Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 6)

[Zum 1. Teil]

 

Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 6)

Gitta hörte erst auf zu kichern, als Clara mit ihrem sandbraunen und dicken DIN C4-Umschlag von der Haustür zurückgekehrt war, unschlüssig mitten im Zimmer stehenblieb und ihrer Freundin einen un­freundlichen Blick zuwarf.

„Der ist doch süß, der neue Aushilfspostbote. Hät­test ihn ruhig zum Kaffee einladen und ihm seinen Wunsch erfüllen können. Da wäre dir kein Zacken aus der Krone gefallen. Ich unterhalte mich gerne mit ihm, wenn er mir mal etwas an die Tür bringt. Er hat mir erzählt, er würde Bilder malen und ab und an Geschichten schreiben. Waren wir auch mal so jung?“, glaubte Gitta sich verteidi­gen zu müssen. Clara zuckte mit den Schultern und suchte nach einem geeigneten Platz für die Sendung ihres Ver­legers – zwar sichtbar, aber doch nicht so offen, dass der Briefumschlag ihr ständig ins Auge fiel. Im Moment wollte sie sich noch nicht mit Welkenbaums Kritik auseinandersetzen. Sie befürchtete das Schlimmste; schließlich war sie ein Wagnis eingegangen. Womöglich lag bei dem korrigierten Text ein Schreiben, man könne ihn in dieser Form unmöglich veröffentlichen. Schließlich war ihr neu­es Werk Die Boten des Himmels in vielerlei Hin­sicht außergewöhnlich und unterschied sich deutlich von ihrem eher konventionellen Erstling, der von einer amour fou in einem Bauerndorf in den Cevennen erzählte und der dem Briefträger zu ihrem Erstaunen so gut gefal­len hatte.  Die Boten des Himmels war ge­nau die Art von Literatur, die sie schaffen wollte. Wenn ihr Verleger das nicht einsah, war es vielleicht an der Zeit, sich einen neuen zu suchen. Sie musste unbedingt mit ihrer Agentin sprechen; die konnte sich für die fünfzehn Prozent Provision, die sie von jedem verkauften Buch bekam, schon ein wenig mehr anstrengen.

„Wenn ich jeden jungen Mann, der mir sympathisch ist, auf einen Kaffee hereinbitten würde, käme ich zu nichts anderem mehr. Und ich weiß nicht, ob das Norbert so gut gefallen würde“, knüpfte Clara nach einer zu­mindest für ihre Freundin etwas peinlichen Ge­sprächspause wieder an. Sie hatte sich inzwischen entschieden und schob den Umschlag gelassen in eine Lücke ihres ausladen­den Bücherregals, das eine ganze Wand des Zimmers einnahm. Dort drängten sich alphabetisch sor­tiert die großen Werke der Literatur eng aneinander, allesamt vom ersten bis zum letzten Wort aufmerksam durchgelesen und für Clara Wichtiges durch kleine Klebezettel zwischen den Seiten markiert. Es war eine Sammlung, die man­cher Bücherei zur Ehre gereicht hätte. „Außerdem hat der Postbote mich überrumpelt. Wollte er doch glatt ein Autogramm von mir! Das muss man sich mal vor­stellen. Als ob ich eine Prominente wäre.“ Jetzt musste sie ebenfalls lachen.

„Mach dich nicht kleiner als du bist. Schließlich ist das Lavendelbett ein Bestseller und wurde sogar im Fernsehen beim Literarischen Quartett erwähnt …“

