Samstag, 11.05.19
Ein Ding kommt nur als Erscheinung vor. – Kant
Ding dingt. Ding dingt die Welt. – Heidegger
Ding, dong. – DHL-Paketbote
An diesem Wochenende ziehen die Eisheiligen wie die vier apokalyptischen Reiter mit Regenschauern, Kälte, Sturmböen und Gewitter über mein Dorf hinweg und es ist nichts mit den Träumereien vom “Wonnemonat”, mit den süßen, wohlbekannten Düften, den Liebeleien hinter dem Rosenbusch, den lauen Vorsommerabenden, dem gemeinsamen Familiengrillen auf der Gartenterrasse, den Radausflügen in den nächsten Biergarten oder mit den geplanten Wanderungen im Allgäu. Draußen vor dem Fenster herrscht ein zugegebenermaßen merkwürdig grüner und gelber, aber düsterer und harscher Novembertag. Fifty shades of yellow – der Mai zeigt sich wie so oft von seiner SM-Seite: Ein Tag Zuckerbrot, fünf Tage Peitsche. Es gibt daher für mich keinen Grund, meinen kuschligen Platz in Ofennähe aufzugeben(1). Ich könnte endlich einmal ein paar von den Dingen aufarbeiten, die ich seit längerer Zeit vor mir herschiebe oder einfach nur die Wohnung aufräumen. Doch wahrscheinlich wird wieder einmal nichts daraus. Ich kenne mich; früher war mein Weg mit guten guten Vorsätzen gepflastert, nun führt er über die Faulheit in die Hölle. Falls es noch nicht bekannt sein sollte: Meine Lieblingsbeschäftigung neben dem Nichtstun und dem figurativen Herumstehen in schöner Landschaft ist das Prokrastinieren, das ich seit vielen Jahrzehnten ernsthaft betreibe und es – das kann ich ganz bescheiden sagen – in diesem Fach zu einer Meisterschaft gebracht habe, von der viele Philosophie- und Germanistikstudenten nur träumen können. Beschäftigt aussehen und doch nichts tun, das ist eine hohe Kunst, die ich perfektioniert habe. Und dass sich mein Smartphone nun wieder in meinem Besitz befindet, gerade ein paar Computerspiele, die schon immer zocken wollte, bei Steam im Angebot sind und ein paar meiner Lieblingsserien mit neuen Staffeln zum Glotzen(2) verführen, ist auch nicht gerade dabei hilfreich, meinen Frühjahrsmüdigkeitssumpf, in dem ich bis zu den Knien im Matsch feststecke, zu überwinden.
Aber das ist Jammern auf allerhöchstem Niveau, zumal ich ja nur vor mir selbst Rechenschaft ablegen muss, wenn ich mit meinen Büchern einfach nicht weiterkomme. Offengesagt geht es mir prima. Mir selbst verzeihen und mich selbst mit Ausreden und kleinen Lügen um den Finger wickeln – das kann ich wirklich gut, auch darin bin ich Meister. Gäbe es den Blog nicht, würde ich mich wahrscheinlich für die nächste Zeit wie ein Bühnenmagier mit einem kleinen “Puff!” und einem Rauchwölkchen einfach in Luft auflösen. Ich kann wie Lord Mellifont in der Erzählung The Privat Life von Henry James sein, der einfach aufhört zu existieren, wenn er allein gelassen wird oder sich niemand auf ihn konzentriert. (3) Aber auch hier in meinem Onlineleben stapeln sich inzwischen langsam die Artikel, die ich schreiben möchte, mich jedoch nicht überwinden kann, es auch zu machen: Zum Beispiel wollte ich schon immer in einem bissigen Text über die unseligen E-Bikes schimpfen und die Rentner, die mit ihnen schmale Wanderwege emporbrausen. Ich wollte hier ein Loblied auf den Spargel singen, der momentan alle zwei Tage in irgendeiner Form auf dem Speiseplan der Familie Klammer steht und das ultimative Gemüse ist, wenn man es richtig, d. h. bissfest, zubereitet.(4) Ich würde auch gerne über mein Europa schreiben, in dem ich gerne leben möchte; einem freien Land der Regionen ohne Grenzen und Abgrenzungen, in dem die unterschiedlichsten Kulturen sich fruchtbar und friedlich austauschen, sich aneinander bereichern und einander nichts wegnehmen.