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Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 2. Kapitel (2)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

2. Kapitel
Fluchtwege

Juel hob ironisch die Augenbrauen. »Und das Ganze ‘at nicht zufällig etwas mit der Be­fürchtung der Meister zu tun, die Brillanten könnten unter gewissen Umständen nicht ihren Weg in les meins der Gilde finden, sondern vielleicht zufällig in meiner Tasche verbleiben? Warum habt ihr mich über’aupt in diese verworrene und gefährliche Geschichte verwi­ckelt, wenn ihr mir nicht traut?«

»Du weißt, dass die Gilde nie den gesamten Einsatz auf ein einziges Blatt verwettet, sondern immer noch ein weiteres As im Ärmel hat«, erwiderte Jalah achselzuckend.

»Und dieser Trumpf bist du, Mädchen? Incroyable!« Der Dicke verbeugte sich spöttisch.

»Was wäre gewesen, wenn du dich nicht vom Fest hät­test entfernen können oder der Thron weiterhin be­wacht gewesen wäre?«, fragte die Diebin. Sie wirkte nicht beleidigt über das Misstrauen des Ludo sorriento. »Es wäre doch wirklich schade um die günstige Gelegenheit gewesen. Du kennst das dritte Gesetz der Gilde: Vier Hände stehlen mehr als zwei. Außerdem hatte ich noch einen weiteren Auftrag.« Juel hob erstaunt die Augenbrauen und wollte sich schon erkundigen, wovon die Diebin sprach, aber da räusperte sich Selin ungeduldig.

»Das ist ja alles schön und gut«, mischte er sich in das Geplänkel der beiden ein. Er war bis jetzt stumm im Schlagschatten des archaischen Herrschersitzes ge­standen und hatte ihn interessiert betrachtet. »Wäre es jetzt aber nicht an der Zeit, den Weg, der in den Tag führt zu suchen? Ich meine, deswegen sind wir doch da, oder?«

Ein kaum unterdrückter Aufschrei war zu hören und die drei wirbelten aufgeschreckt herum. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich sowohl in Jalahs wie auch Juels Hand ein Dolch auf. »Zeig dich!«, zischte der Meisterdieb drohend und aus der Deckung einer weiteren Säule trat schüchtern eine schlanke Frau ins Licht.

»Semira!« – »Herrin!«, riefen Selin und Jalah gleichzei­tig. Semira fiel in die Arme ihres überraschten Freun­des, der dabei nicht wusste, wie ihm geschah. Juel sah zuerst zu der Dienerin, dann zu dem Paar und ent­schied sich, dass im Moment keine Gefahr drohte. Er senkte er seine Waffe und brummte missvergnügt:

»Na, prima. Ceҫec Binsas verwöhntes Töchterchen. Warum haben wir nicht gleich Einladungen zu dieser Schatzsuche verschickt? Wer hat sich sonst noch in die­sem Thronsaal versteckt – Hierion Éderwerfh viel­leicht? Es heißt ja, dieser Erzschurke habe überall seine Hand im Spiel.«

»Du bist nahe dran, mein alter Freund. Aber du warst ja schon immer der weitsichtigere von uns uns beiden.« Eine weitere Gestalt trat aus ihrer Deckung hervor und kam nähergehumpelt. Sie war in schmutzige, zer­rissene Lumpen gehüllt und bewegte sich schleppend und vorsichtig, als habe sie große Schmerzen. Der halb­nackte Mann wirkte unglaublich mager – er war nur noch ein Knochengerüst, über dem sich wie ein viel zu en­ger Handschuh eine dünne, ledrige Haut spannte. Er sah tatsächlich so aus, als habe er sich als lebende Lei­che aus einem Wüstengrab erhoben, in dem er jahrhunderte­lang ausgetrocknet worden war.

Juel erschauderte, doch dann erkannte er sein Gegen­über und verstand:

»War dies dein anderer Auftrag, Jalah? Hast du den verschollenen Meister aus dem Kerker des Namenlosen befreit? Adelf von Süderbal«, stieß er fassungslos her­vor, während die Diebin eifrig nickte.

»Die Herren der Flinken Finger haben von Sahar, einem Mönch aus Italmar, diesen äußerst lukrativen Auftrag angenommen, den Botschafter aus der Gefangenschaft zu befreien. Ómers Palastrevolte war der beste Zeit­punkt dafür«, erklärte sie, aber Juel hörte ihr kaum zu.

»Der Pechvogel!«, stotterte er; noch immer wie vor den Kopf geschlagen.

»Ja, Adelf, der Pechvogel. Es ist lange her, Meister …«, begann der befreite Gefangene.

»Ich weiß nicht, was du meinst, mein Freund. Ich bin schon lange kein Meister mehr.« Juel trat eilig auf den etwas voreilig für tot erklärten Botschafter von Italmar zu und umarmte ihn erschüttert.

»Ihr kennt euch?«, fragte Jalah erstaunt. Der Dicke und Adelf nickten im gemeinsamen Takt.

