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Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 2. Kapitel (4)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

»Doch manche dieser Platinen haben noch ihre Kraft«, fuhr der dicke Dieb hinter vorgehaltener Hand leise fort. »Sie können Goleme besänftigen, jahrtausendelang verschlossene Türen öffnen, Geister erwecken und Vorgängergeräten Befehle geben. Wenn ich mich nicht irre, macht Der Weg, den du da in deinen Händen hältst, deinen Großvater und dich zu sehr mächtigen Männern. Ich hatte meine Zweifel, doch ich bin mir nun sicher, dass uns diese Platine direkt hinein nach Pardais führen kann. Und ich möchte, wenn ich darf, mit euch an diesen legendären Ort gehen. Vielleicht finde ich dort, was ich seit fast zwanzig Jahren suche.« Den letzten Satz sagte Juel mehr zu sich als zu Selin.

Es knackte hässlich und dann hielt Jalah triumphie­rend auch den zweiten Schmuckstein in der Hand. Ei­lig kletterte sie von dem entweihten Thron, der durch den Verlust der funkelnden Falkenauben viel von seiner einschüchternden Wirkung verloren hatte.

» Jeder hat, was er wollte. Es ist an der Zeit, dass wir verschwinden!« Juel legte kurz seine Hand auf die von Selin. »Wir reden später weiter, wenn wir in Sicherheit sind.« Laut sagte er:

»Einen Moment noch, isch ‘abe beinahe etwas verges­sen …«

Juel kramte in seiner Tasche und trat an den Thron. Dort legte sorgsam einen Zettel auf den Sitz, dann be­festigte er ihn mit dem geliehenen Dolch, den er tief durch das Papier in das Holz der Sitzfläche trieb.

»Isch denke mal, das ‘ier wird der „Unterwerfer“ wohl kaum überse’en können«, stellte er dann mit einem fachmännischen Blick auf sein Werk fest. »Le cube est tombé!«

Selin, der schon hinter den anderen, die Jalah zu ihrem geheimen Ausgang führte, hergehen wollte, drehte sich noch einmal neugierig um. »Was ist das denn?«

»Dies ist eine Nachricht für den Namenlosen. Alis hat sie mir gegeben. Isch sollte sie ‘ier zurücklassen. Isch weiß nicht, was auf ihr steht.«

Juel zuckte mit den Schultern und Selin tat es ihm nach, obwohl er seinen ganzen Besitz verwettet hätte, dass ihn der Dieb gerade belogen hatte. Juel hatte mit Sicherheit gelesen, was auf dem Zettel stand. Aber er fragte nicht nach. Der junge Mann hatte schon lange aufgegeben, sich Gedanken über die Beweggründe seines Großva­ters zu machen. Er vertraute ihm einfach, denn bisher hatten alle seine Pläne funktioniert. Sogar seine Semi­ra würde ihn bei der Flucht nach Pardais begleiten, auch wenn er noch immer nicht ganz fassen konnte, dass sie so einfach im Thronsaal aufgetaucht war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte das Mädchen sich zu ihm und winkte ihn weiter. Sie lächelte ihm zu und dem jungen Mann wurde es warm in der Brust.

Was konnte denn jetzt noch schiefgehen?

Ómers Verzweiflung war in eine neue Phase getreten. Nachdem er stundenlang getobt und sich selbst in blindwütigem Zorn das Gesicht blutig gekratzt und seine seidene Kleidung zerrissen hatte, saß er nun als ein in sich zu­sammengesunkener Haufen Elend in einer dunklen Ecke der fauligen, kleinen Zelle und bemitleidete sich.

Er war in seinem Gefängnis in den Palastverliesen vollkommen alleingelassen, denn es gab im Moment wichtigere und drängendere Dinge, als den Verräter zu bewachen. Die Treuwächter hatten den ehemaligen Vezir ohne Umwe­ge zum Kerker des Elfenbeinpalasts geschleppt und dort erschrocken feststellen müssen, dass die beiden diensthabenden Ge­fängniswärter betäubt am Boden lagen und eine der Zellen mit deren Schlüssel geöffnet worden war. Dort hatte man den Mönch gefangen gehalten, der sich Adelf von Südermar nannte und der vor einigen Wochen ein missglücktes Attentat auf den Namenlosen verübt hat­te. Er war nur deshalb noch nicht hingerichtet worden, weil Ómer Näheres über seine Hintermänner hatte er­fahren wollen. Adelf hatte seine schweren Verletzungen zwar überlebt, war aber noch viel zu schwach für eine selbständige Flucht. Jemand musste ihm ge­holfen und die Wachen ausgeschaltet haben.

