Die Verliese des elfenbeinernen Palastes
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 2
Kapitel 1
Eine Nacht in der Karawanserei (2. Teil)
Doch glücklich wurde Irta im verbotenen Serail anfänglich nicht.
Nachdem sie sich rasch eingewöhnt hatte, gingen ihr die Arbeiten dort zwar leicht und schnell von der Hand, aber obwohl sie Adalante, der unnahbaren Hauptfrau des Bişra und Mutter des Infanten Dagor, und den unzähligen Gattinnen und Gespielinnen des Namenlosen bald mehr eine Freundin als eine Dienerin war, erschienen ihr die Tage in den Frauengemächern endlos öde und ihr war die meiste Zeit ganz entsetzlich langweilig. Aber immerhin wurde sie nun besser entlohnt und musste von ihren sauer verdienten Denires nichts mehr für Kost und Logis abgeben. Ihr Beutel mit den Kupfermünzen schwoll langsam, aber stetig an. Sie hauste nun auch nicht mehr auf ein paar Laken in einem großen, schmuddeligen Schlafsaal wie unten in den fetttriefenden Katakomben der stickigen Küchen, sondern sie hatte ihr eigenes luftiges, allerdings auch winziges Zimmerchen, das mehr ein begehbarer Wandschrank als ein Raum war. Aber die Kammer gehörte ihr ganz allein und sie konnte sie hinter sich abschließen, wenn sie die Einsamkeit suchte. Irta besaß sogar ein kleines Fenster, durch das sie hinunter in einen verwunschenen, verwilderten Palastgarten hinabblicken konnte, in dem hohe, alte Bäume wuchsen und sich ein Drillingsblumenstrauch-Labyrinth mit einer hässlichen Statue des „Prächtigen“ in dessen Mitte befand. Meist aber lag sie in den langen Nächten auf ihrem Lager am Boden, von dem aus sie die munter über dem Südmeer glitzernden Sterne sehen konnte. Ab und an durfte sie auch noch vor Morgengrauen für einen Tag den Harem und den Palast verlassen und ihren Vater in der Stuhlwebergasse besuchen. Diese dreißig endlose Tage lang mit heißem Herzen herbeigesehnten und kostbaren Stunden bedeuteten Irta mehr, als ihr euch vorstellen könnt.
So verging ohne Abwechslung oder Veränderung ihrer Lage beinahe ein Jahr und hätte nicht ab und an der treue Aismek das eine oder andere Buch mitgebracht und sich auf eine Partie Dakmak zu ihr gesetzt, wäre sie wohl umgeben von stummen Eunuchen, grazilen Schönheiten, Wohlgerüchen, erlesenen Stoffen und Spezereien und den zarten Klängen der Leierspielerinnen wie ein Zeisig in einem zu kleinen Käfig vor Langeweile eingegangen.
Der Namenlose besuchte seinen Harem während dieser Zeit kein einziges Mal. Wie ihr sicherlich wisst, hatte ihn ein Sturz von seinem liebsten Reitpferd in seine frühe Kindheit zurückgeworfen und er besaß nun das Gemüt und die Geisteskräfte eines dreijährigen Knaben. Die Regierungsgeschäfte führte für ihn als Regent sein guter Onkel Bathu Paşha und „Erquickende Wüstenoase“ selbst saß sabbernd und kichernd auf dem Falkenthron und ließ sich von Muhar, dem Märchenerzähler, Abenteuergeschichten mit Drachen und kühnen Helden vortragen. Der rasche und für die meisten auch überraschende Tod von „Wüstenoase“ kurze Zeit später, beschenkte uns alle mit der milden und segensreichen Regierung seines Sohnes, des „Unterwerfers“, der – welch ein erstaunlicher Zufall – just einen Tag vor dem Ableben des Bişras volljährig geworden war und damit auch nicht mehr die Führung seines Großonkels Bathu benötigte, sondern auf seine neuen Einflüsterer Ómer Sud und Paşha Ultem hörte. Viele hielten den Tod der „Wüstenoase“ für eine Gnade der Allerbarmerin, doch ich bin heute hier, um euch eine andere, nämlich die wahre Geschichte zu erzählen.«
Der bissige Tonfall hatte die letzten Worte von Sirtis Lügen gestraft, doch nun gehorchte sie der Sitte der Märchenerzähler, nach einer Erwähnung des regierenden Namenlosen eine Pause einzulegen. Sie wartete geduldig die unvermeidlichen Lobpreisungen und Trinksprüche auf das Wohl des „Unterwerfers“ ab. Schließlich hatte der Vezir Ómer überall seine Augen und Ohren und kannte einige exquisite Folterinstrumente für diejenigen, die abfällig über ihren Herrscher redeten oder lieber verstockt schwiegen, wenn es an der Zeit war, ihn zu bejubeln. Dann fuhr Sirtis fort, von ihrer Schwester zu erzählen:
»Das Fernbleiben des Namenlosen vom Hohen Serail mochte die Frauen des Bişra vielleicht erleichtern – wir wissen nicht, was in ihnen vorging, denn keine von ihnen hat uns je von ihrem Leben erzählt -, die quirlige Irta jedoch betrachtete die Ruhe und Geborgenheit des Frauenhauses beinahe wie eine Strafe, die ihr ein boshafter Qarin eingebrockt hatte. Ihre Hauptbeschäftigung neben der Pflege und dem Waschen der Haare und Körper ihrer Herrinnen, ihnen mit einem Palmblatt Kühle zuzufächeln oder ihnen Konfekt zu reichen, war es, die Tage und Stunden bis zu ihrem nächsten Urlaubstag zu zählen und sich in der Nacht durch ihr außerordentlich schmales Fenster zu lehnen und traurig die Sterne anzuseufzen. Damit sie zu diesem Zweck das recht hohe, enge Fensterchen erreichen konnte, stellte sie sich immer auf einen Hocker und quetschte anschließend ihren Oberkörper halb ins Freie.
