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Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 2. Kapitel (3)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

 

»All die Namenlosen müssen diese Macht und die Stärke des Ygdras gespürt und benutzt haben, wenn sie hier saßen – auch wenn sie wahrscheinlich nicht wussten, aus welcher Quelle sie sie schöpften. Dies ist das Geheimnis der Strenge der Herrscher von Karuko­ra und ich spüre, wie der Baum mich ebenfalls zu überwälti­gen sucht. Es ist kein Märchen, dass die Stadt seit ih­rer Gründung durch den ersten Namenlo­sen von einem Einzigen, von einer einzigen Macht re­giert wird und die Thronfolger ihre Namen vergaßen, nachdem sie auf diesem Sitz Platz genommen hatten. Denn dieser Ein­zige war immer nur die Seele des Bau­mes, derer sie alle teilhaftig geworden sind.«

Adelf zögerte, als suche er nach den passenden Worten. »Doch dieser Thron bewahrt seit Jahrhunderten noch ein weiteres Geheimnis, das ihm selbst kaum bewusst ist – denn für ihn in seiner fast vollkommenen Zeitlosigkeit hat der Prinz Selin aus der ersten Dy­nastie der Bingh seinen Schatz gerade eben erst in seinem Holz versteckt … und hier ist er!«, rief er wie ein Zauberer, der ein Künststückchen präsentiert.

Die suchenden Hände des Mönchs hatten links und rechts an den Seiten der Armlehnen zwei identische, geschnitzte Arabesken gefunden, die wie die starren Augen von Ba­silisken aussahen. Auf deren Mitte, auf die schlitzför­mige Iris, legte er nun entschlossen seine Mittelfinger und drückte sie fest nach innen. Adelf musste sich da­bei anstrengen, denn der Mechanismus war alt und eingerostet, aber dann schnappten geräuschvoll zwei Riegel an der Hinterseite des Throns auf. Auf Rücken­höhe senkte sich dort kleine versteckte Klappe herab, hinter der sich offenbar ein Geheimfach verbarg, das der Mönch mit seinen seltsamen Sinnen erspürt hatte.

»C’est le noyau du caniche«, murmelte Juel überrascht. Selin nutzte die Gelegenheit und wand sich aus dem Griff des Meisterdiebs. Er eilte hinter den Falkenthron. Die anderen folgten ihm neugierig. Auch Adelf stand schwankend auf. Er schien sich nur schwer von seinem Sitz lösen zu können, ganz so, als wäre er mit einem zähen Teer dort festgeklebt worden, als wäre dort etwas, das ihn beim Aufstehen behinderte. Selin langte aufgeregt in das kleine Fach im Holz der schwarzen, verkohlten Rückfront und beförderte eine schmale, in ein brüchi­ges Pergament eingeschlagene Platte hervor. Er befreite die Platte grob von ihrer schützenden Hül­le. Das uralte, von den Jahrhunderten braune und brüchige Papier zerfiel ihm unter der Hand in Einzelteile und segelte wie Herbstlaub zum Boden. Selin hob das rechteckige Fundstück etwas enttäuscht ins Licht.Er hatte etwas anderes – etwas viel spektakuläreres und aufregenderes – erwartet, als diesen merkwürdigen Gegenstand. Das war nur eine recht hässliche grüne Scheibe, auf der messingfarbene Linien ein seltsames und chaotisches Muster bildeten.

»Ist das alles?«, fragte er. »Was soll das denn sein? Das ist doch keine Landkarte!« Juel trat neben in und bückte sich, untersuchte die ausgeblichenen, bräunlichen Tintenspuren auf den Pa­pierstücken, die um Selin herum am Boden lagen. Er hob eines auf, musterte es und zerrieb es dann achselzuckend zwischen den Fingern zu Staub.

»Die Karte hast du eben zerstört«, sagte er spöttisch und stand wieder auf. »Das ist nicht so tragisch, denn du hast et­was viel Besseres …« Juel nahm die eigenartige Platte vorsich­tig aus Selins Hand. Er betrachtete sie fasziniert. »Nein, das ist zwar keine Karte, aber das ist viel, viel mehr!« Er drehte die einen Handteller große Platte ein paarmal im Lichtschein der Fackeln herum und reichte sie dann ehrfürchtig an Selin zurück.