»Aber wieviel Zeit ist seither vergangen, zehn Jahre?«, fragte Juel mit brüchiger, ergriffener Stimme. Dieses unerwartete und unverhoffte Wiedersehen mit seinem uralten Freund ging ihm so nahe wie schon lange nichts mehr. »Doch wie unsere Märchenerzähler sagen: Das ist eine weitere Geschichte nach der Geschichte und ich will sie euch an einem anderen Tag erzählen …«

Er flüsterte eilig etwas in Adelfs Ohr und dieser senkte so­fort zustimmend den Kopf. »Du bist fett geworden … Juel«, sagte er dann und lös­te sich lachend aus der Umarmung des Kaufmanns, der ihm vor langer Zeit wie ein Bruder gewesen war. Adelf stand nun aufrechter und wirkte nicht mehr ganz so jenseitig. Es war, als hätte ihm die Berührung seines alten Freundes Kraft und Mut gegeben; ganz so, als wäre Juel in der Lage, Menschen nur durch einen Kontakt zu heilen. Der Botschafter aus Italmar, der als vermeintlicher Attentäter seit Monaten in den Kerkern des Namenlo­sen gelitten hatte, wandte sich an Selin, der noch im­mer seine Semira in den Armen hielt und weiterhin von der Situation überfordert war:

»Juel hat recht. Wir haben später noch zur Genüge Zeit, unsere Geschichten auszutauschen. Wir sollten uns nicht mehr allzu lange hier aufhalten. Doch habe ich das eben richtig verstanden? Du, junger Mann, suchst einen Schatz, der im Thron versteckt ist? Ich glaube, da kann ich helfen und die ganze Angelegen­heit etwas beschleunigen.«

Der Mönch schleppte sich die Stufen der Empore em­por und trat vor den gewaltigen Sitz, von dem herab die Namenlosen seit zweimal tausend und tausend Jahren mit eiserner, kalter Despotenstimme Recht sprachen und nahm lächelnd auf ihm Platz. Er wirkte wie ein Kind, das sich in den Sessel seines Großvaters geschlichen hat. Selin wollte verwundert eingreifen, aber Juel nahm ihn am Arm. »Lass ihn. Er weiß, was er tut, glaube mir.«

Adelf strich zärtlich über die Lehnen, die von den Handflächen der Herrscher von Karukora blank gerie­ben waren. »Dieses Holz strahlt Langmut aus«, sagte er mit halbgeschlossenen Augen. »Es ist lebendig, ich kann es spü­ren. Es ist uralt, älter noch als die Vorgänger. Es stammt aus einer Zeit vor den Menschen; noch bevor die Götter frei auf der Erde wandelten. Und es wartet. Dies ist vielleicht die älteste Seele, die es heute auf dieser Welt gibt; einer älteren bin ich zumindest noch nie begegnet. Im Holz sind die Erinnerungen des Bau­mes eingeschlossen, von dem es einmal ein Teil war. Dieser Baum hatte seine Wurzeln meilentief in die Erde geschlagen und ragte einzeln und mächtig in den Himmel der Morgendämmerung der Erde. Auf dem höchsten Punkt eines Hügels stand er, umgeben von ei­nem endlosen Wald, dessen Bäume alle seine Söhne waren, die aus seinen Wurzeln sprossen. Ich sehe das alles durch die Seele des Holzes, die noch immer diese Macht atmet. Dieser Baum trug einst die ganze Welt in seinen Ar­men. Er war die ganze Welt, er war Ygdras, der eine, der vor uns kam und vor den Vorgängern war, vor den Golemen, vor den Daimonen und selbst vor den Göt­tern. Er hat den Anfang gesehen.«

Adelf machte eine Pause und atmete zitternd ein. Der Kontakt schien ihn anzustrengen. Die anderen hingen ihm fasziniert an den Lippen. »Und nun – gefällt, gehäutet, zersägt und in diese Form geschnitzt, aber noch immer voller Macht, wartet die Seele von Ygdras voller Geduld auf das Ende aller Dinge, auf Mánis Rückkehr, die die Welt und ihn endlich verbrennen wird. Für ihn sind Jahrhunderte nur ein Tropfen, der ins Meer der Ewigkeit fällt und die Gründung Karuko­ras war für ihn erst gestern. Er glaubt, dass er nicht mehr lange ausharren muss und seine Seele endlich Ruhe im Vergessen finden kann.«

Adelf schluchzte plötzlich auf und Tränen lieben über seine eingefallen, schmutzigen Wangen. Selin wollte et­was sagen, aber Juel verstärkte den Griff, mit dem er den jungen Mann festhielt. Der Mönch lehnte sich in dem Sitz zurück und es sah so aus, als würde die hin­ter ihm aufragende Rückenlehne, die sich über seinem kahlen Schädel in einen Raubvogel verwandelte, der gerade seine Schwingen zum Flug öffnet, ihn verschlin­gen wollen. Nur noch Adelfs helle Augen funkelten im Schatten des Thronsitzes.

Der Falkenthron

[Zum 3. Teil]

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