Doch in einer Nacht bemerkte sie, dass sie von dem Garten unterhalb ihres winzigen Gemachs aus dabei beobachtet wurde, wie sie ihren Kopf und ihre Schultern durch den Fensterrahmen zwängte und ihre Sehnsüchte flüsternd der Dunkelheit anvertraute: Sie hatte in dem Schlagschatten einer Palme die Bewegungen eines dort verborgenen Menschen gesehen und stieß erschrocken einen Schrei aus. Sofort trat mit gesenktem Kopf schuldbewusst ein auffallend großer, muskulöser und hellhäutiger Mann aus der Finsternis halb in das unzuverlässige Licht, das aus den rückwärtigen Fenstern des Hohen Serails in den Garten fiel. Er trug fremdländische, selbst für eine kalte Wüstennacht wie diese, viel zu warme Kleidung und eine hässliche Fellkappe auf seinem kahlen Schädel. Obwohl Irta ihm noch nicht begegnet war, wusste sie sogleich, um wen es sich bei dem nächtlichen Störenfried handelte, der nun spielerisch seine Arme über den Kopf hob, als hätte ihn die Treuwacht überwältigt. Es war Raul, der junge lamargische Prinz. Er hielt sich mit seinem Vater Yves III. samt großem Gefolge in Karukora auf. Es ging um die hohe Politik, die Irta in ihrer begrenzten Haremswelt sehr fern erschien. In zähen Verhandlungen mit dem Diwan des Regenten, die oft bis in die Nacht andauerten, wurde seit einer Woche über komplizierte Handelsverträge, den Freihafen Şdarda an der Mündung des Helm in den Marat und die in der letzten Zeit zunehmenden Grenzprobleme zwischen dem Juwel der Wüste und Jasir gestritten. Die fremdländischen, exotischen Fürsten, die vollbärtigen, rohen Diplomaten und ihre barbarischen Begleiter waren in diesen Tagen das Gesprächsthema der gelangweilten Frauen des Bişras; auch wenn unter ihnen bisher kaum eine einen Blick auf sie hatte erhaschen können.
Es konnte sicher nur ein Zufall sein, der Raul, der nur wenig älter als Irta war, aus den einige Stockwerke tiefer gelegenen Gastquartieren hierher in diesen gut versteckten kleinen Park direkt unter ihr Fenster geführt hatte. Aber es war doch eine flegelhafte Unverschämtheit von ihm, sich so lange nicht bemerkbar zu machen und sie heimlich bei ihrem Kummer zu beobachten. Mochte die Tränenreiche wissen, wie viele der Seufzer der jungen Dienerin der Fremde bereits unerlaubt erlauscht hatte! Wütend auf den unverschämten Beobachter und auch voller Scham wollte Irta eilig ihren Kopf zurückziehen und die blickdichten Fensterläden vor ihrer Kammer schließen, aber der Hocker, auf dem sie stand, rutschte ihr durch die heftige Bewegung unter ihren Füßen weg und so steckte sie mit einem Mal unglücklich im Rahmen gefangen fest, konnte für den Moment weder vor- noch rückwärts. Der Prinz, der von ihrer misslichen Lage nichts mitbekam, wollte die günstige Gelegenheit nicht verstreichen lassen.
