Nutzlose Menschen – Roman (Teil SIEBZEHN)

Während Klammer sprach, betrat Sontheimer das Badezimmer. Als er bemerkte, worüber geredet wurde, blieb er in der Tür stehen und lauschte. Der Dr., der mit dem Rücken zu ihm vor dem Waschbecken stand, tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt. Trotzdem war für Sapher aus den Worten, mit denen er fortfuhr, deutlich erkennbar, dass er sehr wohl wusste, wer da hinter ihm stand und wen er als weiteren Zuhörer gewonnen hatte.

»Wie du eben richtig gesagt hast, Benjamin: Ein Künstler sollte niemals von sich behaupten, er sei im Vergleich zu sich oder anderen besser geworden. Das ist eine heillose Überschätzung der eigenen Fähigkeit, seinen Rang zu bestimmen. Leider ist es jedoch eine weit verbreitete Krankheit, sich für besser zu halten als die anderen, eine Krankheit, die die Hauptschuld an den Zerwürfnissen, Intrigen und Eifersüchteleien unter den Künstlern trägt. Welch ein wunderbarer, ewiger Friede würde herrschen, wenn man diese Rangordnung einer unabhängigen Kritik überlassen könnte. Doch dazu benötigt man wahrscheinlich andere Menschen, was meinst du als Autor dazu?« Er machte eine Pause, um Sapher die Gelegenheit zu geben, seiner Plattitüde eine gemurmelte Zustimmung folgen zu lassen.

»Was aber geschieht, wenn die Kritiker ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen? Wenn sie, vielleicht sogar aus altruistischen oder aus philanthropischen Motiven, den Künstler schon zu Lebzeiten auf ein Denkmal setzen und ihn dort aus Bequemlichkeit wie einen Säulenheiligen belassen? Es kommt nicht oft vor, aber Sontheimer ist genau dies passiert. Damit haben sie seine Kreativität getötet. Danach blieben ihm nur noch zwei Möglichkeiten: Die eine war, sich selbst zu kopieren, weil man an den Broterwerb und den Ruhm denken muss. Dali, ein Künstler, der sich hierfür entschied, hat voller befremdlichem Stolz von sich behauptet, er könne in einer Stunde tausend Unterschriften auf leere Blätter setzen, auf die dann Lithographien von ihm gedruckt werden. Nebenbei bemerkt, sind solch unbeschriebenes Papier und hässliche Frauen zu bedauern, denn sie müssen alles erdulden. Diese Fähigkeit aber, die Dali jahrelang übte, war ihm wertvoller als der belanglose Druck, den er signierte, weil nur die Unterschrift das Bild teuer und verkäuflich machte. Wenn es noch Kunst ist, seine Autogramme zu verschachern, dann war der Surrealist ein Genie. Er hat sogar seine eigene Autobiografie kopiert, um sie mehrmals verkaufen zu können. Wie er das übrigens mit seiner paranoisch-kritischen Methode und der kosmischen Entität des Bahnhofs von Perpignan vereinbaren konnte, vermag ich nicht zu sagen. Wirkliche Genialität aber wäre natürlich – und da gebe ich dir recht – die andere Möglichkeit, nämlich etwas radikal Neues zu versuchen, einen prometheushaften, befreienden Akt von solch dämonischer Kraft zu wagen, dass kein Kritiker sich trauen würde, nur ein weiteres Mal die Inschrift des Denkmals zu zitieren, sondern tatsächlich zum Nach- und Überdenken herausgefordert wird, selbst wenn er den vorausschauenden Künstler der Hoffnung beraubt und an den Kaukasus schmiedet. Ich darf von mir behaupten, dass ich diesen Gedankengang in Sontheimer ausgelöst habe und er deshalb seit Jahren auf der Suche nach eben dieser ganz neuen Schöpfung, seinem Frenhoferschen Meisterwerk, ist.«

Sapher staunte, wie mühelos es Klammer gelang, seinen Monolog auf den Zuhörer wie ein Zwiegespräch wirken zu lassen. Nun allerdings drängte es den Maler, sich beteiligen. Er hatte bei den letzten Sätzen immer ungeduldiger gelauscht.

»Glaube mir, Nikolaus, es gab wichtigere Wendepunkte in meinem Leben, die mich zum Nachdenken gezwungen haben, als ausgerechnet deine Sophismen«, warf er beteiligt ein, sich die Adern am rechten Unterarm massierend. Klammer wandte sich zu ihm, als sei er von der Einmischung überrascht.

