Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Lakmi trat neugierig einen Schritt nach vorne und spähte in das dunkle Loch, das sich nun unter ihr auftat. Der quadratische Schacht war nicht sehr tief und der Boden, der vielleicht zwei Manneslängen unter ihr lag, war mit flaschengrünen, im von oben herabfallenden Licht schillernden Fliesen ausgelegt. Alles wirkte sauber, wie erst kürzlich geputzt. Das Erstaunlichste aber war, dass es unten auf dem Grund so kalt sein musste, als befinde sich dort ein Eiskeller. Die eisige Luft dampfte aus der Öffnung. Lakmi hielt fasziniert ihre gefesselten Hände in den kalten Hauch.
„Du bist hoffentlich nicht abergläubisch. Da unten befindet sich kein Eingang in Inets gefrorene Hölle, sondern ein Netz von Gängen, die in die geheimen Kommandoräume einer der Armeen führt, die auf der Oberfläche ihren Krieg ausfechten. Wenn es dir gelingt, dort einzuschleichen, ist es möglich, einen der Gegner einfach auszuschalten. Es gibt im Worum einen großen, schwarzen Tisch, der bei der leisesten Berührung Bilder und Landkarten zeigt und mit dem du reden kannst. In diesem Tisch ist ein blinder Daimon eingesperrt; einer der Sorte, die ihr in Karukora Dschinn nennt. Er wird dir zu Diensten sein und dir jede Frage beantworten, die du ihm stellst. Er weiß, wo sich der Stab der Macht befindet, den ich benötige, um die ewige Schlacht zu beenden. Dieser Dschinn wird dir auch die Karte geben, die in den Tag führt“, sagte Asgëir und stellte sich auf die andere Seite des Eingangs.
Lokwi runzelte die Stirn. Es verlockte sie zwar, die Geheimnisse des Untergrunds zu erforschen, aber ihr blieben noch einige Fragen.
„Ein Dschinn, so habe ich gelernt, ist immer böse, hinterhältig und will dem Menschen, dem er gehorchen muss, übel, weil er neidisch ist, dass dieser im Gegensatz zu ihm eine Seele hat. Er wird jedes Wort verdrehen und jeder Wunsch, den er erfüllt, verwandelt sich unter seiner Hand in eine Plage, die man besser nicht herbeigesehnt hätte.“
„Das gilt wohl auch für den Dschinn im Worum, denke ich. Er ist ein ausgesprochen niederträchtiger Geist, denn er gehorchte einmal meinen Feinden. Doch heute sind die Männer, die ihm Befehle gaben, nur noch Staub und ein verlorenes Flüstern, das außer mir niemand mehr hören kann. Aber der Dschinn kämpft in ihrem Namen weiter unverdrossen seinen Krieg gegen die eisernen Soldaten seiner Gegner, die bis auf mich ebenfalls seit tausend Jahren tot sind. Es ist nun wirklich an der Zeit, die Schlacht zu beenden und der Wüste ihren Frieden zurückzubringen. Doch dazu brauche ich eben alle Stäbe der Macht. Einen besitze ich bereits, ein zweiter ist im Worum, ein dritter befindet sich in Nearoma.“ Asgëir machte eine nachdenkliche Pause. „Du musst jedoch keine Angst vor diesem Dschinn im Tisch und seinen Wächtergolemen vor der Tür haben. Ich kenne das Zauberwort, das sie besänftigt. Sprichst du es aus, werden sie besänftigt und dir ohne Widerrede gehorchen.“
Der seltsame Alte verriet Lakmi dieses Wort, das für sie wie sinnloses Geplapper aus dem Mund eines Kleinkindes klang, aber leider nicht von ihr in ihren Schriften überliefert wurde. Asgëir zwang sie, dieses Wort so lange zu wiederholen, bis er zufrieden mit ihrer Aussprache und ihrer Artikulation der schwierigen und vokalreichen Laute war.
Endlich nickte Lakmi und willigte in den Handel ein. Ihr war zwar, als hätte sie eine wichtige Frage vergessen und Asgëir würde weiterhin einiges für sich behalten. Aber das war wohl – falls er die Wahrheit über seine Vergangenheit gesagt hatte – nicht weiter verwunderlich. Sie schloss die Augen, als müsse sie überlegen, ob sie auf den mit einer gezückten Pistole erzwungenen Handel eingehen sollte, aber sie hatte sich längst entschieden und genoss am Rand des Schachts stehend die Luft, die unvermindert kalt emporstieg und bei ihr zum ersten Mal in ihrem Leben eine Gänsehaut erzeugte. Allein wegen dieses atemberaubend neuen Gefühls hatte sich die Wanderung in die Tote Wüste für sie gelohnt. Und nun konnte es ihr vielleicht dazu noch gelingen, eine Karte ins legendäre Pardais zu ergattern und diese zurück zu ihrem kranken Vater zu bringen. Sie würde ihn unverzüglich zur glücklichen Stadt führen, damit er wieder gesund wurde. Die Legenden sagten doch, dass dort alle Krankheiten heilten und Alte wieder jung wurden.