„… aber nicht gerade lobend“, ergänzte Clara. Sie trat an den Küchentisch, setzte sich zu ihrer Freun­din und nahm seufzend den Teebeutel aus der damp­fenden Tasse, legte ihn auf einen vorbereiteten Un­terteller. Die von ihr angestrebte Ziehzeit des Auf­gusses war um zwei Minuten überschritten. Vorsich­tig nippte sie an ihrem heißen Getränk. „Natürlich“, dachte sie ,„der Tee ist viel zu bitter und der Ingwer darin inzwischen zu scharf.“ Bevor sie ihn allerdings in den Aus­guss schüttete, wollte sie noch versuchen, ihn mit Honig zu retten. Sie stand wieder auf, trat an den Vorratsschrank und öffnete ihn, überlegte, welche der fünf Honigsorten, die dort angebrochen standen, für ihren Tee passte. Dabei wurde sie bei ihren Verrichtungen scharf von Gitta beobachtet. Es war der jetzt gleichmütigen Miene der Freundin nicht anzu­merken, was sie sich dabei dachte, aber Clara wusste das Pokerface ihrer Freundin zu deuten. Gitta fand, dass die neurotische Clara wieder einmal viel zu genau nahm. „Du bist viel zu penibel“, hatte Gitta ihr vorge­worfen, „bist du in der analen Phase hängen geblie­ben? Ich würde an deiner Stelle mal an eine Theraphie denken.“ Die anschließende, äußerst heftige Auseinanderset­zung, die beinahe ihre Freundschaft ruiniert hatte, hatte Gitta jedoch dazu bewogen, dieses Thema nie mehr an­zusprechen und höchstens noch mit einem stum­men und gut verborgenen Augenrollen Claras Putz- und Ordnungssucht zu kommentieren.

„Außerdem ist das Buch wirklich kein Bestseller. Weißt du, was ich mit der gebundenen Ausgabe vom Lavendelbett bisher verdient habe? In dem halben Jahr seit der Veröffentlichung nicht mehr als fünftausend Mark. Das ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“ Clara kehrte mit dem Ho­nigglas – Wiesenblumen – und einem kleinen Löffel zurück an den Tisch und setzte sich wieder. Aufmerksam öffnete sie das Glas und tauchte den Löffel in den goldfarbenen, von beigen Kristallen gepunkteten und recht zähen Seim.

„Das wird sicher noch mehr; die Mundpropaganda läuft und dein Werk liegt in jeder Augsburger Buchhandlung im Schaufenster. Kommt nicht bald auch die Taschenbuchausgabe auf den Markt? Immerhin ha­ben die Einnahmen ausgereicht, dass du nicht mehr als Schulsekretärin arbeiten musst.“ Vorsichtig drehte Clara den Löffel eine Handbreit über dem Glasrand im Kreis, bis der letzte Honigfaden von ihm abgetropft war. Erst dann hob sie ihn in die Tas­se und rührte.

„Sicher, das ist wahr. Manchmal jammere ich einfach zuviel. Es sollen inzwischen ein englischer und ein italienischer Verlag an einer Übersetzung interessiert sein. Vor allem aber hat Norbert endlich begriffen, dass das Schreiben ein Beruf sein kann, als er den ersten Scheck vom Verleger in der Hand hielt. Er hatte plötzlich nichts mehr dagegen, dass ich meinen Halbtagsjob in der Hauptschule aufgegeben habe, um mich ganz auf’s Schreiben konzentrieren zu kön­nen. Auch wenn er es vielleicht noch nicht ganz ein­gesehen hat: Meine Literatur ist einfach mehr als nur mein kleines Hobby. Es ist mein Ernst. Früher war er immer der Meinung, da würde ich eben ein wenig spinnen. Dieser Meinung war übrigens auch der Rest meiner Familie. Jetzt unterstützt Norbert mich sogar und erkundigt sich ab und an nach meinem Schaffen. Das hat er früher nie gemacht.“ Sie pro­bierte erneut ihren Tee. Er war jetzt zwar genießbar, aber er schmeckte enttäuschend flach und süß. Die Mission, einen brauchbaren Tee zu brühen, war endgültig gescheitert.

