wahrheit (Kurzgeschichte)

wahrheit
eine kurzgeschichte

die tränen des weinbergs ertränkten ein paar touristen. als dieses geschehen ruchbar wurde, schloss der bürgermeister seine fenster. er mochte doch mittags den gestank der verwesung nicht. der stadtrat beriet unermüdlich. der berg muss weg, da waren sich alle einig. ihm wurde daher vom findigen kämmerer vorgeschlagen, zum propheten zu gehen, da dieser schließlich noch nie hiergewesen sei. der berg weigerte sich trotzig und verbarg sein haupt in nebelschleiern. einige wanderer fanden deshalb über ihr ziel hinaus in den abgrund, der sie angewidert wieder ausspie.

montag vormittag. der raum ist weiß. er ist seit tagen weiß und das ist gut so. meine schmerzen sind nicht mehr so stark wie zuvor. sie sind noch da, selbstverständlich: sie haben sich nur versteckt, lauern heimlich in meinem schädel. wenn ich nach ihnen spüre und suche, bemerke ich sie. trotzdem werden sie mich überraschend überfallen. das tun sie immer und ich kann nichts dagegen machen. seit der raum weiß ist, haben die schmerzen mit mir waffenstillstand geschlossen. der tee, der dampfend vor mir steht, wird langsam dunkler. er ist bitter und seine hitze ätzt sich in meinen gaumen. der tee schmeckt nach dem regen, der gegen meine erblindeten fensterscheiben seufzt. wie lange ist das her? regen. wie lange ist es her? er lacht.

schau, ich bin auf dem weg. ich bin nicht weit von hier. du hörst mich. ist das nicht ein gutes zeichen? wenn wir uns schon hören, dann ist es nicht mehr weit. ich sehe auch schon ein licht, wo bisher schwärze war. siehst du es auch? ist das der morgen? ich wünsche mir, es wäre der morgen. ich möchte dich so gerne sehen. ich weiß genau, wie du aussiehst, obwohl ich dich noch nie gesehen habe. aber so vor dir zu stehen und deine blicke zu spüren, das ist doch etwas anderes. ich bin auf dem weg.

montag vormittag. ich schließe die augen und endlich kann ich wieder sehen. ich bin jetzt ruhig. der raum ist weiß, die schmerzen sind weit weg. meine hand streckt sich, noch vorsichtig, aber gierig. die finger tanzen hektisch, sie dürsten nach berührung. dann ist alles still. ein schwerer tropfen trifft meine nach oben gereckte handfläche, sammelt sich in der grube. er ist klar und durchsichtig und ich kann in ihm meine geschlossenen augen spiegeln sehen. er zittert ein wenig und krallt sich kalt an meiner haut fest. ich fühle sein feuchtes sein. die feuchte kriecht von der hand in meinen körper, gräbt eine hoffnungsvolle furche in meine stirn. mein mund will sich öffnen, meine lippen flüstern. soll es bei dem versuch bleiben?

ich bin in der nähe. so nah war ich dir noch nie. ich bin vor langer zeit aufgebrochen, um dich zu sehen. schwärze war damals um mich herum. ich erinnere mich genau, ich lebte mit vielen menschen in der schwärze. das war nicht einfach, aber ich musste nicht die tränen der anderen sehen, nur ihr weinen war lauter als die dunkelheit. immer stieß ich gegen mauern, wohin ich mich auch wandte. dann hörte ich von dir. der, der mir das erzählte, hatte einen seltsamen klang in der stimme. sie war gebrochen und gleichzeitig frohgemut, obwohl er dich noch nie gesehen hatte. er sagte, in seinem inneren würden helle feuer brennen. da habe ich mich entschlossen, dich zu suchen. ich irrte zwischen den mauern und die anderen nannten mich einen narren. ich irrte lange, es mag sein, dass es eine ewigkeit war. doch ich gab nicht auf. endlich fand ich hinaus. auch dort, jenseits der mauern, war nur schwärze, dunkler noch und wattiger als auf der anderen seite. fast wäre ich verzweifelt, doch dann ging ich einfach los, hinein in die dunkelheit, die vor der schwärze floh, die ich mit mir nahm.

ursprünglich hatten die Berge große flügel. sie flogen über den himmel und landeten auf der erde, ganz wie es ihnen gefiel. die erde erzitterte dann und schwankte. deshalb schnitt gott den bergen die flügel ab. er machte die berge an der erde fest. die flügel wurden zu wolken. seitdem sammeln sich die wolken um die gipfel.

montag vormittag. blut sprüht heran, vergewaltigt den jungfräulichen tropfen in meiner hand. ich öffne die augen. das weiß ist noch da, aber nun hat es begonnen, zu pulsieren. wenn das weiß nur bliebe! wenn ich es nur halten könnte! meine nägel haben sich zur faust gekrallt und in mein fleisch gebohrt. das rote rinnsal tropft zögernd in den tee. der aufguss verschluckt das blut. ich möchte wieder meine augen schließen, aber ich kann es nicht mehr. sie starren. jemand macht einen groben scherz. ich sehe nach ihm. er ist noch immer da und er beobachtet mich. blutige flecken wirbeln nun durch den raum. das weiß der wand ist besudelt. bald werden die schmerzen zurückkommen. ich sehe mir gleichgültig dabei zu, wie ich die teetasse gegen die wand schleudere. sie lässt dort einen klebrigen, braunen schweif zurück. doch die flecken lassen sich nicht vertreiben. so einfach machen sie es mir nicht. eine kleine nadel sticht in meinen kopf. durch mein ohr kriecht das nichts. ich presse meine hände gegen den schädel. ich will diese stille nicht hören, mich ekelt vor ihr. ich will nicht sehen, noch hören. mich foltert unstillbarer durst.

dann fanden sich hindernisse in den schatten, an denen ich meine knie blutig schlug. ich kann dir nicht sagen, was das war, du weißt, ich sah ja nichts. schließlich fand ich das licht. zuerst war es noch sehr entfernt und ich dachte, es sei ein trugbild. doch nun komme ich näher. vielleicht kommt auch das licht näher, denn manchmal habe ich den eindruck, ich würde mich auf der stelle fortbewegen. ist das der morgen? du weißt doch so viel, sag mir, ist er es? du schweigst. warum schweigst du? sag mir, warum du schweigst. hast du angst vor mir? ich höre dich jetzt atmen. dein atem erfüllt die dunkelheit um mich und schenkt ihr wärme, in der ich mich bergen kann. schläfst du vielleicht? wach doch auf und erzähle mir von dir. ich will lauschen.

montag vormittag. der raum ist rot. nun ist er wieder rot. schmerzen peitschen mich in einen fieberwahn. meine augen werden sich nun nie mehr schließen. die letzte gelegenheit ist vertan. er beobachtet mich noch immer. der raum ist tot. ich lebe.

nun musste der bürgermeister doch in das geschehen eingreifen, ob er nun wollte oder nicht. sein posten wackelte bedenklich und ihm wurde doch so leicht übel. er stellte sich also vor den weinberg und rief: „ich trage, wo ich geh und steh doch niemals eine uhr bei mir. denn das habe ich nicht nötig, da ich mich in einer uhr befinde. ich brauche nur den himmel und schon wird mir das verschwinden der zeit deutlich. mit der zeit verschwindest auch du. ich muss nur warten. das machen wir politiker so.“

da nickte der berg und ging. ja, ja.

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