»Pass gut darauf auf«, flüsterte er, »dies scheint mir ein Vorgängerrelikt von unschätzbarem Wert zu sein und du solltest es niemandem zeigen. Es ist gut mög­lich, dass du damit sogar den Ewigen Krieg beenden kannst. Manchmal genügt es, ein kleines Steinchen an einer bestimmten Stelle ins Wasser zu werfen und alles ändert sich. So haben schon Weltreiche geendet – mit einem kleinen Stein, der alles ins Rollen brachte. Ceci est parfois le cours du destin. Ich will behaupten, dass diese Platte, die die Vorgänger übrigens eine Platine genannt haben, viel wertvoller ist als die funkelnden Brillanten im Auge des Falken, für die sich die Diebesgilde interessiert. Wenn sie das wüss­te, könnte es sein, dass sie ihr Abkommen mit deinem Großvater ein wenig zu eurem Nachteil … modifiziert.« Er warf einen warnenden Blick auf Semiras Dienerin, die jedoch längst wieder das Interesse an dem Fund verloren hatte und gerade auf den Thron geklettert war, wo sie – breitbeinig auf den Arm­lehnen balancierend – mit ihrem Dolch an einem der großen Brillanten in den Augen des Falken herumsto­cherte, um diesen aus seiner Fassung zu hebeln. Das Holz des Stuhls knirschte und ächzte unter ihrem Gewicht. Es klang, als wolle es sich über diese ruchlose Tat beklagen. Auch Adelf, der in der Nähe stand und mit einer Hand weiterhin die glatte, schwarze Oberfläche des Throns streichelte, schien nicht einverstanden. Er verzog das Gesicht und litt eine Qual, als fühle er den kalten Stahl am eigenen Leib, als würde die Diebin ihm selbst ihr Werkzeug in die Augenhöhlen bohren. Doch er sagte nichts und ließ sie gewähren.

Selin versteckte die Vorgänger-Platine eilig unter seinem Hemd. Sollte sein Großvater entscheiden, was mit dem Fund anzufangen war. »Aber wie soll uns dieser alte Gegenstand helfen, die Ebenen des Ewigen Krieges zu durchqueren?«, fragte er Juel, zu dem er immer mehr Vertrauen fasste. Ob­wohl er wusste, dass der Dicke ein Dieb war und wahr­scheinlich eine beachtliche Liste von Gaunereien und anderen Gesetzesübertretungen auf dem Kerbholz hat­te, hatte er doch das Gefühl, jener angebliche Kauf­mann meinte es gut mit ihm. Dieser seltsame, dicke Mann verbarg wahrscheinlich einige Geheimnisse und eine Geschichte, die er zu ger­ne einmal gehört hätte.

»Du hast doch vorhin der Geschichte vom Ur-Meister Straif und seinem Schlüsseldolch gelauscht, die der Märchenerzähler vorgetragen hat«, erwiderte Juel und wirkte plötzlich sehr aufgeregt, »diese … Platine ist et­was ganz ähnliches. Sie ist der echte Weg, der in den Tag führt und nicht diese Papierfetzen, in die sie einge­wickelt war. Diese Platine ist ebenfalls eine Art Schlüssel, mit der man ein Schloss aufsperren kann. Doch in ihr sind nicht die wirren Schriften Baruchs verborgen, wie in dem von Straif. Ich bin solchen Gegenständen schon häufi­ger begegnet. Im Moment ist die Platine so nutzlos wie ein versiegeltes Buch in einer Sprache, die niemand versteht. Wir werden ein Gerät brauchen, das den In­halt lesen kann. Ich habe zum Glück eines in meinem Kaufmannswagen.« Er sah sich kurz um, zögerte. Doch dann schob er nur für Selin sichtbar seinen Kragen ein wenig zur Seite. Ein Hals­band wurde sichtbar, an dem eine weitere jener seltsa­men grünen Platten befestigt war. Sie war wesentlich kleiner als die Platine aus dem Thron und wirkte wie ein Schmuckstück.

»Schau hin, auch Adelf trägt solch eine Platte am Hals. Es ist das Symbol der Kirche der Gemeinschaft der lei­denden Gene, das die wahrhaft Gläubigen bei ihrer In­itiation zur Erinnerung an den Gründerabbas Straif verliehen bekommen. Damit erkennen wir einander. Doch unsere Platinen sind nur ein Abzeichen, ein wert­loser Tand, von dem niemand mehr weiß, in welcher alten Vorgänger-Maschine er einmal steckte wozu er vor Jahrtausenden gedient hat. Das ist nur Schrott, wie er zuhauf bei Kel­lerausschachtungen oder in alten Bergwerksschächten gefunden wird. Die irren Hindersöhne schmücken da­mit die Wände ihrer Häuser und man kann sie auf den Märkten von Hossberg billig als Glücksbringer kau­fen.« Juel zögerte und nahm den jungen Mann zur Seite. Er senkte weiter seine Stimme noch weiter. Selin fiel auf, dass nun merkwürdigerweise inzwischen aus ihr je­der Ost-Akzent verschwunden war. Er musste sich anstrengen, ihn noch zu verstehen. Doch es schien sich niemand für ihr Gespräch zu interessieren. Semira und Adelf sahen Jalah, die inzwischen das erste Auge des Falken an sich gebracht hatte, dabei zu, wie sie sich mit dem Herauslösen des zweiten abmühte.

[Zum 4. Teil …]

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