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Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 5)

[Zum 1. Teil]

 

Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 5)

„Ich sagte …“, beginnt Szczesny wütend. Dann verstummt er. Der Beamte sieht ihn stumm an. Szczesny weiß es genau. Der Mann glaubt ihm nicht. Egal, was er sagt oder vorbringt: Für den Mann ist er ein Lügner. Wie betäubt nimmt er das Formu­lar in die Hand. Szczesny fällt dabei auf, wie verwahrlost der Mann aussieht. Wie ein Alkoholiker. Er glaubt sogar, eine Fahne riechen zu können. Bestimmt hat der Kerl eine Flasche Jägermeister unter dem Tresen. Jetzt wirkt alles an ihm verdächtig. Der Beamte ist nachlässig und nicht ganz sauber gekleidet. Er trägt fettiges, zurückgekämmtes Haar, ist übernächtigt, grau. Der Blick schwimmt trübe auf roten Rändern. Er reicht Szczesny den Ausweis zurück, gähnt dabei unterdrückt in die Hand.

„Das ist eine Ungeheuerlichkeit! Ich möchte gerne mit Ihrem Vorgesetzten reden.“ Ein schwacher Versuch. Der Beamte zuckt sofort mit den Schultern. An solche Forderungen ist er offenbar gewöhnt.

„Bitte schön. Das wäre der Herr Dr. Klammer. Niko­laus Klammer.“ Der Beamte lächelt freudlos, als er den Vornamen ausspricht. Es wird deutlich, dass er den Herrn Dr. nicht ausstehen kann. „Zim­mer 403, 4. Stock. Sie müssen sich allerdings vorher bei seinem Büro anmelden,  im Zimmer 401 bei Frau Rothschädl, das ist seine Vorzimmerdame. Soll ich Ihnen das aufschreiben? Ich glaube allerdings nicht, dass der Herr Dr. Klammer heute im Hause ist. Einen schönen Tag noch“, erwi­dert der Beamte kühl und wendet sich wieder seinem Bild­schirm zu, dessen Inhalt wahrscheinlich nüchterner ist als er selbst. Vorzimmerdame, was für ein veraltetes Wort. Haben Beamte keine Sekretärinnen? Szczesny schüttelt den Kopf und tritt ein paar Schritte zurück. Er zer­knüllt das Formular in einer Hand. Aufmerksam beobachtet er weiterhin den Beamten, der keine No­tiz mehr von ihm nimmt.

Der freut sich jetzt bestimmt auf seine Mittagspau­se. Ist jetzt auch keiner mehr in der Schalterhalle außer mir. Bestimmt zählt er die Stunden bis zum Abend. Be­chäftigt sich mit irgendwelchen sinnlosen Statisti­ken, stempelt irgendwelche Akten oder sieht der Uhr bei ihrer Rundwanderung zu. Hat daheim eine Frau, ein paar Kinder. Muss sie ernähren und will ab und an in den Urlaub an die Adria fahren. Deshalb macht er diesen Scheiß hier. Das Funktionieren fällt ihm immer schwerer. Jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, ist für ihn eine Qual. Ich sehe es ihm an. Seine Erfül­lung ist das nicht. Da war er einmal vor langer Zeit zu faul in der Schule. Hat sich wegen irgendwelchen Träumereien oder aus Gedankenlosigkeit nicht die Folgen bewusst gemacht. Die Büros und Ämter und die Schulen sind voll von die­sen Menschen. Staatsbeamte, das sind alles Verlierer! Der Mann ist so alt wie ich. Zwanzig Jahre steht er schon an dem Schalter und er weiß genau: Die nächsten zwanzig macht er dasselbe. Und kurz vor seiner Pensionierung kriegt er einen Schlaganfall vom Saufen. Und seine Frau und seine Kinder verachten ihn. Da sei ihm ein wenig Sadismus gegönnt. Hat ja sonst nichts im Leben.

Trotzdem bleibt da etwas bestehen, das den Beamten von Szc­zesny entfernt. Einen Graben öffnet, eine Mauer zieht. Es ist seine Stellung. Die Macht, die hinter ihm steht und die er repräsentiert. Es ist der gesichtslose, bösartige Staat, der Szczesny zum Lügner stempelt. Der Tor­wächter vor dem Gesetz. Der Beamte sieht auf, be­merkt Szczesnys Blicke. Szczesny fühlt sich ertappt, Blut schießt in sein Gesicht. Der Mann hält ihn für einen Lügner. Und auf eine gewisse Weise hat er recht. Unsi­cher wendet sich Szczesny ab, geht durch die Halle zum Ausgang. Er weiß: Der Beamte sieht ihm hinterher, beobachtet jeden seiner Schritte. Er spürt den Blick in seinem Rücken. Und er hat diese Situation schon ein­mal erlebt:

Vor zwei Wochen stürzte Kerner an Szczesnys Tisch im Großraumbüro. Szczesny hob ruhig den Blick vom grauen PC: Er sah Kerner ängstlich schwitzen, auf der Stirn standen feuchte Perlen, eine rann ihm über die Wange.

