Martin, Julian und „rabimmel, rabammel, rabumm“

Heute ist Martinstag und es ist für den Abend Regen angesagt. Die selbstgesbastelten Laternen der nassen und frierenden Kinder werden zischend verlöschen und aufweichen, wenn man den Umzug nicht gleich in einer muffigen Turnhalle stattfinden lässt; immer schön zu zweit im Kreis herum. Dann gibt es zwar mehr „Laterne, Laterne“, aber noch weniger „Sonne, Mond und Sterne“ und auch das Abschlussfeuer erweist sich als eine schwierige Herausforderung. Das Quängeln und Weinen der lieben Kleinen wird die Nerven der Eltern bis hin zur herausgeforderten körperlichen Züchtigung und weit darüber hinaus strapazieren. Ein gelungenes Familienfest, so ein Martinsumzug in der Kita. Jedes Jahr von Neuem ein Höhepunkt der Familienaufstellung.

Dieser Martin aber!

Dieser: Ach, so bescheidene, dieser: Ach, so heuchlerische römische Offizier, dessen Name ausgerechnet der Kriegerische bedeutet und den die Kirche uns als Paradigma christlicher Barmherzigkeit präsentiert, er wird auf seinem weißen, gut im Futter stehenden Pferd geritten kommen und Rosinenbrot verteilen.

Unter Dutzenden von verhungernden und leprakranken Bettlern, die nicht zuletzt deshalb vor den Toren der Stadt Amiens, damals Samarobriva genannt, frieren und leiden, weil die brandschatzenden, vergewaltigenden und raubmordenden Truppen des damaligen Unterkaisers Julian, dessen Legionen der Offizier angehört, die Stadt geplündert haben, unter diesen Obdachlosen wird er sich einen einzelnen herauspicken. Ihn wird er mit einem halben Reitermantel beglücken; kein Geld, kein Wasser, keine Nahrung, kein Harz IV., nicht einmal der Tod: Ein viel zu kleines rotes Stück Stoff ist seine Barmherzigkeit.

Dabei will Martin nicht den ganzen Mantel opfern, er, der nur in die Stadt zum Quartiermeister eilen muss, um sich einen neuen Reiterumhang zu holen und der doch genau weiß, dass zwei Hälften nie ein Ganzes ergeben. Dann wird er zufrieden mit sich und seinem Gott weiterreiten und einen Verhungernden zurücklassen, der unter dem zu kurzen Mantel, unter dem sein nackter, wunder Fuß hervorsieht, so lange ein bisschen weniger frieren wird, bis ein weiterer römischer Soldat das halbe Kleidungsstück als Armee-Eigentum erkennen und zornig konfiszieren wird. Nun, Martin ist später Bischof in Tours und heilig; den Bettler hat man wahrscheinlich erschlagen, wenn er nicht über kurz an Hunger oder Krankheit starb, sein Name ist nicht überliefert; aber er diente der Erbauung der Gläubigen …

Der äußerst lukrative und erfolgreiche Feldzug des Julian (331 – 363) gegen die Alamannen, an dem der Hl. Martin auf der Gewinnerseite teilnahm(1), diente dem gerade erst unter seinem Cousin Constantinus II. Mitregent gewordenen und äußerst ehrgeizigen jungen Unterkaiser zur Festigung seiner Macht. Er brauchte Geld und treue Legionen. Beides konnte er sich zuerst in Germanien und dann in Gallien sichern. Noch während seiner Eroberungen wurde er zum oströmischen Kaiser ausgerufen. Kaiser Julians Regierungszeit ist eine Phase der Restauration, der Gegenreformation. Er degradierte das eben erst unter Konstantin I. (288 – 337) zur Staatsreligion ausgerufene Christentum zu einer jüdischen Sekte unter vielen und versuchte mit aller Staatsgewalt, einen diffusen neuplatonischen Glauben einzuführen, der auf der alten Vielgötterei beruhte und den Sonnengott Helios in den Mittelpunkt stellte, den bereits Eliogabal, einer seiner Vorgänger, zum obersten Gott erkoren hatte; ein Gott, dessen Licht alle anderen überstrahlt: „Sonne, Mond und Sterne …“

