Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 9)
Jetzt brauchte sie nur noch ein Kind oder besser zwei, um den Moment festzumauern, der ihr Freiheit war, auf den sie seit ihrer Pubertät hingearbeitet hatte: Dann hatte sie es endlich geschafft und ihr Leben war in trockenen Tüchern. Aber ausgerechnet zum Kindermachen war ihr von Ehrgeiz zerfressener Mann nicht in der Lage. Aber auch da hatte sie endlich einen einfachen, recht aufwandslosen Ausweg gefunden. Dieser Sturm war ausgestanden. Sie war der Grashalm, stolz und ungebrochen, allerdings einer mit einer kleinen Schreibblockade.
Gitta räusperte sich. Ihr wurde das Schweigen zwischen ihr und ihrer in sich selbst versunkenen Freundin zu lang. Deshalb kramte sie einen neuen Gesprächsbeginn aus ihrer schier unerschöpflichen Kiste mit Konversations-Satzbausteinen, mit denen sie ganze Partys überstehen konnte. Vielleicht gelang es ihr auf diese Weise, sich den Themen anzunähern, die sie wirklich interessierten: „Habt Ihr euch schon entschieden, wo ihr an Ostern Ferien macht? Geht es wieder nach Südtirol?“, fragte sie.
Clara nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, deren Inhalt für ihren Geschmack viel zu schnell abgekühlt war. Kaffee konnte sie nur brühendheiß genießen. Aber sie trank tapfer weiter, denn sie hatte sich inzwischen mit ihrem Schicksal abgefunden, dass sie heute Nachmittag einfach kein ordentliches Heißgetränk mehr zustande bringen würde. Wahrscheinlich hatte dieses Versagen psychologische oder neurotische Gründe, die tief in ihrem Unterbewussten verankert waren und von denen sie keine Ahnung hatte. „Es wäre eigentlich eine interessante Erfahrung, sich mal mit dem eigenen Über-Ich zu unterhalten“, dachte sie und schob ihre leere Tasse kopfschüttelnd zur Seite. „Aber wahrscheinlich würde es mich verrückt machen, wenn ich erfahren würde, wie viel ich dort vor mir selbst verstecke. Mein Unterbewusstsein ist das Gemälde von Dorian Gray.“ Auch diesen Gedanken sollte sie sich bald notieren, bevor sie ihn wieder verlor. Sie wischte sich mit dem Daumen den Milchschaum aus den Mundwinkeln und ließ sich endlich herab, Gittas Frage zu beantworten. Sie hätte sie jetzt gerne aus dem Haus komplimentiert, aber sie wusste, dass das nicht ging.
„Ostern und Pfingsten werden wir ganz brav zuhause bleiben. Ich muss schreiben und Norbert hat viel zu viel Arbeit in seiner neuen Stellung, um im Moment an Urlaub zu denken. Seltsam, jetzt haben wir endlich das Geld, aber keine Zeit, es auszugeben. Ende Juli, zu Beginn der Sommerferien, werden wir wahrscheinlich für eine Woche oder so meine Schwester in Bad Hindelang besuchen und dort ein bisschen wandern. Henry kommt wahrscheinlich auch mit seiner Familie. Du weißt ja, Hanna führt mit ihrem Mann Josef eine kleine Pension mit Zimmern und Ferienwohnungen am Hinterstein. Das war es dann aber auch. Das ist auch noch eine ganze Weile hin. Mir würde es schon mal reichen, wenn dieser Februar endlich vorbei ist – 28 Tage, aber gefühlt der längste Monat des Jahres!“
„Und wie geht es deinen Nichten? Wie heißen sie doch gleich?“
„Marga und Bettina. So weit ich weiß, ist alles im grünen Bereich. Marga ist in einem schwierigen Alter; sie wirkt wesentlich erwachsener und reifer, als sie ist. Es ist kein Spaß, mit sechzehn in der Provinz zu leben. Sie schreibt. Ganz merkwürdige Sachen, sehr kompliziert und für einen Teenager erstaunlich tiefgründig, Essays und so, Philosophisches. Sie hat mir vor Weihnachten etwas geschickt und ich weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll. Ich muss zugeben, dass ich nur die Hälfte davon verstehe. Zumindest bin ich nicht die einzige in meiner prosaischen Familie, die Literatur macht. Vielleicht gibt es doch ein Schriftsteller-Gen bei uns. Auch Henrys Sohn Daniel schreibt, seit er in die Schule kam; allerdings nur so Fantasy- und Herr-der-Ringe-Zeug. Und natürlich Gedichte; in dem Alter dichten die Jungs alle. Daniel ist irgendwie noch ein richtiges Kind, obwohl er zwei Jahre älter als Magda ist. Jungs stecken ewig in der Pubertät. Ich glaube, bei Männern endet sie erst, wenn sie über dreißig sind.“
Gitta lächelte unverbindlich und tauchte nachdenklich ihren Löffel in den Milchschaum, der an der Innenseite ihrer Tasse klebte. Genussvoll schob ihn sich in den Mund und leckte ihn ab. Sie konstatierte für sich, dass dieses Gespräch über Claras Nichten und Neffen zu nichts führte. Ihre Geduld war zuende. Sie deutete deshalb mit dem mit dem Löffel in Richtung Bücherregal und spritzte dabein ein paar Milchflecken auf den Tisch.