„Nimm meine Fesseln ab, Zauberer. Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen.“
Kurze Zeit später und einige Fuß tiefer in der Erde war die Gänsehaut an den Armen und dem Rücken nichts besonderes mehr und Lakmi fragte sich zähneklappernd und schlotternd, was ihr daran überhaupt gefallen hatte. Sie hätte jetzt einiges für einen wärmenden Umhang oder zumindest für geschlossene Schuhe gegeben. Sie eilte entschlossen den sich vor ihr aufhellenden, aber nichtsdestotrotz bitterkalten Gang hinunter, zum dem sie Asgëir an einem Seil hinabgelassen hatte, nachdem er ihr ein Papier gab, auf dem er den Weg aufgezeichnet hatte, den sie gehen sollte. Er würde sie einige Meilen weiter östlich zu Füßen der ewigen Schlacht zu dem Worum seiner Gegner führen. Sie durfte dabei auf keinen Fall von der groben Skizze abweichen, sonst würde sie sich hoffnungslos in dem Gängelabyrinth hier unten verirren. Hier gab es viele Stellen, an denen ihr Leben in Gefahr war, wo heimtückische Fallen lauerten, Räume ohne oder mit vergifteter Luft, böse Goleme, die alles töteten, das sich bewegte und viele andere Bedrohungen, die auch Asgëir nicht so genau kannte. Er hatte Jahrzehnte seine Lebens damit verbracht, diese Skizze anzufertigen, die sie nun ohne sich größeren Gefahren auszusetzen zum Worum führen sollte. Nur was in unmittelbarer Nähe dieses Raumes war, wusste der Unsterbliche nicht, denn dorthin hatte er nie vordringen können. Hier würde sich Lakmi auf ihre Gewandtheit und ihren Instinkt verlassen müssen.
Doch im Augenblick befand sie sich noch in relativer Sicherheit und bestaunte den Raureif an den Wänden, eine Erscheinung, die ihr bis dahin vollkommen unbekannt gewesen war. Es konnte zwar auch Nachts in der Wüste empfindlich kalt werden, aber die Luft war hier so trocken, dass ihr dieses Phänomen noch nie begegnet war. Ab und an drückte sie ihre flache Hand gegen die beschlagenen Wände und bestaunte die Abdrücke, die sie dabei hinterließ und die Taubheit, die dadurch in ihren Fingerspitzen entstand.
„Vielleicht gibt es hier unten sogar Schnee“, dachte sie. „Den würde ich gerne einmal sehen.“
Inzwischen wusste sie, welche Frage sie Asgëir hätte stellen sollen:
„Wenn du einer der Generäle warst, die diesen Krieg begonnen haben, warum gehst du dann nicht in den Worum deiner eigenen Armee zu deinem Dschinn und beendest von dort die Schlacht?“
Und wenn sie gerade beim Zweifeln war: Wenn sie Asgëir diesen mysteriösen Stab der Macht, nachdem er gierte, besorgte und er tatsächlich den ewigen Kampf der mechanischen Armeen beendete – wozu benötigte sie dann eigentlich noch die Karte nach Pardais?
Bald jedoch hatte Lakmi vollkommen andere Sorgen, als sich über den Delphi Gedanken zu machen. Denn seine angeblich so mühsam erstellte Grundriss-Skizze stimmte nicht. Alles war hier zwar wie von Zauberhand erleuchtet – Strom war zu Lakmis Zeiten in dem Juwel der Wüste noch unbekannt – aber plötzlich stand sie anstatt wie in der Zeichnung angegeben nicht in einem weiteren Gang, sondern in einem würfelförmigen Raum. Und hier war sie auch nicht mehr allein. E wimmelte von kleinen automatischen Spinnen, vielleicht einhundert, vielleicht waren es mehr.
Mein geschätzter Vorredner, der ja eine ganz ähnliche Geschichte über den Gründervater seiner Kirche erzählt hat, nannte sie vorhin Deltas. Das ist eine Spielart der Goleme der Vorgänger, die Reparaturen aller Art durchführen und die Verstand einer Ameise haben sollen. Sie werden von den Befehlen eines Dschinn geleitet, erledigen ihre Arbeiten aber auch allein und selbstständig. So steht es zumindest in Ibn’ Rufis Standardwerk Von Denen Eyßernen Geschöpfen Unter Den Erden Und Wie Sie Alldorten Haußen zu lesen.
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 8 – Teil 7)“
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