Julians sehr tradtionellen Sonnengesänge „An den König Helios“ erinnern an Echnaton und bemerkenswerterweise auch an Franziskus. Ob er diesen Wandel aus Überzeugung, aus Atheismus oder aus Machtpolitik einleitete, darüber haben Historiker immer wieder  heftig diskutiert(2). Für die katholische Kirche ist er jedoch auch heute noch ein Abtrünniger, ein Ketzer: Julianus Apostata nennt sie ihn. Eine Wahrheit über Julian, wenn es überhaupt eine gibt, ist schwierig auszumachen, denn der Mensch der Spätanike versteckte sich geschickt hinter Regeln und Konventionen und gab nur wenig von sich preis.

Julian war nicht lange Kaiser. Schon in seinem dritten Regierungsjahr starb er überraschend in einem sinnlosen Feldzug(3) und sein Nachfolger Jovianus – übrigens während seiner Soldatenzeit ein Freund des Hl. Martin – macht alle Reformen eilig rückgängig und das Christentum wieder zur Staatsreligion. In der Literatur jedoch hat Julians kurze Herrschaft nachhaltige Spuren hinterlassen. Eine Unzahl Autoren hat seit der Spätantike über ihn und seinen Kampf gegen das übermächtig werdende Christentum geschrieben; jene historische Chance, etwas zurechtzurücken, die durch einen leichtfertigen Tod in einer unnötigen Schlacht vergeben wurde.

Wie würde Europa heute aussehen, wenn Byzanz heidnisch geblieben wäre, bis ins Mittelalter hinein? Autoren wie Eichendorff, Motte-Fouqué und Ibsen schrieben über oder gegen Julian, selbstredend auch der unsägliche, germanophile Felix Dahn und der in den dreißiger Jahren sehr erfolgreiche, aber heute recht unbekannte, stark von Dostojewski geprägte Dmitri Mereschkowski, der Julian und seine Zeit in einem umfangreichen und durchaus lesbaren, dabei leider etwas zu einseitigen Roman darstellt.(4) Diese Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Einen Autor will ich noch nennen, der – nicht überraschend – als einziger Julians mutmaßliche, aber nicht bewiesene Homosexualität in den Fokus rückt: Julian von Gore Vidal.

Dieser Briefroman des 2012 hochbetagt verstorbenen amerikanischen Autors, der auch hier – wie immer in seinen historischen Werken – versteckt über die verlogene amerikanische Politik im allgemeinen und den Kennedy-Clan im besonderen schreibt, ist gut recherchiert und konstruiert und ein idealer Einstieg, wenn man sich für die wahren Hintergründe der gärenden Endzeit des römischen Reiches interessiert, deren geistige Auseinandersetzungen zwischen Christ und Antichrist den Heiligen Martin prägten, jenen doch äußerst zwiespältig zu betrachtenden Heiligen, der heute so harmlos auf seinem Pferd daher geritten kommt und sich von Kindern und Laternen begleiten lässt.

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(1) Die Überlieferung sagt, der schüchterne Martin habe ein paar Mal den Dienst an der Waffe verweigert und dafür Büroarbeit gemacht. Als ich mich bei meiner ersten Kriegsdienstverweigerung auf Martin berief, wurde ich ausgelacht.

(2) Noch immer ist das Standardwerk „Julian, der Abtrünnige“ von Joseph Bidez aus dem Jahr 1940. Es ist nur noch antiquarisch oder in Büchereien erhältlich. Eine aktuellere, dabei auch für Geschichtslaien gut lesbare Gesamtdarstellung stammt von dem Althistoriker Klaus Rosen. „Julian. Kaiser, Gott und Christenhasser“, Klett-Cotta, 2006

(3) Der Philosoph Fritz Mauthner behauptet übrigens in seinem überaus lesenswerten Roman „Hypatia“ von 1892 (bei mobileread als kostenloses E-Book erhältlich), in dem der Kaiser zu Beginn einen bemerkenswert religionskritischen Auftritt hat, Julian sei von einer christlichen Verschwörung umgebracht worden.

(4) Kostenfrei als Ebook bei Amazon.

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