„Warte, du Schöne!“, rief er und trat vollständig aus seinem Versteck, kam ganz nah an die Mauer des Serails heran. Wusste Raul, in welcher Gefahr er schwebte? Würden ihn jetzt die Eunuchen entdecken, die misstrauisch den Harem des Namenlosen bewachten, dann würde er zweifellos an Ort und Stelle seinen Kopf verlieren und der Krieg zwischen Karukora und der Lamargue von Neuem ausbrechen. „Fürchte dich nicht vor mir“, flehte er. Irta hatte keine Angst, aber sie zappelte hilflos mit ihren nackten Beinen in der Luft und versuchte angestrengt, sich mit ihren Händen abzustützen und sich nach innen in ihr Zimmer zu drücken.
Raul deutete ihren gequälten Gesichtsausdruck falsch. Er riss seine hässliche Fellmütze vom Kopf und steckte sie in die Tasche seiner Jacke. „Ich werde dir nichts tun“, versuchte er sie zu beruhigen. Irta stieg vor Anstrengung das Blut in den Kopf und sie war froh über die Schatten der Nacht, die zumindest ihr peinliches Erröten verbargen. Sie warf dem Prinzen einen – wie sie hoffte -, vernichtenden und strafenden Blick zu, doch anstatt betroffen zurückzuweichen, wie sie es von einem wohlerzogenen Edelmann erwarten konnte, trat er ermutigt über ihr Verbleiben direkt unter ihr Fenster, ohne sich um die duftenden Blumen zu kümmern, die in dem Beet unter seinen Füßen zertrampelte. Dieser Barbar stapfte einfach achtlos in sie hinein! Obwohl Irtas Kammer fast ein Stockwerk über dem Boden des Beets lag, war Raul so groß, dass er sie nun hätte berühren können, wenn er weiterhin seine Arme nach oben gestreckt hätte. Ein Lichtstrahl fiel auf sein Gesicht und Irta stockte der Atem – nicht, weil ihr der Fensterrahmen weiterhin gegen die Brust drückte -, sondern weil Raul sie mit seinem ebenmäßigen und edel geschnittenen Gesichtszügen so liebevoll musterte, als erblicke er das Wertvollste und Schönste auf der Welt.
„Was hast du für ein liebliches Gesicht“, flüsterte der Prinz ihr zu und schloss genießerisch seine Lider. „Das Ebenholz deines Haars und deine grauen Augen sind so … lieblich!“
Irta konnte nicht anders: Sie müsste über die ungelenken Schmeicheleien lachen. Sie blähte ihre Wangen auf und prustete los. Dadurch gelang es ihr endlich, sich aus ihrer qualvollen und erniedrigenden Lage zu befreien. Sie fiel zurück in ihre Kammer und auf die Kissen, die dort als ihr Bett auf dem Boden lagen und lachte auf dem Rücken liegend schallend weiter. Geistesgegenwärtig hielt sie sich jedoch eilends ein Kissen vor das Gesicht, damit ihr Gelächter niemanden im Serail aufschreckte oder sie den Prinzen mit ihrem Spott beleidigte. Doch er schien nichts zu bemerken, denn er setzte seine Eloge unverdrossen fort:
„Deine …, äh, lieblichen Augen sind so grau und glänzend wie das Gefieder der Dohlen, die den verfallenen Turm der Hochburg von Dersa wie ein ewiger Gesang umkreisen“, versuchte es Raul mit einem Vergleich aus der alten lamargischen Heldensage Sena und Viril. Das war die einzige Zeile Poesie, die er kannte und die ihm halbwegs in seine Lage zu passen schien. Doch er erntete damit nur weiteres unterdrücktes Gelächter, das in einem Hustenanfall endete, der den Prinzen um die Gesundheit seiner Angebeteten fürchten ließ. Irta presste weiterhin fest ihr Kissen auf den Mund. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie war wirklich nicht anspruchsvoll, wenn ihr jemand Komplimente machte. Aber jeder dahergelaufene Gassenjunge in Karukoras schmutziger Unterstadt kannte schönere Verse, um ihre, übrigens bei jedem Licht nicht grauen, sondern dunkelbraunen Augen anzuhimmeln. Die Farbe ihrer Iris kannte auch Raul, aber Dohlen waren eben seiner Erfahrung nach nicht braun. Diese künstlerische Freiheit hatte er sich herausgenommen.
Der Beginn der spannenden Geschichte
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Karukora
»Der Weg, der in den Tag führt«
Band 1
Als Taschenbuch oder günstiges E-Book,
380 Seiten, illustriert
Eine Antwort auf „Die Verliese des elfenbeinernen Palastes – Eine Nacht in der Karawanserei (2)“
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