„Aber Herr Kerner, was haben Sie denn?“, fragte er, obwohl er die Antwort wusste. Seit Tagen bereitete er sich auf diesen Moment vor.

„Szczesny, die neue Lohnbuchhaltung ist gerade abge­stürzt.“ Kerners Stimme war rau. Jetzt muss ich einfach ruhig bleiben. Er darf nichts merken.

„Aber im Probelauf war doch alles einwandfrei“, er­widerte Szczesny. Er hoffte, der andere kaufte ihm seine gespielte Bestürzung ab. Aber Kerner war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf einen falschen Ton in der Stimme des anderen zu achten.

„Scheiß auf den Probelauf! Scheiß drauf!“, wurde Kerner vulgär. „Wir haben drei Probeläufe ge­macht. Das Programm müsste narrensicher sein. War es auch!“ Er zögerte plötzlich, sah Szczesny scharf an. Jetzt sehr prüfend, sehr genau. „Aber das hat einer hier aus der Ab­teilung sabotiert. Einer von uns. Ich bin mir sicher. Der hat sich heimlich an meinen Schreibtisch geschlichen und ist über mein Passwort und meinen Terminal ins CICS. Er hat den Pro­gramm verändert und den Maschinencode neu kompiliert. Das ist ja kein großes Problem, wenn man sich auskennt.“

Szczesny richtete sich beteiligt auf. Hatte Kerner ihn bereits jetzt im Verdacht? Von allen Tischen wander­ten verwunderte Blicke zu den beiden. Szczesny konnte sie spü­ren, ohne sie zu sehen. Keinen Fehler jetzt. Ungläu­big reagieren:

„Aber wer kennt denn Ihr Passwort überhaupt? Ändern Sie es denn nicht regelmäßig?“

„Das bietet doch jemandem mit Erfahrung keine Schwierigkeiten. Wissen wir doch beide. Außerdem sind es eh nur mein Ge­burtstag und die ersten drei Buchstaben meines Na­mens.“ Die erste Falle, dachte Szczesny. Er hatte Mühe, sich ein überlegenes Lächeln zu verkneifen. Es sind zuerst die ersten vier Buchstaben und momentan ist es der Geburtstag deiner Tochter – kern1903. So simpel!

„So?“, fragte er harmlos. „Aber wer hatte denn die Möglichkeit? Ich meine, man kann doch nicht ein­fach in Ihr Büro spazieren und an Ihrem Terminal herumspielen! Ich kann mir das nicht vorstellen. Das muss doch jemand merken. Vielleicht sollten wir die Werkssicherheit …“ Kerner zuckte mit den Schultern, setzte sich äch­zend zu Szczesny an dessen Schreibtisch. Er sah, dass er seinen Vorgesetzten geschafft hatte. Er ist reif.

„Ich kann vor der Geschäftsführung nichts bewei­sen. Eine Sabotage nimmt mir niemand ab. Da hat sicher keiner Fingerabdrücke hinterlassen. Der Ab­sturz bleibt an mir hängen.“

„Ist denn der Fehler so schlimm?“, mischte sich Michael Hallart vom Nebentisch ungläubig ein. „Ich meine, können wir das denn nicht schnell wieder beheben? Wir haben doch die Backup-Kopie, die jeden Abend erstellt wird – und die Offlinedateien.“ Kerner sackte in sich zusam­men.

„Das Backup ist selbstvertändlich durch die neue, falsche Version er­setzt worden und alles über die Offlinedateien zu reparieren, wird Wochen dauern. Wer immer das war, Michael. Der Saboteur hat ganze Arbeit geleistet. Das Programm hat sich beim Anfahren selbst zerstört, indem es sich auf die 3812er Platte kopierte und dann wieder zurück.“ Hallard war sprachlos.

„Die sind doch nicht kompatibel, die 3812er ist …“, sprang Szczesny ein und rief dann laut, als würde ihm alles jetzt erst bewusst: „Mein Gott! Die gesam­te Buchhaltung ist nur noch Schrott?“ In Hallart kam wieder Leben.

„Aber der Administrator …, ich meine, die Operator … Wann …?“, stotterte er.

„Es ist passiert, Hallart“, erwiderte Kerner leise. Und während er das sagte, wurde er bleich. Szczes­ny schien es, als würde jemand Kerners Kopf mit Milch füllen. Langsam, von Kragen her aufsteigend, wich die Farbe aus seinem Gesicht. Er wirkte, als würde er sich gleich übergeben. „Szczesny, ich bin ruiniert“, sagte er erstaunlich ruhig, „der Alte setzt mich auf die Straße. Die da oben müssen doch glauben, dass ich das verhunzt habe. Die Arbeit von einem halben Jahr. Ich kann froh sein, wenn sie kei­nen Schadenersatz einfordern …“

Szczesny unterdrückte nur mühsam ein triumphie­rendes Lächeln. Hab ich dich. Endlich.

Eine Woche später saß Szczesny auf Kerners Stuhl.

[Zum 6. Teil …]

 

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