Donnerstag, 09.05.19
Das nun folgende sind nur ein paar kurze und auch ein wenig zusammenhanglose Notizen für einen längeren Text, den ich gerade für mein Buch “Noch einmal daran gedacht” entwerfe, der voraussichtlich im Herbst im Buchhandel erscheinen soll und in dem ich einige meiner “Wahrlügen”-Texte veröffentlichen werde.
Freunde, Familie und andere Fremde. Oder anders gesagt: Also gut … Ich weiß genau, es wird jetzt jemand amüsiert auflachen und den Kopf schütteln, weil er ein vollkommen anderes Bild von mir hat. Aber ich bin unendlich zurückhaltend und bis zur Blödigkeit schüchtern. Das ist kein Understatement, sondern die reine Wahrheit. Mir ist es nicht nur kaum möglich, zu telefonieren, wie ich letzte Woche erzählte, ich scheue auch sonst vor jeder direkten Begegnung mit anderen zurück und fühle mich am wohlsten, wenn ich sie vermeiden kann. Selbstverständlich ist das nicht vollständig möglich, denn ich lebe ja nicht in einem Elfenbein-Palast oder auf einer einsamen, von der Zeit vergessenen Insel, sondern unter Menschen und gehe neben der mir so affinen Schriftstellerei ja auch noch einem Brotberuf nach, der von mir viele und teilweise enge soziale Kontakte erfordert. Diese Kontakte sind für mich belastend. Die Jahre haben mich zwar abgehärtet, um nicht zu sagen: abgestumpft. Aber ich ziehe mich noch immer bei jeder Gelegenheit in mein Schneckenhaus zurück und gelte als maulfaul und schwierig. Jedesmal, wenn mich jemand bei einer Begrüßung umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt, versteinere ich und würde doch am liebsten schreiend davonlaufen und mich irgendwo in einem Kellerloch verstecken. Allein Frau Klammerle ist es gelungen, diesen dicken Panzer aufzubrechen, der mich auch vor den vielen, vielen Rückschlägen, Kränkungen und Angriffen schützt, denen ich als Autor ausgesetzt bin. Oh, ich habe früher durchaus versucht, mich gegen diese “Menschen-Allergie” zu immunisieren, indem ich früher Öffentlichkeit suchte und viele Lesungen aus meinen Büchern machte und mir kontaktfreudige und offene Freunde suchte. Da war ich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Der extrovertierteste, selbstbewussteste und auch schamloseste unter ihnen war übrigens Rudi.
Mir ist gerade aufgefallen, dass ich noch nie über Rudi geschrieben habe. Viel über ihn geredet und geschimpft und ihn verflucht habe ich, aber geschrieben – geschrieben habe ich von ihm noch nie. Von Rudi stammt ein Satz, den er nebenzu beim Schachspielen in einer Kneipe sprach, um mich, der ich wieder einmal am Gewinnen war, abzulenken: “Ich schreibe zwar keine Bücher, aber wenn ich das täte, wären sie viel besser als deine, Nikolaus.” Als Antwort habe ich ihm zuerst mein Bier ins Gesicht geschüttet und dann das Schachbrett folgen lassen. Damit ist, denke ich, unsere kurzlebige und recht turbulente Freundschaft definiert, die mir über kurze Zeit so wohltat, weil der recht gutaussehende Womenizer in nahezu jeder Angelegenheit das exakte Gegenteil von mir war. Rudi wollte anfänglich Schauspieler(1) werden und bewarb sich mehrmals vergeblich an der Münchener Falkenbergschule, aber schaffte es nur bis in die Rolle meines Trauzeugens. Später, lange nach unserer Freundschaft, war er, wie ich recherchiert habe, Kameramann und kandidierte vor über 10 Jahren in München für die “Linken”. Neueres ist nicht über ihn zu finden. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Im Internet ist er nicht zu ergooglen und in den sozialen Medien scheint er auch nicht zu existieren, was für einen publikumssüchtigen Menschen wie Rudi merkwürdig ist. Es würde mich nicht wundern, wenn ihn sein Alkoholkonsum und seine Kettenraucherei oder ein eifersüchtiger Ehemann schon ins Grab gebracht hätten. Rudi gestaltete sein Leben so dramatisch, wie das nur geborene Schauspieler können und solch ein frühes Ende würde gut zu ihm passen. Er war immer der Meinung, dass ein James Dean an ihm verlorengegangen ist. Für eine Zeitlang tat mir unsere Beziehung und seine Lässigkeit im Umgang mit anderen Menschen gut. Wir drehten sogar gemeinsam einen Film nach meiner Kurzgeschichte Die Rache, in dem er Regie führte und ich den bösen Opa spielte. Leider besitze ich keine Kopie dieses Meisterwerks. Man sieht, Rudi begann tausend Dinge, ohne irgendeines zuende zubringen. Trotzdem war er absolut von seinem künstlerischen Genie überzeugt.
Doch Rudi war ein Vampir; er fraß die Gefühle seiner Freunde, ohne irgendetwas zurückzugeben, streute Zwietracht zwischen ihnen und mit ihm gab es immer nur emotionale Achterbahnfahrten und Dramen. Er besaß eigentlich keine Persönlichkeit, sondern nur eine glänzende Oberfläche und enttäuschte und verletzte jeden irgendwann. Auch ich musste ihn fallenlassen, um mich selbst zu beschützen und zog mich nach meinem missglückten Versuch, Öffentlichkeit zu finden, frustriert zurück. Zwanzig Jahre kümmerte ich mich nur um meine Familie, zog mit Frau Klammerle meine Kinder groß und schrieb keine einzige Zeile.
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(1) Meine Schauspielerfahrungen beschränken sich übrigens auf zwei recht unterschiedliche Theaterstücke. In dem ersten war ich ungefähr 12 Jahre alt. Es war ein Ritterdrama, das meine katholische Jugendgruppe für die Eltern auswendiglernte und dann auch vor recht großem Publikum vorführte. Dort musste ich als der kleine Dicke ausgerechnet die schöne Prinzessin spielen, die den Prinzen nicht kriegt und sich aus Verzweiflung selbst tötet. Zwei Sätze kann ich noch: “So sage denn mein Monolog, was mich bewegte und bewog, als ich ihn sah zum ersten Mal: Ach, Liebe wars, die ich empfand, als er so plötzlich vor mir stand.” – “Komm, Dolch aus zwiegeschliffnem Stahl, durchbohre meines Busens Qual.” Sagte es und bohrte ein spitzes Obstmesser in meine Brust, respektive in den Apfel, den ich mir in den von meiner Schwester ausgeliehenen BH geschoben hatte. Wenn ich mich recht entsinne, waren am Ende dieses Dramas von Shakespeareschen Ausmaßen alle tot.
In dem zweiten Stück, das ich selbst geschrieben hatte, spielte ich den Arzt einer Geistesheilanstalt in einem diktatorischen Land und Rudi gab die Hauptrolle, den Patienten “67”. Leider konnte er seinen Text nicht, weil er wie immer zu faul gewesen war, ihn zu lernen. Ich wies den Schauspieler, der ihn am Ende erwürgen sollte, an, es so echt wie möglich wirken zu lassen und ich glaube, Rudi kam nur knapp mit dem Leben davon. Wenn ich mich recht entsinne, waren am Ende dieses Dramas von Dürrenmattschen Ausmaßen, mit dem wir einen großen Gemeindesaal füllten und die Zuseher einigermaßen ratlos zurückließen, alle tot. Und nein, ich werde dieses Stück niemals wieder aufführen oder hier veröffentlichen. Manches sollte im Giftschrank bleiben.