(5) Ich will darüber nachdenken, dass jeder achte Deutsche nicht schreiben und lesen kann und dass diese 12,5 % offenbar in der Wählerschaft der AfD wiederzufinden sind. Und dass gerade das Lesen die wichtigste Kulturtechnik überhaupt ist und gerade in der jüngeren Generation, die nur noch ein Rudimentär-Deutsch(6) spricht, vollkommen verloren geht. Niemand liest mehr und die Klassiker der Literatur sind nur noch aus den schlechten Verfilmungen bekannt. Doch zu all diesen Texten bin ich viel zu träge. Und dann gibt es da ja noch die Geschichte von “Erwin Erhardt, dem depressiven Erdbeerschnüffler”, an die ich heute mal wieder denken musste. Dessen Job ist es, in einem Lebensmittelkonzern die wässrigen, genmanipulierten Pseudo-Früchte, die gerade wieder überall verkauft werden, zu parfümieren, damit sie zumindest nach Erdbeeren riechen, wenn sie schon nach überhaupt nichts schmecken. Erwin ist der einzige, der diesen Geruch im Labor perfekt künstlich erzeugen kann, aber über seiner stumpfsinnigen Arbeit verliert seinen Geruchssinn – bis er einer Frau begegnet, die für ihn nach – Überraschung! – nach echter Erde und Erdbeeren riecht. Diese Erzählung trage ich schon seit Jahren im Kopf spazieren, ohne sie zu aufzuschreiben. “Erwin Erhard, der depressive Erdbeerschnüffler”, ist nur eine von vielen von mir ersonnenen Figuren, die ich wohl niemals außerhalb meiner Fantasie zum Leben erwecken werde.(7) All diese für mich so lebendigen Personen und Geschichten, die nur mit mir existieren und mit mir sterben werden; ich hoffe, sie können mir verzeihen, dass ich jetzt aufhöre zu schreiben. Denn ich muss noch Spargel einkaufen …
Zum Abschluss will ich meinen alten Kumpel und Wegbegleiter Gotthold Lessing zitieren, denn ich bin zu faul, mir selbst etwas auszudenken:
Lob der Faulheit
Faulheit, endlich muß ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen!
O! … Wie … sauer … wird es mir
Dich nach Würde zu besingen!
Doch ich will mein Bestes tun:
Nach der Arbeit ist gut ruhn.
Höchstes Gut, wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben …
Ach! … ich gähn! … ich … werde matt.
Nun, so magst du mir’s vergeben,
Daß ich dich nicht singen kann:
Du verhinderst mich ja dran.
______________________
(1) … den würde sich eh nur meine Katze wegschnappen, die wie ich von diesem Wetter wenig erfreut ist und es als einen gegen sie gerichteteten Affront betrachtet.
(2) Ich weiß, das heißt auf neudeutsch binge watching, also bingen. Aber bei manchen Wörtern bekomme ich einen juckenden Hautausschlag, wenn ich sie benutze.
(3) Unbedingte Leseempfehlung! Eine der besten Gespenstergeschichten, die ich kenne; fast noch besser als The Turn of the screw. In diesem Zusammenhang: Kann man sich in letzter Konsequenz sicher sein, dass diesen Gedankensplitter wirklich Nikolaus Klammer geschrieben hat und es diesen erfolglosen Autor wirklich gibt? Es gibt doch berechtigte Zweifel. Denn schließlich existieren auch diese Texte nur in dem Augenblick, in dem man sie liest. Sonst sind sie Nullen und Einsen auf einer Festplatte.
(4) Nein, ich verkneife mir die Rezepte. Ich will nur anmerken, dass eine Todsünde ist, den Spargel zu zerkochen.
(5) Ist es da nicht geradezu obzön, dass der CSU-Kandidat Weber für die Europawahl damit Werbung macht, dass er mehr Grenzen in Europa will?
(6) Kürzlich hörte ich einen Jugendlichen zum anderen sagen: “Gemmasomäckö?” Das heißt übersetzt: “Wollen wir gemeinsam zum McDonald’s am Königsplatz gehen?”
(7) Immerhin ist Erwin nun in der Welt. Vielleicht erbarmt sich ja seiner ein Autor, der dies hier liest. Erwin hätte es verdient.
2 Antworten auf „Samstag, 11.05.19 – Was ich noch sagen will“
Immerhin hast du es geschafft, diesen Text zu schreiben! Ich habe heute außer frühstücken und Zeitung lesen noch nichts geschafft. 👍👍
Daran ist Amy, die Katze, schuld. Sie startete um halb sieben eine Hungerattacke und scheuchte mich aus dem Bett.
Ich habe mich gerade daran erinnert, dass Frau Klammerle und ich vor genau 30 Jahren in der Türkei waren. Der Dönerbudenbesitzer auf dem Foto von damals wollte sie mir übrigens für ein paar Kamele abkaufen. Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich auf den Handel eingegangen wäre?