewalttätige Seite, die ihr völlig neu an Gitta war.

»… in den Brandwirt; mir wäre recht, wenn du fährst, ich fühle mich zu zittrig«, fiel ihr Gitta in die staunende Erwiderung. Sie faltete nun die verräterische Seite zu einem sauberen Viereck und strahlte ihren Worten zum Trotz eine unheimliche Ruhe aus. Sie sah auf die Uhr.

»Es ist noch nicht halb zehn. Wenn wir uns beeilen, komme ich vielleicht noch rechtzeitig.« Sie ging zur Tür; dort sah sie zurück zu Beate. »Was ist jetzt, kommst du mit?«

Ihre Freundin nickte resignierend und kämpfte sich aus der tiefen Höhlung des Sofas. Sie begann, Klammers Aktentasche zu packen.

»Aber selbstverständlich, Liebes. Meinst du, ich lass dich jetzt allein?«

Was aber, wenn wir doch zu spät kommen?, dachte sie, wagte jedoch nicht, die Frage laut zu äußern. Auf jeden Fall war es besser, wenn sie Gitta begleitete und ihr beistand.

»Weißt du, woran ich denken muss? Du hast vorhin gesagt, Klammer hätte unsere Reaktionen vorausplant und wir würden wie Benjamin in seine Fallen tappen. Jetzt glaube ich es auch; der letzte Satz von ihm, den du vorgelesen hast, deutet es an. Das macht mir Angst«, sagte sie leise. Gitta ging ohne Antwort aus dem Zimmer. Nachdem sie einen kurzen, bedauernden Blick auf ihre Flöte und die Notenblätter auf dem Klavier geworfen hatte, folgte Beate ihr achselzuckend, die hässliche Tasche unter dem Arm.

Die Fahrt in die Innenstadt, die die beiden schweigend hinter sich brachten, dauerte eine knappe Viertelstunde. Beate steuerte konzentriert, war geradezu verbissen mit dem eher spärlichen Straßenverkehr beschäftigt, sie überschritt aber nie die zugelassene Höchstgeschwindigkeit, obwohl sie auf der Einfallstraße Gelegenheit dazu hatte und diese an anderen Tagen auch nutzte. Gitta las in der Zwischenzeit noch einmal den Bruchteil von Klammers Essay, den sie nicht aus den Händen ließ.

Um sich nicht einer lästigen Parkplatzsuche auszusetzen, fuhr Beate in ein zentrales Parkhaus; die beiden mussten deshalb einen längeren Fußweg auf sich nehmen, den sie ebenso stumm wie die Autofahrt hinter sich brachten. Beate, die Klammers Aktentasche trug, um sie ihm zurückgeben zu können, überlegte die ganze Zeit, was sie zu Gitta sagen sollte, doch es fielen ihr nur beruhigende Banalitäten und schwache Tröstungen ein, die sie lieber für sich behielt. Über Klammer zu reden, war sicher ein Fehler. Also war es das Beste, wenn sie ihren Mund hielt. Was in Gitta vorging, war nicht in wenigen Worten zusammenfassen: Ihr hetzte eine fiebrige Anzahl von Gedanken und Gefühlen durch den Kopf. Die herausragenden, sich durchaus nicht widersprechenden, sondern einander ergänzenden Empfindungen waren Angst und Wut. Die Angst war namenlos, sie umfasste so amorphe Befürchtungen wie die um Ehe, Zukunft und Existenz; ihre Wut hatte sich jedoch auf die eine Person konzentriert, der sie die Angst verdankte: auf Nikolaus Klammer, der aus ihr unverständlichen Gründen die Fundamente ihres Lebens untergrub. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun würde, wenn sie ihrem Widersacher gegenüber stand, das überließ sie dem Moment. Seltsamerweise gingen ihr auch einige Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit Benjamin durch den Kopf . Wäre sie ehrlich mit sich gewesen, hätte sie erkannt, dass sie an ihren Mann wie an jemanden dachte, der sich weit entfernt hatte oder gar vor Jahren verstorben war.

Beate räusperte sich. »Schau mal, ist das nicht Klammers Auto?« Sie deutete auf einen halb auf dem Gehweg parkenden BMW. Gitta sah kurz hinüber und nickte.

»Sie sind also noch im Brandwirt«, erwiderte sie und ihr Schritt wurde zögernder. Wo waren sie plötzlich hin, ihre Sicherheit und die Wut?

»Ich hätte nicht übel Lust, ihm die Scheibe einzuschlagen«, murmelte Beate, um Gitta Rückendeckung zu geben. Doch ihre Freundin lächelte kaum, sie hatte den Eingang zu dem von außen überraschend schäbig wirkenden Lokal entdeckt und blieb stehen. Beate hackte sich bei ihr unter und zog sie weiter. Nun konnte sie endlich wieder ihre gewohnte Rolle spielen, war sie die starke Beschützerin.

»Lass mich da drin reden. Ich habe mehr Abstand als du. Erniedrige dich nicht und spiele nicht die Szene der betrogenen Hausfrau. Sie steht dir nicht. Du willst das wahrscheinlich nicht hören, ich weiß, aber vielleicht ist alles ganz harmlos und du machst dich lächerlich. Denke daran: Man benötigt für eine Verführung immer zwei Beteiligte; denjenigen, der verführt und den, der sich verführen lässt. Merkst du nicht, wie entsetzlich es ist, dass du zu Benjamin kein Vertrauen hast? Hat er dir dazu einen Grund geboten?«

Gitta antwortete nicht, es tat ihr aber wohl, sich kurz gegen ihre Freundin zu lehnen und an deren Stärke teilzuhaben. Sie war nicht der Meinung Beates, die immer so schrecklich vernünftig war, aber der Gedanke, in dieses überfüllte Lokal zu stürzen, um Klammer oder seiner Hure die Augen auszukratzen, der ihr gerade noch als der einzig durchführbare erschienen war, ihre Ehe zu retten, verlor nun, als er zur Ausführung stand, gewaltig an Attraktivität und sie erschrak, dass sie in solch platten Klischees denken konnte. Es war sicher besser, erst einmal Beate vorzuschicken; es blieb dann noch immer genügend Zeit, zu handeln, falls sich ihre Befürchtungen bewahrheiteten und Benjamin mit einer Frau im Brandwirt saß. Gitta befreite sich aus der Umarmung und machte eine Geste, die Beate den Vortritt ließ.

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