»Das Problem, das ich zu lösen hatte«, fuhr Sontheimer fort, »ist folgendes: Mein neuer Schöpfungsakt sollte doch aus meiner Persönlichkeit und meinem Sinn für Kunst entspringen, also Wahrheit besitzen. Er darf weder eine Variation der alten Themen noch etwas von mir vollkommen Entfremdetes sein. Wie ich vor ein paar Jahren schmerzlich bemerken musste, würde in diesem Fall nur Unfug entstehen, höchstens Kunsthandwerk. Schließlich verfolgte ich mit den Papillae ein Ziel, hatte ich eine Botschaft, an die ich noch immer glaube und die ich nicht einfach über Bord schmeißen kann. Aber da ich mich auch als Mensch noch fortentwickle – ich hoffe zumindest, dass ich es tue – wäre ein Stillstand in meiner Kunst ein Rückschritt. Ich hatte mich folglich weiter zu entfalten, meine Malerei an die neuen Dinge in meinem Leben anzugleichen. Dieses radikal Neue musste zuerst in meinem Kopf entstehen und ausformuliert sein, bevor ich es auf die Leinwand bringen kann. Nur Kunst mit einer originalen Idee ist echt.«

»Und da sind ausgerechnet Gall, Lavater und der noch im 17. Jahrhundert geborene Swedenborg deine Ziehväter? Dieser verrückte alte Schwede, der sich mit Engeln unterhielt und postulierte, man würde im Jenseits Tennis spielen?«, fragte Klammer mit einer aufreizend verächtlichen Stimme und setzte sich auf den niederen Rand der Badewanne. Sontheimer klatschte mit den Händen einmal kräftig auf seinen nackten Bauch und suchte sich einen vertraulichen Platz neben ihm.

»Genau, Swedenborg, der Verrückte, Swedenborg, das Genie!«, rief er begeistert. »Wie sagt er doch so treffend: ‚Die Vollkommenheit des Menschen beruht auf seiner Vorliebe für Sinn und Zweck.‘ Es kann sein, dass ich ein Anachronismus aus einem früheren Jahrhundert bin, ich gebe gerne zu, dass ich mich zu spät geboren fühle. Aber die Wissenschaftler und Philosophen damals waren trotz ihrer manchmal gewaltigen Irrtümer – denn auch in ihnen waren sie groß – näher an der Wahrheit als die kleinlichen Denker von heute, die das Wesentliche, die Mitte ihres Lebens, aus den Augen verloren haben. Die Wissenschaft ist doch in kleinste Unterteilungen von Spezialbereichen einer Disziplin aufgesplittert. Es kann sein, dass sich zwei Atomphysiker schon nicht mehr verstehen, wenn sie miteinander disputieren. Und die Philosophie ist nur mehr ein Treppenwitz; wer liebt sie denn noch, die Weisheit? Sie, die einmal die Mutter der großen Genies war, dient mit ihren Methoden- und Erkenntnislehren nur mehr als billige Metze im wittgensteinschen Sprachgewirr der Moderne. Wo sind sie geblieben, die großen Entwürfe, die umfassenden Ideen, jene Alexander der Wissenschaft, die die gordischen Knoten des Unbegreiflichen zertrennen? Wer hat heute noch die Autorität, den Menschen ein Vorbild oder eine Warnung zu sein? Wer hat ihnen etwas zu sagen, auf das sie hören können und wer hat endlich die moralische Integrität dazu? Etwa die Forscher, die die Teile eines Atoms in noch kleinere Teile zertrümmern und in ihren Händen mit der Schöpfung spielen, aber ein Auto übersehen, wenn sie eine Straße queren; die Theologen, die unter lauter Kirchen und Dogmen Gott vergraben und erstickt haben oder diese Volksvertreter, unter denen zukunftsorientiert gilt, der weiß, dass nach dieser Legislaturperiode noch eine weitere kommen wird?«

»Und wo ist die ganzheitliche Idee, das System, bei deinen gezeichneten Brustwarzen?« Klammer schien sich mit sichtbarem Wohlgefallen in seiner Rolle als Advocatus Diavoli zu suhlen. Sontheimer war für einen Moment aus dem Gleichgewicht gebracht – nicht nur geistig, auch körperlich: Er prallte bei dieser ketzerischen Frage ein wenig zurück und wäre fast nach hinten in die Wanne gekippt. Gedankenschnell packte er Klammer am Jackett und rettete sich. Er ließ ihn nicht los, als er weitersprach:

»Wie oft haben wir schon darüber gesprochen? I’ch lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.‘ Als Maler weiß ich wie Rilke, dass der menschliche Körper nicht in Linien endet. Mit dem Leben und der Seele ist es ebenso: Alles ist eins. Die Natur baut sich aus einer Folge von Rundungen auf, von denen eine die andere einhüllt. In jeder Dimension gibt es das: Den gekrümmten Raum, die Wellenform der Energie, die Ellipsenbogen der Planetenbahnen, der Kreis in der euklidischen Geometrie. Dort ist die Gerade als ein Kreis mit der Krümmung Null, der Punkt als ein Kreis mit der Krümmung Unendlich definiert. In diesen Rundungen, denen allen gemein ist, dass sie keinen Anfang und kein Ende kennen und einfach nur sind, liegt der Wille zum Leben zugrunde, zum Kreis des Lebens. Ist nicht gerade die Brust in ihrer sanftesten aller Rundungen und ihrer Fähigkeit, Milch, also Leben zu geben, ein Sinnbild dafür? Nein, dieses Symbol will ich behalten.« Er streckte einen mahnenden Finger in die Höhe. »Mene mene tekel u-parsin! Sieh den Menschen, genährt von der Mutterbrust des Universums, der uns umrundenden Gesamtheit! Welch ein Bild; das ist der Altar und der Ritus, vor dem das nächste Jahrtausend in die Knie sinken wird! Und ich bin dabei, es zu schaffen … nicht als Messias, aber doch als Täufer einer neuen, matriarchalischen Zeit!«

Sapher, der noch immer auf der Toilettenschüssel saß, war von diesem weltanschaulichen Rundschlag wie betäubt. Das lag nicht zuletzt an des Malers gewaltigem Bariton, der ihm die Faszination eines Wanderpredigers gab. Doch Klammer gab sich längst nicht geschlagen. Sicherlich genoss er diese Wortgefechte, die die beiden wahrscheinlich oft ausfochten, denn mit Sontheimer hatte er einen ebenbürtigen Gegenspieler. Sein überhebliches Lächeln ließ eine boshafte Entgegnung erwarten, aber er kam nicht zu ihr. Ein dezenter Gong schlug fünfmal hintereinander an und Sapher erwartete halb, dass nun ein livrierter Diener eintrat, um zu verkünden, das Abendmahl sei bereitet. Sontheimer stutzte und sein Gesicht malte eine ärgerliche Verwirrung, die deutlich zeigte, dass er diese Störung am liebsten wie ein lästiges Insekt verscheucht hätte. Er sah hilfesuchend um sich und fand Sapher:

»Da ist jemand an der Tür«, sagte er. »Es kann nur Manfred sein. Ich habe Parmaschinken im Kühlschrank, das hat er wahrscheinlich gerochen. Ach, Benjamin, das ist doch dein Name, tust du mir den Gefallen und machst ihm auf? Wenn ich jetzt runtergehe, ist es vorbei. Wenn ich meine Gedanken nicht zu Ende führen kann, ersticke ich an ihnen.« Und damit beugte er sich wieder zu Klammer und sprach weiter von seinen universalen Zirkeln. Der halbnackte, faunische Maler, dessen Aussprache ordentlich feucht war und der dämonische, adelige, korrekt gekleidete Klammer, einander über der Badewanne zugeneigt, erinnerten in diesem Moment an zwei lebendig gewordene mittelalterliche Wasserspeier, die sich mit spitzen Zungen geil um die Brustwarze hinter ihnen an der Badezimmerwand streiten. Sapher stand unsicher auf und wusste nicht, ob er der Aufforderung von Sontheimer Folge leisten sollte. Die anderen beachteten ihn nicht mehr. Der Maler sprach und Klammer suchte einen Ansatzpunkt, um eine seiner bissigen Bemerkungen zu machen. Sapher entschied sich und ging aus dem Bad. Er war erleichtert, als er hinaus auf die Empore treten konnte und dem Kunstgeschwätz nicht länger lauschen musste. Er hoffte,der Bruder des Malers, dem er die Wohnungstür öffnen sollte, war in der Tat der normale Mensch, als den ihn Klammer beschrieben hatte. Er stieg die Wendeltreppe hinunter in die Halle, die noch nichts von ihrer beeindruckenden Wirkung auf ihn verloren hatte. Er spielte dabei mit dem Gedanken, die Gelegenheit zu nutzen und sich, wenn er schon zur Tür ging, auf französisch zu verabschieden. Eine bessere Chance, die ganze Angelegenheit hinter sich zu lassen, würde sich wahrscheinlich nicht mehr ergeben. Wenn er nur gewusst hätte, wie er zu dieser Uhrzeit ohne die Hilfe seines Vorgesetzten heimgelangen konnte. Er fühlte sich, als hätte man ihm den Verstand aus dem Kopf geredet und er ekelte sich vor den vielen, seiner Meinung nach leeren Worten, denen er heute hatte lauschen müssen. Er konnte nicht fassen, dass zwei halbwegs vernünftige Männer ihre Zeit ernsthaft mit solchen Unterhaltungen verschwenden konnten und dabei noch den Eindruck vermittelten, sie sprächen über die wichtigsten Dinge der Welt. Gut, er hatte sich für eine Weile von der hypnotischen Art des Dr.’s einfangen lassen, aber durch ihre Häufung verloren die Worte an Kraft und die Wirkung ließ nach. Es war besser, zu gehen; diese Atmosphäre wurde unangenehm. So etwas konnte Klammer nicht ernsthaft gemeint haben, als er ihn einlud, sein Nachfolger zu werden.