„Hat dein Mann das Lavendelbett eigentlich gele­sen?“

„Ich denke nicht. Er kennt nur Ausschnitte, weil er mich zu ein paar Lesungen und im Oktober zur Buchmesse begleitet hat. Aber ich kann ihn verste­hen. Es ist ganz schwierig, vorurteilsfrei einen Ro­man zu lesen, dessen Autor man auf so intime Weise kennt. Man sucht unwillkürlich immer den Bezug zur Person hinter dem Text. Obwohl man nie den Schriftsteller mit sei­nem Werk verwechseln sollte, geschieht das doch ständig. Für viele bin ich Eloise de Bracque aus dem Lavendelbett. Du glaubst gar nicht, wie oft ich da­nach gefragt werde, ob der Roman auf eige­nen Erfahrungen beruht.“ Während sie erzählte, war Clara mit ihren Ge­danken an einem ganz anderen Ort, fragte sich un­ter anderem, ob sie es wagen und den Tee noch ein­mal aufgießen sollte, wann sie zuletzt die Dachfens­ter geputzt und ob sie ihre leicht demente Mutter mal wieder im Altersheim besuchen sollte. Selbst wenn diese Visiten sie immer deprimierten, fühlte sie doch eine Verpflichtung und hatte ein schlechtes Gewis­sen, wenn die Lücken zwischen den Besuchen zu groß wurden.  Henry könnte wirklich auch einmal bei der alten Frau vorbeischauen und sich nicht immer und überall drücken! Schließlich war ihr jüngerer Bruder immer der Liebling gewesen, auch wenn die Mutter sich jetzt nicht mehr daran erinnern konnte. Am liebsten hätte Clara ihn sofort angerufen. Da sie das Gespräch über ihre Literatur bereits ge­fühlte einhundert Mal geführt hatte, fiel es Gitta nicht auf, wie gedankenverloren ihre Freundin war.

„Und? Tun sie das?“, fragte Gitta und verzog malizi­ös die Mundwinkel. Sie selbst hätte ihr Lächeln nie­mals maliziös genannt – sie hatte nicht einmal eine genaue Vorstellung davon, was das Wort eigentlich bedeutete – aber Clara kam dieses Adjektiv sofort in den Sinn. Auch wenn sie sich lieber einen Finger ab­geschnitten hätte, bevor sie es in einem ihrer eigenen Tex­te zu verwendet hätte. Sie gehörte nicht zu den Autorin­nen, die angeberisch ein Fremdwort benutzten, wenn es auch passende deutsche Formulierungen dafür gab.

„Du fragst mich allen Ernstes, ob ich meinen schwindsüchtigen Ehegatten mit einem muskulösen cevennischen Bauernsohn betrogen habe?“, erkundigte sie sich und schüttelte die anderen Gedanken bis auf einen ab. „Du weißt, dass ich noch nie in meinem Leben in Südfrankreich war. Ich spreche nicht einmal französisch.“ Für einen kurzen Moment sahen sich die bei­den Frauen stumm in die Augen. Dann zuckte Clara wie von einer Nadel gestochen zusammen:

„Aber ich habe dir ja noch gar keinen Kaffee ge­kocht. Ich bin eine schreckliche Gastgeberin. Das tut mir leid!“ Sie sprang auf und nahm ihre Teetasse in die Hand. „Ich glaube, ich trinke jetzt auch lieber einen Kaffee.“ Sie trat zur Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Das Küchenmonster erwachte lautstark schnaufend, mahlend, damp­fend, stampfend und gurgelnd zu einem mechanischem Scheinleben. Clara mochte diese Geräusche. Steampunk, nannte Sebastian sie. Aber an den wollte sie im Moment überhaupt nicht denken.

„Und? Hast du es besorgt?“, fragte sie betont gleich­gültig, fast abweisend, während sie konzentriert in einem Metallbecher warme Milch aufschäumte. Sie fürchtete sich vor der Antwort, aber irgendwann musste sie sich ja einmal der Wahrheit stellen. Auch wenn sie tausend Worte und Geschichten wusste, um weiter vor ihr davonzulaufen.

„Klar, habe ich“, erwiderte Gitta und griff in eine Tasche ihrer Strickjacke, holte eine längliche Schachtel heraus und legte sie vor sich auf den Tisch, schob sie mit zwei Fingern in dessen Mitte.

[Zum 7. Teil …]

 

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