Die Treu­wächter hatten Ómer einfach durch die geöff­nete Tür, in der noch immer der Schlüsselbund der Wärter im Schloss steckte, in die Zelle dahinter geworfen und ihn dort einge­sperrt, ohne auf seine weinerlichen Einwände zu hören. Dann hatten sie die Betäubten wach­gerüttelt. Doch diese konnten kei­ne Aussagen machen, was mit ihnen geschehen war. Der Angreifer war so überraschend wie ein Ifrit aus dem Nichts gekommen und hatte die beiden von hinten niedergeschlagen, bevor sie reagieren konnten. Sie hatten nicht einmal gesehen. Anschließend waren die Träuwächter und die Wärter fortgeeilt, um den Aus­bruch zu melden und um in dem Durcheinan­der der miss­glückten Palastrevolte, wo überall Treu­wächter gegen abtrünnige Soldaten und lamargische Krieger kämpf­ten, nach dem Flüchtigen und seinem Helfer zu su­chen. Sie waren seither nicht mehr zu­rückgekehrt.

Ómer hob den Kopf und lauschte angestrengt. Ob wohl schon der Morgen dämmerte? Durch das dicke, fensterlose Mauerwerk drang kein Laut von den Ausein­andersetzungen zu ihm herab. Das letzte, was er gese­hen hatte, als ihn die Wachen aus seinem eigenen Spei­sesaal geführt hatten, waren die über den überra­schenden Tod ihres Herren wütenden und verwirrten Soldaten des Regno ge­wesen, die sich selbstmörderisch auf die Pa­lastwache und auf Paşa Ultem und seine Männer, die sie für die Untat verantwortlich machten, stürzten. Ómers Ge­danken gingen zu dem unglücklichen Raul. Wenn den Herrscher über die mächtige Lamargue nicht der Schlagfluss ge­troffen hatte, weil er zuviel gegessen und getrunken hatte, dann hatte ihn jemand während des Banketts ermordet, wahrscheinlich vergiftet. Wer konn­te dafür verantwortlich sein? Rauls Frau Dora Kahlja und seine beiden Söhne würden nach dieser Untat nicht einfach zum Alltagsgeschäft übergehen, sondern die Köpfe der Verantwortlichen fordern. Wer also profi­tierte vom Tod des Bären und dem nun unvermeidli­chen Krieg zwischen der Lamargue und Karukora?

Wer auch immer das getan hatte, er hatte bei Ómer eine letzte Hoffnung erweckt: Vielleicht kam ja in die­sem Scharmützel im Speisesaal, das die Garde des Re­gno nicht ge­winnen konnte, weil sie zahlen- und waf­fenmäßig voll­kommen unterlegen war, auch der „Un­terwerfer“ um. Das konnte doch im Eifer des Gefechts schon mal pas­sieren. Dann käme doch noch sein unge­borener Enkel an die Macht. Er hoffte nur, seine Toch­ter Eóra hatte sich in Sicherheit bringen können. Und vielleicht konnte sie überzeugend darlegen, nichts von dem Verrat ihres Va­ters gewusst zu haben, was übri­gens ja nach Ómers Meinung auch der Wahrheit ent­sprach. Er hatte nie­mals mit seiner Tochter über seine Pläne gesprochen. Dann bestand doch noch alle Hoff­nung, dass eines nicht mehr allzu fernen Tages ein Namenloser aus dem Ge­schlecht der Sud den Fal­kenthron betrat – jenen Sud, den Eóra noch unter ihrem Herzen trug.

Die Zellentür wurde quietschend geöffnet und riss den so tief Gefallenen aus seinen rosigen Träumen. Drei Schemen traten her­ein, die nicht hätten unterschiedli­cher sein können. Ei­ne von ihnen brachte eine Later­ne mit in das düstere Gefängnis. Nachdem sich Ómers Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte er die drei. Es waren sein Todfeind Radik Emre, der wahrscheinlich gekommen war, um ihn zu verhöhnen und sich an seinem erbärmlichen An­blick zu weiden, sein Diener Muhar und … seine hoch­schwangere Tochter Eóra! Sie hatte viel geweint, aber nun waren ihre Tränen getrocknet und ein entschlosse­ner Aus­druck, den Ómer an ihr nicht kannte, lag auf ihrem Ge­sicht.

Der entmachtete Vezir richtete seinen Oberkörper stolz auf und reckte seine Adlernase in die Höhe.Wie war sie ausgerechnet in die Gesellschaft dieser beiden Männer geraten? Ihm kam ein ungeheuerlicher Ver­dacht. Doch noch wollte er ihn nicht wahrhaben. Statt­dessen erkundigte er sich zuerst nach dem Verlauf der Kämp­fe im Speisesaal. Der Seneschall antwortete:

»Sie sind vorbei. Es war ein schreckliches Blutbad, aber die Treuwächter waren siegreich und haben fast alle der Barbaren des Regno erschlagen. Nur noch we­nige sind auf der Flucht, doch sie werden den Palast nicht lebend verlassen können. Alle Ausgänge sind bewacht. Sie sind ein merkwürdiges Volk, diese Lamarger. Stolz, aber dumm.«

»Sie wollten ohne ihren geliebten Regno nicht mehr leben. Was ist daran dumm? Ach ja, da fällt mir ein: Wie geht es denn dem Namenlosen?«, fragte Ómer lauernd.

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