Der Gong schlug erneut an und er klang, falls dies möglich war, ungeduldiger. Sapher zuckte mit den Schultern und ging öffnen. Dann blieb er betroffen im Eingang stehen, die Türklinke entschlusslos in der Hand.

»Guten Abend, Benjamin«, sagte Eva Rothschädl abgelenkt nickend, seinen Namen französisch aussprechend. Sie trat an dem erzenen Denkmal eines Beamten vorbei in die Wohnung und lehnte eine große Damenhandtasche gegen die erste Dachstütze. Sie schien nicht erstaunt, ihren Kollegen hier anzutreffen. Sapher erwachte aus der Starre und schloss die Tür. Sein Entschluss, sich abzusetzen, war so schnell vergessen, wie er gekommen war.

»Na, hören Sie mal!«, ertönte es erbost von draußen. Eva ließ ein erheitertes Lachen hören.

»Es kommt noch jemand«, erklärte sie. »Manfred ist nur etwas langsamer beim Treppensteigen, ich habe ihn gerade überholt.« Sapher riss voller Scham erneut die Tür auf und der fette Lehrer kam schnaubend und schwitzend herein, ihn mit einem vernichtenden Blick musternd. Sapher setzte zu einer Entschuldigung an.

»Wo ist Sontheimer?«, unterbrach ihn Eva. Ihr Lächeln war verschwunden und in ihrer Stimme schwang kaum unterdrückter Zorn. Aus einem für Sapher unbekannten Grund war sie auf den Maler böse. »Oben?«

»Im Bad – mit Klammer.«

Sie nahm diese Nachricht mit gleichgültiger Miene auf, als sei es für zwei Männer der normalste Aufenthaltsort der Welt und eilte zur Treppe. Sie hatte ein weißes, weites Herrenhemd an, das ein breiter Gürtel an der Taille zusammenhielt und darunter einen marginalen, schwarzen Rock, der kaum unter dem Hemd hervorsah. Bemerkenswert waren die braunen Netzstrümpfe, deren enge Maschen sich für das Auge aus ein paar Schritten Entfernung zu einer makellosen Sonnenbräune verwandelten, was in einem merkwürdigen Kontrast zu der Blässe ihrer Arme stand. Sie trug flache, schwarze Schuhe. Sapher sah zu Boden, nicht wagend, seinen günstigen Platz unter der Treppe auszunutzen und zu ihr hinaufzuschielen, als sie die gitterartig durchbrochenen Stufen hinaufstieg. Dennoch wollte er sofort hinterhereilen, denn ihn interessierte brennend, was sie mit dem Maler zu bereden hatte. Der Dicke, der noch immer wie verzweifelt nach Atem rang, machte eine überraschend schnelle Bewegung auf Sapher zu und hielt ihn auf, indem er ihn am Handgelenk fasste. Er wollte sich unwillig befreien, aber der Griff war kräftig und zudem am schmerzenden Arm.

»Ich würde an Ihrer Stelle hier unten warten«, sagte Manfred Sontheimer. »Ich denke nicht, dass uns dieser Streit etwas angeht.«

»Sie haben recht; es wäre unhöflich.« Sapher nickte. Dann schwiegen die beiden; denn obwohl sie soviel Schamgefühl hatten, in der Halle zu bleiben, lauschten sie doch, ob sie ein paar Worte aufschnappen konnten. Leider war nichts zu hören.

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