„Apropos Literatur: Willst du nicht endlich diesen Umschlag aufmachen, den dir der nette Briefträger gebracht hat? Ich bin ja so gespannt“, fragte sie.
Clara nickte. Sie hatte sich längst entschieden. Und der Gedanke an ihre Nichte Marga, die voller Wut war und aus den beengten Verhältnissen ausbrechen wollte, in denen sie lebte und ebenfalls die Literatur entdeckt hatte, bestätigte sie. Warum auch nicht? Dies war ein Tag der Entscheidungen. Sie trat zu ihren Büchern, die ihr mehr bedeuteten als ihr Leben, mehr als ihre Familie, ihre Freunde und viel mehr als ihr Mann. Leben oder Schreiben, das war die Alternative. Clara hatte sich für das Schreiben entschieden. Sie benötigte kein aufregendes Leben. Sie war Schriftstellerin – egal, ob ihr Verleger ihr neues Manuskript annahm oder nicht. Schriftstellerin zu sein, das war kein Beruf und auch nicht von äußerem Erfolg abhängig, sondern eine Eigenschaft von ihr wie die Farbe ihrer Haare und ihre Eigenarten. Sie zog den schlichten, braunen Umschlag heraus und riss ihn umstandslos auf. Daran bemerkte sie ihre Aufregung. Normalerweise hätte sie zuerst aus ihrem Arbeitszimmer den rasiermesserscharfen Brieföffner geholt und den Umschlag sorgsam aufgeschnitten, damit sie ihn noch einmal verwenden konnte.
Clara griff in die Versandmappe. Wie erwartet fand sie in dem mit kleinen Plastikluftpolstern gefütterten Umschlag ihr Manuskript, daran geheftet eine mehrere Seiten dicke Korrekturliste des Lektors, die sie noch nicht beachtete. Sie würde sich noch lange genug mit den Anmerkungen des überpeniblen und strengen Dr. Engold befassen müssen. Die Autorin interessierte sich allein für den beiliegenden Brief ihres Verlegers. Ihre Augen brannten und es fiel ihr schwer, den Text zu verstehen, den sie las.
„Und …?“ Gitta beugte sich interessiert nach vorn. „Was schreibt dein Verleger denn?“
Clara lächelte.
Szczesny rührt in der Kaffeetasse, doch der Zucker löst sich nicht auf. Er raucht. Eben hat er sich von der Bedienung eine neue Schachtel bringen lassen. Ihm ist wieder übel, der Espresso wühlt in seinem Magen, auch der Durchfalldruck ist zurückgekehrt. Szczesny weiß: Diese Unbilden seines Körpers existieren nur in seiner Einbildung. Einzig seine verkrüppelten Spermien sind echt, alles andere ist psychosomatisch. Dabei ist er in Sicherheit. Im Warmen im Café sitzen, rauchen, in einer Tasse Kaffee rühren, ziemlich nahe dran am Glück. Was Clara nur mit diesen grauenvollen Tees hat? Manchmal riecht bereits ihre Kleidung nach Ingwer und Melisse.
Szczesny hat sich einen Platz in der Nähe der Heizung ausgesucht. Sie blubbert und strahlt kaum Wärme aus. Viele Tische sind leer. Das Lokal ist am frühen Nachmittag kaum besucht. In der Ecke hockt ein junger, ungepflegter Kerl. Er hat fettige Haare und einen Vollbart. Aufmerksam zeichnet er in einem großen Block, die Kohlestifte liegen vor ihm auf dem Tisch.
Das ist ein Maler, denkt Szczesny. Er sieht oft auf und zu mir herüber. Ich bin sein Modell. Er fragt sich, ob man ihm seine Behinderung in seinem Gesicht entdecken kann. Ich könnte ihn fragen, sollen ja gute Beobachter sein, die Maler. Aber ich bin ja selbst ein guter Beobachter. Der Spiegel starrt zurück, Maler.
Eine Antwort auf „Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 9)“
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